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Virtuelles Magazin 2000

 


Arn Strohmeyer
 
Europa und der Stier stehen Schlange vor der Suppenküche
Der alte Kontinent zerbricht an den Folgen der Krise/ Gedanken zu einer Renaissance des Mythos
 
Europa – was ist das heute? Ein Sozialwissenschaftler analysiert die derzeitige Situation: „Europa zerbricht. Eine gewaltige tektonische Verschiebung des sozioökonomischen Gefüges in der EU führt dazu, dass die ‚Dritte Welt‘ von Nordafrika über das Mittelmeer nordwärts expandiert und sich inzwischen über weite Teile der südlichen Peripherie der Eurozone erstreckt. Das blanke Elend, ein obszöner Pauperismus, der an die bluttriefende Durchsetzung des Kapitalismus im 18. Jahrhundert erinnert, kriecht somit immer näher an die wirtschaftlichen Zentren der EU heran. Die verbliebenen ‚Wohlstandsinseln‘ beginnen abzuschmelzen – und sie werden mittelfristig untergehen im Meer des kapitalistischen Massenelends.“
 
Als Gründe für diese Entwicklung nennt er: „Zwei Faktoren haben maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die Eurozone zum gegenwärtigen Krisenzentrum entwickelte, obwohl der jüngste Krisenschub seinen Ausgangspunkt 2007 auf dem Immobiliensektor der USA hatte. Zum einen ist es die spezifische Struktur der europäischen Währungsunion. Den beteiligten Staaten wurde ihre Souveranität über die Geldpolitik entzogen, doch zugleich fand keine Etablierung europaweiter Mindeststandards in der Wirtschafts- und Sozialpolitik statt. Hieraus resultierte ein enthemmter europaweiter Wettbewerb um die niedrigsten Löhne und Steuern zwischen auf bloße Wirtschaftsstandorte reduzierten Ländern, während zugleich der Euro den ökonomisch unterlegenen Ländern die Möglichkeit nahm, mittels Währungsabwertungen ihre Wettbewerbsfähigkeit wenigstens teilweise wiederherzustellen. Den zweiten Faktor bildet das brutale Spardiktat, das die Berliner Führungsriege – als vorläufiger Sieger dieses spätkapitalistischen Rattenrennens – der gesamten Eurozone oktroyiert.“ Dieser Text stammt von dem Sozialwissenschaftler Tomasz Konicz.
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Skulptur von Piero Meogrossi in Lentas/ Kreta

Europa – was ist das eigentlich heute? Am Anfang war ein Mythos, in dessen Mittelpunkt ein schönes Mädchen namens Europa und ein verliebter Göttervater standen. Die Geschichte ist schnell erzählt. Das Mädchen war die Tochter des phönizischen Königs Agenor, der in Tyros und Sidon (heute Libanon) residierte. Zeus, der oberste der griechischen Götter, verliebte sich in sie. Er nahm die Gestalt eines herrlichen weißen Stiers an und gesellte sich zu der Herde des Königs am Strand Phöniziens, wo Europa mit ihren Freundinnen spielte.

Der Stier näherte sich den Mädchen, die von seiner Schönheit und sanften Art fasziniert waren. Europa kletterte in ihrem Übermut auf seinen Rücken. Bevor sie wusste, was geschah, eilte der Stier mit ihr davon, erreichte das Meer und schwamm mit ihr nach Kreta. Bei Matala im Süden der Insel ging er mit ihr an Land. Was dann geschah, wird von den Interpreten des Mythos sehr verschieden erzählt, ist aber wohl der Schlüssel zum Verständnis der Geschichte: Wie war das Verhältnis zwischen dem Gott und der schönen Königstochter? War es Raub oder hat sich Europa dem Stier hingegeben? Der Mythos ganz allgemein bietet immer nur Bilder von Menschen, Orten und Dingen, sagt aber nichts oder nur wenig darüber, ob und welche Beziehungen zwischen ihnen, ihren Aktionen und Erlebnissen bestehen.

