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Was ist nun fotografische Wahrheit?
Macht diese Frage nach dem, was wir heute zu wissen meinen, überhaupt
noch einen Sinn? Fraglos bildet die Kamera noch immer und immer wieder
ab, was vor sie gestellt ist.
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Die Fotografie bietet darüber
hinaus auch in psychologischer Hinsicht zur Bewältigung der schwer
erträglichen Fakten und Banalitäten des Seins eine einzigartige
Möglichkeit. Robert Castel bezeichnete sie als Vehikel des Traums.
Jedem Fotoamateur ist klar, daß er von seinen Erinnerungen nur das
Wünschenswerte aufbewahrt, dass die Frau auf dem Foto in seiner Brieftasche
nur die Illusion von ihr verkörpert. Der Gedanke, er hätte sie
tatsächlich mit seinem Apparat eingefangen, kommt ihm nicht, eine
magische Bedeutung ihrer wiederholten Betrachtung und Vorführung anhand
des zerknickten Abziehbildes wird er sich nicht zugestehen. In der Theorie
des Realismus, welche als Widerspiegelungstheorie auch ihrer politischen
Dimension wegen gelegentlich zur Erläuterung fotografischer Prozesse
verwendet wird, gibt ein weiterer Gedanke über realistische Bilder
als Form der Darstellung des Wünschbaren Anhaltspunkte auch über
die Verwendung fotografischen Materials . Realität werde im realistischen
Kunstwerk nicht einfach widergespiegelt, sondern zeige zugleich in einer
Art Vision die Tendenz seiner weiteren Entwicklung. Zur Darstellung der
Wirklichkeit in diesem Verständnis bedarf es eines Standpunkts. Dies
ist in der Fotografie auch rein optisch zu begreifen, ist aber auch im
symbolischen Sinne als Haltung, als geistiger Anspruch aufzufassen. Die
Fotografen gestalten ihre Sicht der Verhältnisse auf der Grundlage
persönlicher Einsichten und Wünsche.
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Wenn schon die Fotografie in ihrer
Ausprägung ein Resultat der gesellschaftlichen Verhältnisse sein
soll, so sind es um so mehr die Fotografen selbst. Zum Verständnis
fotografischer Bilder gehört daher notwendig die Betrachtung des politischen
Umfelds, welches die Bildautoren prägte. Zum Verständnis der
Wirkung von Fotografien gehört die Einsicht in ihren Verwendungszusammenhang.
"Fotografie als Waffe", dieser von der Bewegung der Arbeiterfotografie
positiv im Sinne des gesellschaftlichen Fortschritts - damals gemeint als
Revolution - formulierte Slogan, wird zur Mordwaffe, wenn sie der Begründung
von Kriegen dient.
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Auch in unserer Zeit stehen wir wieder
und immer noch in einem "Schneegestöber". In unseren von Bildern dicht
wie durch eine Fototapete zugeklebten Horizonten gerät das Bewußtsein
von Leben und Wirklichkeit in eine wahnhafte Verfassung. Das Totalerlebnis
einer uns umstellenden Medienlandschaft läßt direkte visuelle
Erfahrungen kaum noch zu, eine Erfahrung, welche nicht von Medienkonzepten
vorgeformt und über weite Strecken verstümmelt ist.
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Der Zugriff auf Wirklichkeit wurde
umgelenkt in einen Zugriff auf Bilder, mit der eine nun unerreichte Wirklichkeit
maskiert ist. Auch von den berufsmäßigen Bildermachern, Künstlern,
Kameraleuten, Werbespezialisten und Fotografen vermitteln nur wenige die
Einsicht um die Künstlichkeit dieser Informationen. Für den Verbraucher
setzen sie sich stufenweise an die Stelle der direkten Erfahrung. Aus dem
Beobachten und Untersuchen, aus dem Erleben von Wirklichkeit wird hergestellte
Bilderscheinung, aus dem realen wird ein halluzinatorisches Bewußtsein.
Den Bildern tatsächlich sich entziehen zu wollen käme einer Aufgabe
unserer zivilisierten Existenz, einer Flucht in eine ebenso irreale medienfreie
Robinsonade gleich. Eine Existenz ohne Medien- und Bilderwelten ist uns
nicht möglich. Die fast unaufhebbare Verknüpfung von Lebensprozeß
und Bildsteuerung -im Sinne von Gesteuertsein durch Bilder- versperrt den
Zugang zu einer direkten Lebenspraxis in einen bilderfreien und deshalb
völlig realen Raum. Die Frage des Pilatus, was ist Wahrheit, wird
zu ersetzen sein durch die Frage nach einer und welcher Wirklichkeit.
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