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Virtuelles Magazin - Ausgabe 3 - 2000

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Was ist nun fotografische Wahrheit? Macht diese Frage nach dem, was wir heute zu wissen meinen, überhaupt noch einen Sinn? Fraglos bildet die Kamera noch immer und immer wieder ab, was vor sie gestellt ist.
Die Fotografie bietet darüber hinaus auch in psychologischer Hinsicht zur Bewältigung der schwer erträglichen Fakten und Banalitäten des Seins eine einzigartige Möglichkeit. Robert Castel bezeichnete sie als Vehikel des Traums. Jedem Fotoamateur ist klar, daß er von seinen Erinnerungen nur das Wünschenswerte aufbewahrt, dass die Frau auf dem Foto in seiner Brieftasche nur die Illusion von ihr verkörpert. Der Gedanke, er hätte sie tatsächlich mit seinem Apparat eingefangen, kommt ihm nicht, eine magische Bedeutung ihrer wiederholten Betrachtung und Vorführung anhand des zerknickten Abziehbildes wird er sich nicht zugestehen. In der Theorie des Realismus, welche als Widerspiegelungstheorie auch ihrer politischen Dimension wegen gelegentlich zur Erläuterung fotografischer Prozesse verwendet wird, gibt ein weiterer Gedanke über realistische Bilder als Form der Darstellung des Wünschbaren Anhaltspunkte auch über die Verwendung fotografischen Materials . Realität werde im realistischen Kunstwerk nicht einfach widergespiegelt, sondern zeige zugleich in einer Art Vision die Tendenz seiner weiteren Entwicklung. Zur Darstellung der Wirklichkeit in diesem Verständnis bedarf es eines Standpunkts. Dies ist in der Fotografie auch rein optisch zu begreifen, ist aber auch im symbolischen Sinne als Haltung, als geistiger Anspruch aufzufassen. Die Fotografen gestalten ihre Sicht der Verhältnisse auf der Grundlage persönlicher Einsichten und Wünsche. 
Wenn schon die Fotografie in ihrer Ausprägung ein Resultat der gesellschaftlichen Verhältnisse sein soll, so sind es um so mehr die Fotografen selbst. Zum Verständnis fotografischer Bilder gehört daher notwendig die Betrachtung des politischen Umfelds, welches die Bildautoren prägte. Zum Verständnis der Wirkung von Fotografien gehört die Einsicht in ihren Verwendungszusammenhang. "Fotografie als Waffe", dieser von der Bewegung der Arbeiterfotografie positiv im Sinne des gesellschaftlichen Fortschritts - damals gemeint als Revolution - formulierte Slogan, wird zur Mordwaffe, wenn sie der Begründung von Kriegen dient. 
Auch in unserer Zeit stehen wir wieder und immer noch in einem "Schneegestöber". In unseren von Bildern dicht wie durch eine Fototapete zugeklebten Horizonten gerät das Bewußtsein von Leben und Wirklichkeit in eine wahnhafte Verfassung. Das Totalerlebnis einer uns umstellenden Medienlandschaft läßt direkte visuelle Erfahrungen kaum noch zu, eine Erfahrung, welche nicht von Medienkonzepten vorgeformt und über weite Strecken verstümmelt ist. 
Der Zugriff auf Wirklichkeit wurde umgelenkt in einen Zugriff auf Bilder, mit der eine nun unerreichte Wirklichkeit maskiert ist. Auch von den berufsmäßigen Bildermachern, Künstlern, Kameraleuten, Werbespezialisten und Fotografen vermitteln nur wenige die Einsicht um die Künstlichkeit dieser Informationen. Für den Verbraucher setzen sie sich stufenweise an die Stelle der direkten Erfahrung. Aus dem Beobachten und Untersuchen, aus dem Erleben von Wirklichkeit wird hergestellte Bilderscheinung, aus dem realen wird ein halluzinatorisches Bewußtsein. Den Bildern tatsächlich sich entziehen zu wollen käme einer Aufgabe unserer zivilisierten Existenz, einer Flucht in eine ebenso irreale medienfreie Robinsonade gleich. Eine Existenz ohne Medien- und Bilderwelten ist uns nicht möglich. Die fast unaufhebbare Verknüpfung von Lebensprozeß und Bildsteuerung -im Sinne von Gesteuertsein durch Bilder- versperrt den Zugang zu einer direkten Lebenspraxis in einen bilderfreien und deshalb völlig realen Raum. Die Frage des Pilatus, was ist Wahrheit, wird zu ersetzen sein durch die Frage nach einer und welcher Wirklichkeit.
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