Der römische Dichter Ovid (43. v. Chr bis 17 n.Chr.) erzählt die Geschichte so, dass man von einer Entführung, Vergewaltigung und schließlich dem unfreiwilligen Exil der Königstochter auf Kreta ausgehen muss. Auch der Altmeister der „Sagen des klassischen Altertums“ Gustav Schwab berichtet, dass Europa das Opfer eines Raubes wurde. Der Stier verwandelte sich nach der Ankunft am Strand von Matala in einen „herrlichen göttergleichen Mann“, der ihr erklärt, dass er der Herr des Insel sei und sie schützen werde, wenn sie sich ihm hingeben würde. In ihrer trostlosen Verlassenheit willigt sie ein und nach der Verführung sucht er das Weite. Die Göttin Aphrodite erschien dann, um Europa zu trösten und ihr die Wahrheit zu sagen: „Zeus ist es, der Dich geraubt hat. Du bist die irdische Gattin des unbesiegten Gottes: Unsterblich wird Dein Name werden. Denn der fremde Erdteil, der Dich aufgenommen hat, heißt hinfort Europa.“

Andere Autoren berichten die Episode sehr viel prosaischer. Nach der Ankunft auf Kreta sei Zeus Europas Geliebte geworden. Er habe mit ihr drei Söhne gezeugt: Minos und Rhadamanthys, die als weise Könige Kreta beherrschten und nach ihrem Tod in der Unterwelt zu Richtern über die Verstorbenen erhoben wurden. Der dritte Sohn Sarpedon brachte es zum König von Lycien in Kleinasien. Zeus selbst hatte offenbar doch Mitgefühl mit seiner einstigen Geliebten und machte sich nicht so einfach davon. Er verheiratete sie mit Asterios, dem König von Kreta. Europa schenkte ihm eine Tochter, die Krete genannt wurde – von ihr erhielt die Insel also ihren Namen.

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Zeichnung von Piero Meogrossi in einer Taverne in Lentas: Europa mit dem Stier

Sucht man nach historischen Vorlagen, die zur Entstehung des Mythos geführt haben könnten, bieten sich zwei Theorien an: Einmal haben Vorgeschichtler sehr frühe Kontakte zwischen dem asiatischen Anatolien und Kreta ausgemacht. Denn in der Mitte des dritten Jahrtausends tauchte eine völlig neue Kultur auf, die bisher nicht bekannte Techniken der Metallverarbeitung beherrschte. Anatolische Invasoren (die Luwier) hatten die neue Zivilisation offenbar mit nach Kreta gebracht, die später die minoische genannt wurde – und der mythische König dieses Volkes war der Sohn der Europa, eben Minos. Es gibt auffallende Ähnlichkeiten zwischen Palastanlagen in Anatolien und den minoischen Palästen von Knossos, Phaistos und Mallia auf Kreta. (Die Herkunft der Minoer ist aber bis heute umstritten.)

Die andere Theorie besagt, dass der Mythos die Eroberung des minoischen Kretas durch die Festlandgriechen (die Mykener) nach 1450 v. Chr. zum zum Hintergrund hat. Die Mykener bringen ihre höchste männliche Gottheit, eben Zeus, mit auf die Insel. Dort hatte bisher eine Muttergottheit (die magna mater) regiert, die einen jugendlichen Begleiter bei sich hatte, der die stets erneuernde Kraft der Natur verkörperte. Die Vereinigung von Zeus und der großen Mutter führt zum Sieg der männlichen Vorherrschaft, des patriarchalischen Prinzips auf Kreta. Seine Söhne übernehmen dann die Herrschaft. Der Stier war den Minoern ohnehin seit langem ein heiliges Tier, weshalb sie auch den fremden Gott in Stiergestalt akzeptieren konnten.

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Die Legende von Zeus und Europa war also ein Gründungsmythos, der eine neue Herrschaft auf Kreta legitimierte, was belegt, dass Mythen oft in Umbruchzeiten entstehen. Er war aber auch die Stiftungslegende für einen ganzen Erdteil. Selbst seine heutige Währung ist nach dem schönen Mädchen von der phönizischen Küste benannt. Aber man darf nicht vergessen: Europa war eigentlich von ihrer Herkunft her eine Orientalin. Eine Tatsache, die überzeugte Abendländer gern übersehen. Der Erdteil, dem sie den Namen gab, hat also auch einen asiatischen Anteil, der nicht zufällig mit Kreta zu tun hat, das am Schnittpunkt dreier Welten liegt: Europa, Afrika und Asien.

