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Virtuelles Magazin 2000

 


„Ganz Rumänien ist ein Konstrukt, ein unglaubliches Drama an Konflikten und Zusammenstößen. Habsburger, Sachsen, Juden, Slawen, Magyaren, ein Mosaik von Volksstämmen. Wußten Sie, dass es in der kleinen Provinz Wojwodina, die im Übrigen zu Serbien gehört, vierundzwanzig ethnische Gruppierungen gibt? Das ist nur eins von unzähligen Beispielen für das Problem Europas. ....

Ich werde Sie durch kleine Dörfer fahren, in denen die Leute noch heute wie im Mittelalter leben. Ich will Ihenen Wälder Zeigen, so groß und schön wie Mihail Sadoveanus literarisches Werk. .. Sie sollen Fabrikschornsteine sehen, die so hoch zum Himmel ragen, dass sie den Kontakt mit Gott aufnehmen könnten....oh, dieses Land mit seinen Schlössern und Tälern und Bergen und seiner Einsamkeit...“

Ketil Bjoernstad, Villa Europa, S, 379/80

Jörg Boström, Kim Boström

Reise durch Rumänien I: Donaudelta

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Der Flug von Dortmund nach Bukarest (1600 km) dauert etwas über 2 Stunden. Die PKW-Tour von Bukarest nach Tecuci, dem Wohnsitz der Schwiegereltern (240 Km), 5 Stunden. Landstraßen. Keine Autobahn. In Kurven durch Städte und Dörfer. Alle Fahrzeuge halten plötzlich und fahren im ersten Gang über quer liegende Bahngleise. Keiner hupt oder fährt auf. Gemeinsam vereint gegen den Achsenbruch.

Man sieht viele Industrieruinen. Menschenleere Fabriken, Uranbergwerke, riesige Raffinierien, Getreidesilos, still emporragende Schornsteine, Rohre, die sich kilometerlang am Strassenrand entlangschlängeln, zurückgelassene, rostende Flechtwerke aus der Zeit Ceaușescus. Auch die Zeit nach der rumänischen Revolution von 1989, dem blutigen Sturz des Diktators, hat für Rumänien nicht den erhofften wirtschaftlichen Aufschwung gebracht. Nach mehr als 40 Jahren sozialistischer Misswirtschaft wurden viele Industriebetriebe von korrupten, mit politischen Seilschaften verbändelten Firmenkonglomeraten übernommen und vorsätzlich in den Ruin getrieben.
Seit kurzem besteht für einige Industriezweige wieder Hoffnung auf einen Neuanfang. Die Siebenbürgen-Autobahn soll Arbeitsplätze und Reiseverkehr schaffen, in Suplacu de Barcău wurden Teile der Ölraffinierie wieder in Betrieb genommen, und ein Staudamm am Berettyó-Fluss soll Strom liefern und Touristen anziehen.

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Ankunft in Bucești, ein kleines Dorf in der Nähe von Tecuci. Hier steht das Landhaus der Familie. Die kleine Julia Maria ist bald 1 Jahr alt und begrüßt Opa Jörg wie einen alten Bekannten. Papa Kim wird das Haar zerzaust. Mama Oana ist mit der Kleinen schon seit 2 Wochen hier.

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Wir fahren zum Donaudelta, mit Schwager, Schwiegervater und ihren Kumpels. Männertour. Es geht ums Angeln, um die Natur, ums Lachen, Reden, Trinken. Man ist unter sich, mit nacktem Oberkörper und derben Witzen. Aber auch mit Gesprächen von Mann zu Mann, über die Familie daheim. Gut für die Seele, besser als jede Sitzung beim Therapeuten.

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Das Wetter in Rumänien hat viele Gesichter. Die Sommer sind sehr heiss, die Winter sehr kalt, von -30 bis +40 ist alles drin. Die Karpaten teilen das Land in verschiedene Klimazonen auf, maritim im Westen, kontinental im Osten, mediterran im Süden. Im Donaudelta regieren im Sommer schwüle Hitze, heftige Regenschauer und Schwärme von Mücken. Auf dem Boot vertreibt der Fahrtwind angenehm die Sonnenhitze, während wir mit 30 Knoten über das Wasser rasen. Das sind gut 55 km/h, verdammt schnell für ein Boot.

