Jörg Boström zur Eröffnung der Ausstellung
Vier fotografische Wirklichkeiten
im Schlossmuseum Quedlinburg, vom 7.4-18.6.2000
 
Fotografien, wie wir sie Ihnen in dieser Ausstellung vorstellen, sind Sichten auf einen Ausschnitt der Realität und immer sind es Welten, Dinge, Menschen die uns betreffen. Die Fotografie in unseren Arbeiten ist nicht so sehr ein Fenster, durch das wir blicken, sondern eine Sicht und Bildform, die wir gestalten. Im fotografischen Bild begegnen sich die Existenz des Fotografen mit der uns umgebenden und manchmal auch bedrängenden Realität. in diesem Sinne ist sie Dokument der Sicht sowohl wie der Fakten. Die Fotografen dieser Ausstellung sagen nicht so ist - oder so war es, sie sagen mit ihren Bildern so haben wir es gesehen oder besser - so haben wir es zu Bildern geformt.
 
Jürgen Eschers fotografisches Thema, das Leitmotiv seiner Arbeit, ist die Würde, die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. Er arbeitet als Fotograf vorwiegend in der Ländern der sogenannten dritten Welt, in Asien, Lateinamerika, Afrika und dort noch vornehmlich in Krisengebieten, in Krisensituationen oder in von uns weitabgelegenen Bereichen indianischer oder afrikanischer Lebensformen. Bei seiner Fotoarbeit geht Escher auf die Menschen und ihre Lebensgestaltung ein. Er lebt mit ihnen, wenn es geht über Wochen und Monate. "Keins meiner Bilder", sagt er, ist ohne das Einverständnis der Fotografierten entstanden. Eschers Bilder meiden das Sensationelle ebenso wie die europäische Attitüde des Mitleids oder der ethnografischen Neugier. Seine Menschenbilder strahlen Selbstverständlichkeit und Selbstbewusstsein von Menschen aus, die anders leben als wir, aber doch deshalb nicht unbedingt schlechter. "Als Fotograf", sagt Escher, "fühle ich mich der Tradition der sozialengagierten Fotografie verpflichtet. Diese Fotografie war darauf ausgerichtet, Veränderungen zu bewirken." Veränderung im Sinne Eschers, das meint hier, wenigstens teilweise Korrektur der Schäden, welche der Einbruch der westlichen Zivilisation und des Christentums in diesen Kulturen angerichtet hat. In der Konsequenz entstehen die meisten seiner Bilder im Auftrag von kirchlichen Organisationen wie Adveniat und Misereor.
Engagierte Fotografie, was ist das ? Nicht der Fotograf wird vordringlich engagiert, für irgendeinen Auftrag, für irgendeinen Zweck, nicht wie ein Schauspieler, ein Designer, ein Werbefotograf und Paparazzo, sondern er engagiert sich selbst, für eine selbstgewählte Sache, für ein ihn persönlich betreffendes Gebiet. Diese persönliche Betroffenheit und der tiefe Respekt vor dem anderen, manchmal so sehr anderen Menschen ist in den ruhig und fast klassisch komponierten Bildern von Jürgen Escher immer spürbar und bildbestimmend. Diese fotografische Arbeit, so schrieb einmal ein Rezensent, ist zugleich ein Plädoyer für Mitmenschlichkeit und Toleranz.
 