Echten Mythen (nicht künstlich konstruierten und für bestimmte Zwecke instruentalisierten) ist in ihrem Wesen immer ein unauflösbarer Kern eigen. Vermutlich hat Thomas Mann darauf hinweisen wollen, als er schrieb: „Die Urgründe der Menschenseele sind zugleich auch Urzeit, jene Brunnentiefe der Zeiten, wo der Mythos zu Hause ist und die Urnormen, Urformen des Lebens gründet. Denn der Mythos ist Lebensgründung; er ist das zeitlose Schema, die fromme Formel, in die das Leben eingeht, indem es aus dem Unbewussten seine Züge reproduziert.“ Vor allem die Psychoanalyse weiß darum, wie schwer diese „Urgründe“ zu deuten sind.

Es ist erstaunlich, was spätere Zeiten dann in den Mythos von der schönen Königstochter hineingedeutet haben. Im christlichen Mittelalter bewiesen die Theologen zum Beispiel unter Berufung auf die liebevolle Beziehung Europas zum Stier die Jungfräulichkeit Marias. Es wurde auch die These vertreten, dass die Jungfrau Europa die menschliche Seele versinnbildliche. Und Zeus sei Christus, der sich, um die Seele der Menschen zu retten, in einen Stier verwandelt habe. Deshalb habe er körperliche Gestalt angenommen. Es gab auch bildliche Darstellungen des Themas: die fromme Seele Europa nähert sich dem Stier (Christus) in Verehrung und Liebe. Bis in die frühe Neuzeit symbolisieren die Meerfahrt der Europa auf dem Stier und ihr Blick zurück auf die heimatliche Küste so die Seele des Menschen, die sich in ihrem irdischen Leben vor Sehnsucht nach Gott verzehrt, zu dem sie zurückkehren will, weil er das Heil und das höchste Gut ist.

In der Renaissance gewinnt die antike Mythologie immer stärkere Eigenständigkeit, die Mythendeutung trennt sich von der christlichen Heilsvorstellung und wird rationalistischer. Für Boccaccio (1313 – 1375) etwa hat die Entführungsepisode vor allem einen moralphilosophischen Aspekt: Man darf jungen Mädchen nicht so viel Freiheit geben, sonst kommen sie auf dumme Gedanken und verschwinden mit einem dahergelaufenen Stier. Unter dem Einfluss der antiken stoischen Philosophie, die lehrte, dass die Affekte der Seele dem Glück im Wege stehen, gestalteten die Maler der Zeit das Thema: Der Mensch kann sein Heil nicht erkennen, solange übermäßige Gefühle ihn beherrschen.

So wird etwa Tizians Bild „Die Entführung der Europa“ ganz im Sinne der stoischen Philosophie gedeutet. Es schildert den Augenblick, in dem der Stier das Ufer verlässt und seine schnelle Meerfahrt beginnt. Europa liegt „lasziv“ oder hilflos auf dem Rücken des Stiers, nur mit der Linken umklammert sie ein Horn. Sie hatte offenbar bei dem schnellen Abschied keine Zeit mehr gefunden, eine sichere Position einzunehmen. In einer Interpretation des Bildes heißt es: Europa ist so von den auf sie einströmenden widerstreitende Gefühlen überwältigt, dass sie ganz davon in Anspruch genommen ist, ihr Gleichgewicht auf dem dahin stürmenden Stier zu finden. Hier wird eine allgemein menschliche Situation geschildert: Europa steht als Symbol für die menschliche Seele schlechthin, die von dem Stier, d.h. dem menschlichen Leib, durch das Leben und die Welt getragen wird. An diesem Punkt kommt die Maxime der stoischen Philosophie zur Anwendung: Die in extreme Aufregung versetzte Seele muss ihre vier Affekte Furcht, Freude Begierde und Schmerz überwinden, nur dann kann sie zu Gleichmut und Glück gelangen. Kreta wird auf den Darstellungen dieser Epoche immer als mächtige, prachtvolle und hoch zivilisierte Insel dargestellt – der Europa-Gedanke wird so auf das Goldene Zeitalter zurückgeführt.