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Das Wasser strömt in verzweigten Armen. In die Sümpfe. Über die Sümpfe. Ins schwarze Meer. Von den Ufern ist es nicht mehr aufzuhalten. Von den Dörfern und kleinen Häfen. Nicht von den Menschen, die fischen. Viele Tiere gibt es hier. Die meisten sind geschützt. Besonders geschützt ist das Wasserland als wäre es pure Natur. Dabei sind die Kanäle gesichert. Wälle gebaut. Hochwasserschutz. Zu viel ist nicht gut. Zu wenig ist bedrohlich. Dazwischen liegt die Armut. Die gewohnte. Unser Ziel ist ein Dorf namens "Mila Douazeci si Trei" - "Meile 23". Das ist die Entfernung zum schwarzen Meer. Es gibt keine Straßen zu diesem Dorf. Der Fluss ist die einzige Verbindung zur Aussenwelt.

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Am Ufer stehen drei Piraten. Doch sie greifen nicht an, sondern lachen uns zu. Unser Chef im Boot ist ein bekannter Mann hier. Leiter der regionalen Umweltbehörde. Und hat das schnellste Boot im Delta. Er kennt die Routen durch dieses verzweigte Labyrinth, weiss wo man fahren darf und wo nicht. Einige Gebiete sind strengstens geschützt. Das Donaudelta ist Teil des Weltnaturerbes. Es gibt Vogel- und Pflanzenarten hier, die es sonst fast nirgends gibt. Einmal zeigt Gheorghe auf einen Haufen grüner Blätter im Wasser. Diese Seerosen, sagt er, sind kostbarer als Gold.

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Lacul Fortuna - der See des Glücks. Gespeist von Seitenarmen der Donau, umgeben von Wald und Stille.

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Man wünscht sich kein Anglerglück. Das bringt Pech. Erlaubt ist nur die Formel "Scheiss in die Tasche!". Während die Männer angeln, setzen wir uns hin und beobachten die Gegend. Jörg zeichnet in sein Skizzenbuch, Kim schaut aufs Wasser und geht ein paar Schritte in der Sumpflandschaft. In den Bäumen hängen schimmernde Weben, ein unwirkliches, schattenloses Licht erfüllt die Umgebung. Nur der Müll wirkt vertraut. Wir sind in der Welt der Menschen.

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Ein Viertel der Bevölkerung im Donaudelta ist ukrainischer Abstammung. Sie sprechen eine eigentümliche Mischung aus russisch und rumänisch. Man erkennt die ukrainischstämmigen Frauen am Kopftuch. Das hat nichts mit dem Islam zu tun. In Rumänien und der Ukraine herrscht die russisch-orthodoxe Kirche. Ein Kopftuchverbot würde hier keiner verstehen.

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Abends wird an einem langen Tisch gegessen. Mehrere Gänge. Vorwiegend Fisch, der am Tage gefangen wurde. Karpfen, Wels, Zander. Aber auch gegrilltes Fleisch. Dazu Bier und selbstgemachten Wein und Schnaps aus Plastikflaschen. Der Schnaps, Rakiu genannt, wird hinterm Haus in Kupferkesseln gebrannt, die von den ansässigen Roma hergestellt werden. Man macht fast alles selbst hier.

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Am Sonntag geht es wieder zurück. Es regnet in Strömen. Die Stimmung im Boot ist müde. Manche haben nicht nur am Tag, sondern auch in der Nacht gefischt. Da fühlen sich die Fische sicherer, beissen besser. Die Handgriffe beim Verstauen der Ausrüstung sind eingeübt. Jeder weiss, was er zu tun hat. Die Biervorräte sind aufgebraucht, Angelruten, Stiefel und sonstige Klamotten werden wie bei der Hinfahrt im zweiten Boot verstaut. Wir müssen dringend tanken. Unser Schnellboot hat für ca. 90 Kilometer 140 Liter Sprit verbraucht. Bei Schiffen rechnet man in Litern pro Stunde. Kein Hobby für Umweltfreaks.

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Wir sind wieder zurück in Bucești. Der Regen ist im Delta zurückgeblieben. Die Abendsonne scheint auf die Weinreben und den Schnapskessel im Garten. Schwiegerpapa Gheorghe und Julia geben ein schönes Bild ab, in der Küche wird Fisch zubereitet, Auberginensalat und Polenta. Und als wäre es noch nicht genug der Romantik, gibt es zum Abschluss des Tages noch einen Regenbogen. Pünktlich zum Abendessen.

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Fotos: Jörg Boström, Kim Boström, Florin

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