Jürgen Heinemann war einer der Lehrer von Jürgen Escher.
Als er zu fotografieren begann, war die Fotoszene in der Bundesrepublik der späten fünfziger Jahre durch zwei gegensätzliche Programme geprägt, für die zwei Namen und zwei Begriffe stehen: Otto Steinert, "Subjektive Fotografie"und Karl Pawek, "life-Fotografie".
Der Gruppe "fotoform" mit Otto Steinert war es gelungen, die "Subjektive Fotografie" als bildnerisches Ausdrucksmittel beinahe gleichwertig neben Malerei und Grafik durchzusetzen. Das neue Konzept machte schon durch seine programmatische Bezeichnung auf die Bedeutung des Subjektiven in der fotografischen Gestaltung aufmerksam. Nicht der Apparat produziert mehr oder weniger unterstützt durch einen Handwerker lediglich Abbilder von Vorgefundenem, sondern der Künstler hinter der Kamera und besonders im Labor gestaltet Bilder, die seine persönliche Vision und Version bildnerischer Programme zum Ausdruck brachten. Folgerichtig tauchen nun Werke der "Subjektiven" und ganze Ausstellungen auch in der Kunstszene, in Galerien und Kunstvereinen auf. Der Grad der Vorherrschaft formaler Aspekte im Bild über den gegenständlichen, reproduktiven und reportagehaften Anteil entschied über die Eigenschaft einer Fotografie als "Kunstwerk". Damit war eine Hierarchie der Werte aufgebaut, in der das abbildhafte Foto an der untersten Stufe, das formal geplante und gedachte, weitgehend abstrahierte Bild an der Spitze der Wertepyramide zu finden war. Es war dies eine mögliche Antwort der Fotografie auf eine Kunstszene, die auch in der Malerei dem abstraktiven Kunstwerk den Vorzug gab und realistische, gegenständliche Werke an den Rand drängte. Reisepaß der Fotografie in die Zentren der Kultur war daher die Abstraktion, die gestalterische Umdeutung und "Überwindung" des Gegenstands.
Nun entwickeln sich auch Theorie und Praxis der Fotografie widersprüchlich, beinahe schulmäßig in diesem Fall nach der Lehre von den Widersprüchen, der Dialektik. Karl Pawek behauptete in seinen Schriften und in seiner Praxis als Ausstellungsgestalter das Gegenteil der "Subjektiven". Die besondere Qualität der Fotografie beruhe gerade nicht auf subjektiven Verfremdungen, Dunkelkammermanövern oder der Kunst entlehnten Flächengestaltungen, sondern in ihrem unmittelbaren Zugriff auf Realität. Er setzte auf die "life-Fotografie". Die "Weltausstellung der Fotografie", die Pawek mehrfach einrichtete in der Nachfolge der großen Ausstellung "Family of Men" des Amerikaners Edward Steichen, brachte Situationen zwischen Menschen, Menschengruppen, Klassen und Rassen - und dies mit einer humanistischen, zum Teil harmonisierenden und religiösen Anmutung, welche politische oder sozialrevolutionäre Perspektiven ausschloß.
Pawek setzte auf die beobachtende, auf Situationen reagierende Fotografie des Bildjournalismus und lehnte die auf normale Komposition reduzierte Bildform nachdrücklich ab. Natürlich sah er sich in einem erbitterten Spannungsverhältnis zu Otto Steinert. Er meinte in den aus dem unbeeinflußten Leben "life" geschossenen Bildern Wirklichkeit selbst zu greifen, "unbehauen von der Axt des Bewußtseins". Zur Kunst befand sich seiner Meinung nach die Fotografien in einem prinzipiellen Gegensatz. Fotografen der Generation Jürgen Heinemanns haben sich in dieser polaren Spannung zwischen der subjektiven und der life-Fotografie entwickelt und diesen Widerspruch in ihre Arbeit aufgenommen. Als Otto Steinert Bildjournalismus an der Folkwangschule in Essen lehrte, arbeitete er selbst an einer möglichen Synthese.