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Münze aus der kretischen antiken Stadt Gortyn, etwa 240 v. Chr.
Foto: Burkhard Traeger.

Die Humanisten und auch einige Maler benutzen den Mythos für ihre Kritik an den damals herrschenden Zuständen, vor allem an der Macht des Klerus. In den allegorischen Darstellungen stehen die Gefährtinnen der Königstochter verzweifelt am phönizischen Strand, aber weniger wegen der Entführung, sondern sie fürchten um Europas weiteres Schicksal. Sie fällt Klerikern in die Hände, die sie unbarmherzig ausplündern – allen voran der Papst, der ihr die phönizische Krone entreißt. Europa – beraubt und vergewaltigt von den Kirchenmännern – wird mit Christus, dem die Dornenkrone aufgezwungen wurde, verglichen. Der nach ihr benannte Kontinent wird nicht mehr geographisch verstanden, sondern der Name steht nun für die gesamte Christenheit, die dem Stellvertreter Christi anvertraut ist. Europa wird aber von diesem und seinen Helfern schamlos bestohlen, entehrt und beleidigt. Hinter dieser anonymen Deutung des Mythos wird der Humanist Erasmus von Rotterdam (1466 – 1536) vermutet. Im Zeitalter der Entdeckungen und des kolonialen Anspruchs pflegt Europa im 16. Jahrhundert den Mythos vom auserwählten und überlegenen Kontinent. In Europa ist die einzig wahre Kirche angesiedelt, es ist reich und lebt im Überfluss. Außerdem ist es führend in vielen Bereichen: Kriegskunst, Landwirtschaft, Viehzucht, Künsten und Wissenschaft.

Im Barock und in der Aufklärung wird der Mythos nicht mehr im Sinne des christlichen Heilsgedankens gedeutet, sondern in säkularer philosophischer, an den Platonismus angelehnter Weise: Die Entführung der Europa wird als der Zustand der Seele verstanden, die sich von den göttlichen Dingen abwendet und dem irdischen Leben zuwendet, um dann doch wieder zu den Ideen, zum Ewigen oder zu Gott zurückzukehren. In der Moderne lösen die Künstler den noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in bestimmter Weise bei diesem Thema festgelegten Bildtypus bei ihrer Gestaltung des Sujets auf. Nicht mehr das bildnerisch fixierte Ideal stand im Mittelpunkt, der mythische Stoff wird durch Abweichen vom ursprünglichen Symbolgehalt verfremdet und in vielfältigen Metamorphosen dargestellt. Es entstehen neue Mythisierungsprozesse – oft in Anlehnung an die Kunst primitiver Gesellschaften.

Der Kunsthistoriker Siegfried Salzmann beschreibt die moderne Sicht des Europa-Mythos so: „Die freie Erfindung von multifunktionalen Kon-Versionen und multipersonalen Mischwesen hat phantastische künstliche Geschöpfe hervorgebracht, die seit Beginn des Industriezeitalters das Mythologem beleben und aktualisieren. Durch derartige Irritationen und Aktualisierungen befreien sich die Künstler von den Zwängen eines normativen Mythos-Bildes. Sie haben neue Aspekte des Europa-Mythos entdeckt, die von Zweifeln und der Distanz gegenüber den überlieferten Bildern und Klischees leben. Es geht um die ‚Mehrdeutigkeit und Zwischenstationen‘. Durch diese kritische und lebendige Art der Offenlegung und Auseinandersetzung besteht Hoffnung , dass das Mythologische in jedweder Gestalt – nicht nur in der der Europa mit dem Stier – neu durchdrungen wird.“

Als Beispiel für eine solche Darstellung kann man Max Beckmanns Aquarell „Raub der Europa“ anführen. Wild und brutal stürmt hier der Stier davon, gefährlich seine Hörner in die Luft streckend. Die entführte Königstochter ist ihm wie eine Trophäe über den Rücken geworfen; hilflos, ohnmächtig, leblos und um Hilfe rufend hängt sie dort voller Angst, einem ungewissen Schicksal entgegen eilend. Beckmann hat dieses Bild 1933 gemalt und hat hier seine eigene Befindlichkeit beschrieben: seinen Schock über den Zugriff der Nazis nach ihrer Machtergreifung auf das wehrlose Europa.

