Virtuelles Magazin - Ausgabe 1 - 2000

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sich seine Auswahl auf die Darstellung von Lebensverhältnissen der Kinder in diesen Regionen. Auch hier überwiegt der Eindruck des stillen Leidens und des bedrückten Lebens. Indirekt, indem er die Haltlosigkeit der gezeigten Zustände in expressiven Bildern ins Bewußtsein rückt, ist Heinemann ein sozialkritischer, politischer Fotograf, der sinnliche, hochgradig emotional geladene Argumente für eine überfällige Veränderung in den Machtstrukturen bereitstellt. 
Fotografie als eine Kunst des Wirklichen zwischen subjektiver Leidenschaft und Leidensfähigkeit, Einfühlung in die Leiden eines Kontinents, gestaltet hier das Wirkliche als das Schwererträgliche. Von einem Europäer und für die kirchlichen Auftraggeber - Adveniat, Misereor - fotografiert, treiben diese Bilder Nägel in selbstgefällige Augen. Sie erfüllen den Auftrag und zerstören ihn zugleich. Sie entstehen aus einem ähnlichen Impuls wie die andere widerspruchs- volle Bewegung im kirchlichen Bereich: die Theologie der Befreiung. In tiefen Schwärzen, harten Kontrasten und rauhem fotografischen Korn formt sich ein Kontinent aus Gewalt und Resignation, aus Schnaps und Weihrauch, Ausbeutung und Almosen. Jürgen Heinemanns fotografische Arbeit folgt auf die 
spätkolonialistische Phase des Bildjournalismus, dem sich die Welt als Safaripark voller Beutetiere präsentierte. Sie schließt sich an diese Phase an und macht ihr den Garaus. Der Europäer - seine Kultur und seine Kirche - kann in diesen Bildern betrachten, was er angerichtet hat. Der Geschmack an der Macht wird ihm gründlich verdorben. Auf diesen dünnen, hochglänzenden Papieren erscheint in immer neuen Gestaltungen das soziale Karree von Ohnmacht und Verfall, von menschen- zerschindender Arbeit und aufgeblasener Obszönität des Reichtums.
 
In jedem Kunstwerk steckt ein Stück Selbstdarstellung, auch in einem fotografischen Werk. Die Einfühlung, die Angleichung der Außenwelt an das innere Bild, bestimmt auch die lebenslange Arbeit des Fotografen Jürgen Heinemann, mit dem wir es heute zu tun haben.
Grenzsituationen, Übergangsgesellschaften, Kolonien im Abseits, Lebensverhältnisse, die einer besonderen Gefährdung ausgesetzt sind, bilden für beide Fotografen Heinemann und Escher ein immer neu faszinierendes Thema. Entsprechend der Existenzphilosophie, die viele unserer Generation geprägt hat, entwickelt sich in der Kamera und dem Labor so etwas wie Existenzfotografie. 
 
 
Jürgen Heinemann: Kinderbilder aus 4 Kontinenten