Es ging um gestaltete, künstlerische, bildhafte Fotografie des Wirklichen symbolhafte Darstellungen, Lichtführung, Spannungsverhältnisse der Fläche, er forderte auch hier den subjektiven Ausdruck heraus und verlangte eine persönliche Gestaltung der Bilder.
Sensationsjournalismus wurde ebenso abgelehnt wie "Knipserfotografie". Heinemann ist Steinert-Schüler, ein Lehrverhältnis, das nicht immer ohne Spannung war. Subjektiver Ausdruck und die Konzentration auf eine bildhafte, allgemeingültige Form kennzeichnen seine Fotos. Sie sind darüberhinaus von einer für ihn charakteristischen Depression gekennzeichnet. Dies gilt für ihre Gestaltung ebenso wie für die Auswahl der Themen, in denen die jahrelange Zusammenarbeit mit dem kirchlichen Auftraggeber Adventiat sich wiederspiegelt.
Der intensive, persönliche Ausdruck seiner Bildform ermöglicht Heinemann die Arbeit für diese kirchliche Organisation in vielen Bereichen der "Dritten Welt", ohne in pastoralen Kitsch zu verfallen, welcher viele Priester- und Entwicklungshilfebilder so unangenehm auszeichnet. Heinemann zeigt ins Milieu eingekerkerte Menschen ohne Fluchtwege wie in seinen Slum-, Lager-, Gefängnis- und Todesbildern und immer wieder mühsame, hoffnungslose, auszehrende Arbeit. In dieser Ausstellung konzentriert sich seine Auswahl auf die Darstellung von Lebensverhältnissen der Kinder in diesen Regionen. Auch hier überwiegt der Eindruck des stillen Leidens und des bedrückten Lebens. Indirekt, indem er die Haltlosigkeit der gezeigten Zustände in expressiven Bildern ins Bewußtsein rückt, ist Heinemann ein sozialkritischer, politischer Fotograf, der sinnliche, hochgradig emotional geladene Argumente für eine überfällige Veränderung in den Machtstrukturen bereitstellt.
Fotografie als eine Kunst des Wirklichen zwischen subjektiver Leidenschaft und Leidensfähigkeit, Einfühlung in die Leiden eines Kontinents, gestaltet hier das Wirkliche als das Schwererträgliche. Von einem Europäer und für die kirchlichen Auftraggeber - Adveniat, Misereor - fotografiert, treiben diese Bilder Nägel in selbstgefällige Augen. Sie erfüllen den Auftrag und zerstören ihn zugleich. Sie entstehen aus einem ähnlichen Impuls wie die andere widerspruchsvolle Bewegung im kirchlichen Bereich: die Theologie der Befreiung. In tiefen
Schwärzen, harten Kontrasten und rauhem fotografischen Korn formt sich ein Kontinent aus Gewalt und Resignation, aus Schnaps und Weihrauch, Ausbeutung und Almosen. Jürgen Heinemanns fotografische Arbeit folgt auf die spätkolonialistische Phase des Bildjournalismus, dem sich die Welt als Safaripark voller Beutetiere präsentierte. Sie schließt sich an diese Phase an und macht ihr den Garaus. Der Europäer - seine Kultur und seine Kirche - kann in diesen Bildern betrachten, was er angerichtet hat. Der Geschmack an der Macht wird ihm gründlich verdorben.
 