Die Nationalsozialisten taten sich mit dem Thema schwer, obwohl sie doch ihre aus rassischen Gründen hergeleitete Nähe zur hellenischen Antike ständig betonten. Glaubte man doch, dass die griechische Hochkultur von arischen Einwanderern aus dem Norden geschaffen worden sei. Aus dem Ewigkeitsanspruch der antiken griechischen Kunst wollte man deshalb die „Ewigkeit“ des eigenen Systems und deren Kunst ableiten. Das Bildmotiv Europa mit dem Stier gab aber für den Nationalsozialismus zunächst wenig her. Das Thema war zu sehr mit dem Schicksal des europäischen Kontinents verbunden und das Symbol Europa wurde mehr als Symbol der Völkerverständigung verstanden, wohingegen das Ziel der Nazis die Eroberung des Kontinents und seine Beherrschung unter germanischem Vorzeichen war.

Begeistern konnte man sich aber für die „Ur“-Kraft der Stiersymbolik mit ihrem Appell an ekstatische Triebphantasien in vielen Gemälden und Skulpturen. Nicht zufällig stand der Wisent bei den Nazis so hoch im Kurs. Dieses Wunschbild männlicher Wirklichkeit – besonders in der imaginären Verbindung von Mann und Frau – passte zu den faschistischen Phantasien mit ihren realen Eroberungszielen im ökonomischen und militärischen Krieg. (Bernhard Decker) Als der Eroberungs- und Vernichtungskrieg dann da war, kam der Mythos doch noch zu Ehren. Im September 1942 veranstalteten die Nazis im Parlamentsgebäude von Wien den „Europäischen Jugendkongress“. In dessen Lichthof hatte man eine überdimensionale Skulptur von „Europa mit dem Stier“ aufgestellt – sozusagen als Motto des Treffens. Europa war nun zum Stich- und Kampfwort geworden: Bevor das „neue Europa“ Wirklichkeit werden könne, müsse das grausame Geschäft des Krieges zu Ende gebracht werden und der Organismus der Völker erst ganz und gar durch das Stahlband des Kampfes gegangen sein, verkündeten die NS-Redner. Ein ganz neuer Europa-Mythos sollte hier geboren werden.

Als Europa dann in Schutt und Asche lag, suchten besonders die Deutschen eine neue Identität, da die alte so furchtbaren Schiffbruch erlitten hatte. Der Europa-Gedanke musste deshalb das entstandene Vakuum füllen und als Ersatz dienen – auch wenn dieses Nachkriegseuropa ganz im Zeichen des Kapitals und zunächst des Kalten Krieges stand. Die Deutschen wurden, weil ihnen das nationale Fundament abhanden gekommen war, die treuesten und loyalsten Europäer und waren am ehesten bereit, Souveranität an Europa abzugeben. Aber mit dem bürokratischen Moloch in Brüssel und seiner vor allem von Lobbyisten bestimmten Politik können sich bis heute die allerwenigsten Deutschen identifizieren.

Ganz anders stand man in der DDR zu Europa. Der Schriftsteller Durs Grünbein hat dem 2003 in einem Essay Ausdruck gegeben. Mit Neid und Sehnsucht, habe er auf ein Europa geblickt, von dem er als DDR-Bürger ausgesperrt war. Europa war für ihn eine Chiffre für das Unerreichbare schlechthin. Er fühlte sich als Teil einer Bevölkerung, die eine Mauer vergessen gemacht hatte, dass sie irgendwann selbst einmal europäisch gewesen war: „Zu spät für Europa geboren oder zu früh, blieb mir zuletzt nur sein Mythos. Ich bin einer von diesen im universellen Sinne Heimatlosen, die von dem alten Europa nur mehr die Trümmer vorfanden, ruinierte Orte wie meine Geburtsstadt Dresden, und von dem neuen nichts als die abweisenden Fassaden der Brüsseler Bürokratie. Und doch habe ich mich immer als Einwohner dieses Kontinents betrachtet.“