Auf diesen dünnen, hochglänzenden Papieren erscheint in immer neuen Gestaltungen das soziale Karree von Ohnmacht und Verfall, von menschenzerschindender Arbeit und aufgeblasener Obszönität des Reichtums.
 
In jedem Kunstwerk steckt ein Stück Selbstdarstellung, auch in einem fotografischen Werk. Die Einfühlung, die Angleichung der Außenwelt an das innere Bild, bestimmt auch die lebenslange Arbeit des Fotografen Jürgen Heinemann, mit dem wir es heute zu tun haben.
 
 
Grenzsituationen, Übergangsgesellschaften, Kolonien im Abseits, Lebensverhältnisse, die einer besonderen Gefährdung ausgesetzt sind, bilden für beide Fotografen Heinemann und Escher ein immer neu faszinierendes Thema. Entsprechend der Existenzphilosophie, die viele unserer Generation geprägt hat, entwickelt sich in der Kamera und dem Labor so etwas wie Existenzfotografie.
 
Meine Arbeiten in dieser Ausstellung haben zwei Themen, die miteinander korrespondieren, Zerfall und Aufbau, Umbruch im Industriebereich Rurgebiet am Beispiel des Hochofen II in Hattingen und in Bildern von Sterbenden Gutshäusern in Mecklenburg-Vorpommern.
Die Gutshäuser zerfallen als Symbole einer verlorenen
gesellschaftlichen Gruppe des feudalen Landlebens. Ihrer
ursprünglichen Funktion beraubt, sind sie der Verwitterung,
dem Umbau, der Umfunktionierung, der wütenden Zerstörung
und dem methodischen Abriss ausgesetzt.
Geschichte verkörpert sich in solchen bearbeiteten Steingebilden ebenso wie die gegenwärtige Retusche, das Verdrängen, das Wegräumen des Vergangenen, seine fortwährende Um- und Neuinterpretation.
Nur ihre Umgestaltung, ihre Aufnahme in neue Funktionen
und ihr Umgang mit neuen Bewohnern und Nutzern, mit kulturellen Initiativen gibt ihnen eine Überlebenschance.
Die Fotografien entstanden in Verbindung mit dem Projekt Bilddokumentation, das Professor Diethardt Kerbs und Sophie Schleußner in den Jahren 1992 - 1996 anregten und organisierten. Die Bilder dieser Ausstellung zeigen Überreste von Bauten aus Tetsitz, Pastitz, Darsband und Helle auf Rügen, Wildkuhl, Lansen und Hinrichshagen in Mecklenburg. Ein Bild zeigt die überwachsene Burgruine der Grafen von Quitzow, welche dem Vordringen der Hohenzollern in Brandenburg erbitterten Widerstand entgegensetzten.
Veröffentlicht wurden einige der Fotografien in dem Bildband "Fotografie und Gedächtnis - Mecklenburg Vorpommern".
 
Die stillgelegte Konstruktion des Hochofens in der Stadt Hattingen am Rande des Ruhrgebiets stellt sich dar wie das Skelett eines toten, urzeitlichen Tieres, Überrest einer vergangenen Industriekultur.
Entsprechend ist die Fotografie den Raumkonstruktionen, den sperrigen Gittern und labyrinthischen Treppen einer magisch wirkenden, weil nicht mehr bewegten Funktion auf der Spur.
Diese Bilder sind dem barocken Grafiker Piranesi gewidmet, der antike Architekturen und Tempeltrümmer darstellte und mit seiner Serie Carceri - Gefängnisse - zugleich das Irrationale einer sinnlos gewordenen Bauwelt darstellte.
Verschachtelungen von Räumen, Tekturen und Dimensionen werden zu flächenhaften Bildern, die an Stahlkathedralen denken lassen.
Ihrer Funktion beraubte Objekte und Details erscheinen wie rätselhafte Gebilde einer vergangenen, kultisch anmutenden Verwendung.
Das anscheinend Selbstverständliche der Industriekultur wirkt fremd wie aus der Sicht späterer Zeiten, welche den Zusammenhang nicht mehr rekonstruieren können. Eine postindustrielle Sicht wird zu Bildern von eher archäologischem als industriefotografischem Charakter.
 
Die Verbindung von malerisch erzeugten Clichées Verres - bemalte Glasplatten - mit der Einbelichtung von fotografischen Negativen erinnert in der Brüchigkeit ihrer Strukturen an die Vergänglichkeit ihres Gegenstandes.
Der natürlichen Vergänglichkeit wird eine künstlerisch produzierte entgegengesetzt. Die Bilder erscheinen nun selbst wie verwittert, wie angerostet und von der Zeit zerfressen.
 
 
1843 Hattingen hat 322 Einwohner, 7 Bauernhöfe, 20 Kotten, Niedergang des Wirtschaftslebens, Handweberei, Schmieden.
 
1850 Herr Helmisch entdeckt ein 150 cm mächtiges Spateisenflöz. Hattingen bietet Kohle und Eisen sowie die Ruhr als Verkehrsweg.
 
1853 Graf Henrich zu Stolberg-Werningrode beauftragt
Carl Roth mit dem Aufbau eines Hochofens in Westfalen.
 
1854 Protest der Bevölkerung gegen den Bau der Hütte bleibt ohne Erfolg
 
1855 Der erste Hochofen wird angeblasen. 350 Personen Belegschaft, darunter Fachleute aus dem Harz, aus Schottland und Belgien.
 
1869 Die Hütte erhält Anschluß an die Eisenbahn.
 
1904 Die Firma Henschel erwirbt die Hütte nach
Disconto-Gesellschaft 1857 und "Dortmunder Union" 1872.
Jetzt hat sie 1300 Personen Belegschaft,
1910 bereits 6000 Personen.
 
1923 Die Franzosen besetzen das Ruhrgebiet.
 
1930 Höhepunkt der Wirtschaftskrise. Die Hütte geht auf in der "Ruhrstahl AG".
 
1939 Neubau des Hochofens III.
6868 Personen sind hier beschäftigt.
 
1944 Belegschaft 9000, davon sind 2500 Zwangsarbeiter.
 
1945 Die Hütte erhält 151 Bombentreffer.
 
 
1946 Erste Betriebsgenehmigung nach dem Krieg für
3000 Personen Belegschaft.
 
1949 Das Petersberger Abkommen verhindert die Totaldemontage
 
1950 Entflechtung der "Ruhrstahl AG".
Hochofen I wird angeblasen.
 
1952 Hochofen III wird in Betrieb genommen.
 
1959 Kokerei und Hochofen I werden stillgelegt.
Hochofen II wird angeblasen. 9700 Personen Belegschaft.
 
1963 Die "Ruhrstahl AG" geht auf in der
"Rheinstahl Hüttenwerke AG".
 
1974 Die Henrichshütte wird einbezogen in die
August Thyssen Hütte AG.
 
1985 5563 Personen Belegschaft.
 
1987 Stillegung des Hochofenbetriebs bei Protesten durch Gewerkschaft, Belegschaft und Bevölkerung.
 
1988 Stahlwerk, Schmiedebetriebe und Bearbeitungswerkstätten werden von der
"Vereinigte Schmiedewerke Gesellschaft (VSG) übernommen.
Alle anderen Bereiche wie Sintern, Verhüttung, Walzen, Kümpeln sind stillgelegt. Auf dem stillgelegten Bereich wird ein "Gewerbe- und Landschaftspark Henrichshütte" geplant.
 
1989 Die Hochofenanlage wird an eine chinesische Firma verkauft und demontiert. Die verbleibenden Teile sowie eine Hochofenanlage werden in das Westfälische Industriemuseum einbezogen.
 
1992 Auf der Hütte arbeiten noch 1350 Personen.
 
1993 Beginn der fotografischen Arbeit
 
"Der Tod im Präsens" nennt Christoph Gödan seine Arbeit aus Bosnien. Er bleibt gegenwärtig. Gödan sucht den Tod in der Wirklichkeit, da wo er uns in hunderten verwester Gesichter in Bosnien anstarrt. Bei den Exhumierungen von Opfern der Massaker im Bürgerkrieg war er dabei. Er fotografierte die Landschaften und Städte, in welchen die Zestörung sichtbar wird.
In dieser Ausstellung in Quedlinburg zum Thema der Exhumierungen der Massengräber wird die Landschaft in seinen Bildern zugleich zum Ort des Tötens und der unaufhaltsamen Überwucherung menschlicher Grausamkeit durch die Natur. Gödans Fotografien fordern auf zum genauen und sachlichen Hinsehen. Sie sind zugleich Dokumente der schwer erträglichen Geschichte und der hilflosen Versuche der Menschen mit Aktionen wie der Massenausgrabungen das massenhafte Morden zu verarbeiten.
Die fotografische Methode der Dokumentation von Nähe und Ferne im Raum und von Vergangenheit und Gegenwart in der Zeit ist besonders in dieser Arbeit sichtbar.
Dabei gibt die Farbe den Rest einer friedlichen Anmutung, die mehr Sehnsucht ist als Gegenwart. Durch Novo Sarajewo, das olympische Dorf in Grbevica ging die ehemalige Frontlinie. Das Gelände der olympischen Winterspiele von 1984 fasst nun die Gräber von erschossenen Zivilisten, 2800 Tote allein in Sarajewo - nach 5 Jahren Belagerung.
"Das Massaker von Biljani", schreibt Gödan in seinem Bericht,"wurde am 10. Juli 1992 von serbischen Militärs verübt ...Die muslimischen Einwohner wurden unter dem Vorwand der Registrierung aus ihren Wohnungen gezerrt... am Vormittag gegen 11.30 Uhr begannen die ersten Hinrichtungen vor der Gemeindehalle. Getötet wurden zwischen 250 und 300, steht im Tagebuch des serbischen Soldaten Luka Budimir" Exhumiert, ausgegraben wurden 248 Leichen. Das jüngste Opfer dieses Massakers war einen Tag, das älteste 92 Jahre alt.
Zwei Bilder aus der Pathologie im Kreiskrankenhaus in Tusla, ein anderes aus einer Turnhalle in Kluj mit vielen Toten. Christoph Gödan fotografiert dem Schrecken hinterher, um ihn festzuhalten und zugleich zu bannen. Auf einer Wäscheleine in Sanski Most hängen Kleidungsstücke, an sich ein friedliches Bild, aber diese dienen als Hilfe zur Identifikation von Toten aus dem Massengrab.
Die farbig kühlen, sachlich berichtenden Landschaftspanoramen zeigen die ungerührtheit der Natur gegenüber unzählbarem menschlichen Schmerz: Die Exhumierung bei Prhovo setzt Gödan in montierten Panoramen ins Bild, das in Übereinstimmung mit den Ritualen muslimischer Religion erfolgte Begräbnis in Donja Samica in Bildpaaren. Es ist die Verbindung aus sachlicher Präsentation und Grauen, welches den Bildern den nüchternen Blick in das Gesicht des Todes gibt. Die Menschen müssen damit überleben, wenn man es ihnen erlaubt. Die pure Existenz im Grauen muss schon als Glück erscheinen. Immer erscheint die Natur friedlich, sie ist unberührt von der menschlichen Gemeinheit.
Diese zusammengeschossenen, zusammengeworfenen und verschütteten Leiber finden keine Ruhe. Die Toten erleben eine makabre Auferstehung vor den Überlebenden und zuletzt vor dem internationalen Gericht in den Haag. Hier ist die Kamera als Zeuge eingesetzt, mit ihren technischen und ästhetischen Möglichkeiten. Der subjektive Blick erstarrt vor Entsetzen. Er sichert sich an der Technik. Ein Hinsehen reicht nicht aus. In Bildfolgen nach der Struktur von Tryptichen werden zerstörte Stadtlandschaften visuell eingefroren, werden Landschaften mit lyrischer Weite und schrecklichen Einzelheiten sichtbar gehalten, werden Reste von Menschen als grausige Stilleben vor unsere Augen gedrückt. In diesem Zusammenhang erscheinen lebende Menschen wie melancholische Skulpturen oder wie absurde Puppen. Überreste der gemordeten Menschen werden sortiert und in Pizzakartons gesammelt zur späteren Identifikation. Was bleibt sind die materiellen Reste am Körper und solche Fotografien. Diese Welt kommt noch immer nicht hinein in die Normalität des Lebens, des Wachstums und des natürlichen Sterbens, sie bleibt und wird Teil des noch immer nicht beendeten Völkermords.
Gefragt nach der Wirksamkeit solcher Bilder äussert der Fotograf Zweifel. Die Konflikte sind archaisch, der Hass sitzt zu tief. Wie Urtiere in Stämmen organisiert mordet der eine Sozialverband den anderen. Gerade kulturelle und religiöse Ausprägungen verschärfen den Drang zum Massenmord, sie liefern ihm vielfach perverse moralische Begründungen. Man macht es heute mit anderen technischen Mitteln. Bemerkt wird die Fotografie in ihrer begrenzten Wirksamkeit besonders dann, wenn man sie zur Begründung von Kriegen missbraucht oder wenn sie zum Zwecke der Vertuschung verboten wird.
Nicht fotografierte Kriege geraten nicht ins öffentliche Bewusstsein, toben weiter, sind schon jetzt vergessene Kriege. Ausser dem Krieg um das Kossovo sind es zur Zeit mehr als fünfzig.

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