Grünbein begründet das mit der Kraft und Mobilität Europas. Der von den antiken Griechen überlieferte Mythos handele nicht nur von einer Gewalttat (Entführung und Vergewaltigung), sondern er habe auch zu einem historisch einmaligen Reifeprozess geführt, der Großzügigkeit, Selbstbestimmung und Toleranz zum Inhalt habe. Zeus habe gewissermaßen kompensiert, was er durch seine unersättliche sexuelle Gier anrichtete und habe damit das Vorbild für jene typisch europäische Dynamik geliefert, wie sie der Philosoph Hegel später den Geschichtsgläubigen unter der Reklameformel vom Weltgeist schmackhaft gemacht habe. Aber es sei ein langer Weg gewesen mit vielen Rückfällen in übelsten Patriotismus, bis daraus Selbstdisziplin und völkerrechtliche Verbindlichkeit geworden seien.

Für Grünbein war die europäische Welt 2003 also noch in Ordnung. Was ist aus seiner Vision geworden? Die beiden Wirtschaftsexperten und Sozialwissenschaftler Karl Heinz Roth und Zissis Papadimitriou beschreiben die verheerenden Folgen der Spardiktate, die die reichen Staaten den armen Verwandten in den Peripherieländern des Mittelmeeres aufgezwungen haben: Der Kaufkraftschwund führt zu hoher Arbeitslosigkeit, Verelendung und sozialem Abstieg ganzer Bevölkerungsschichten, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. In Athen und Madrid stehen die Menschen zu Tausenden Schlange vor den Suppenküchen. Die Autoren konstatieren: „Besonders dramatisch ist die Situation der erwerbslosen Jugendlichen. Schon in den Jahren zuvor war ihnen durch die Deregulierungen der Arbeitsbeziehungen der Zugang zu einigermaßen fair bezahlten und verlässlichen Arbeitsplätzen verwehrt worden. Nun verloren sie auch ihre niedrig entgoltenen und befristeten Jobs. Allein in Spanien wurden seit Krisenbeginn zwei Millionen prekäre Jugendliche auf die Straße gesetzt. Für sie und alle anderen erwerbslosen Jugendlichen in Europa prägt dieses Schicksal mehr als eine biografische Episode, es wird ihr Leben jahrzehntelang überschatten. Europaweit ist eine verlorene Generation im Entstehen begriffen, der die elementaren Voraussetzungen eines selbstbestimmten Lebens entzogen sind. In Griechenland sind inzwischen 80 Prozent aller Jugendlichen in ihre elterlichen Haushalte zurückgekehrt.“

Und weiter: „Auch die soziale Demoralisierung folgt diesem Verteilungsmuster: In den Peripherieländern ist die Zahl der Selbsttötungen dramatisch gestiegen, und in den Armutsquartieren greifen Prostitution, Kleinkriminalität, innerfamiliäre Männergewalt und Drogenabhängigkeit um sich. Europaweit nutzen neofaschistische Organisationen die sozialökonomische Selbstzerstörung der repräsentativen Demokratie zum demagogischen Stimmenfang und zu Gewaltakten gegen Flüchtlinge und soziale Minderheiten. Sie spielen das alte Spiel des Faschismus: Sie greifen die soziale Frage auf und leiten sie in die Kanäle einer hypernationalistischen Ethnopolitik weiter.“

Das ist die neue europäische Realität und die Politik tut wenig oder nichts, um sie zum Positiven zu verändern. Im Gegenteil: Sie ist ja für das Desaster nicht nur verantwortlich, sie besteht darauf, dass der neoliberale „Reformprozess erfolgreich zu Ende geführt wird“. Aber wenigstens die Künstler reagieren auf die Misere mit hoher Sensibilität – oft mit beißender Kritik und scharfem Sarkasmus. Da steht zum Beispiel vor dem Europa-Parlament in Brüssel eine Skulptur, die den Mythos von Europa mit dem Stier darstellt: Aber beide Gestalten wirken dürr, mager und ausgezehrt, als seien sie Opfer der europäischen Sparpolitik. Bezeichnender könnte die Symbolik nicht sein.

Ganz ähnlich muss man wohl die Skulptur „Europa und der Stier“ von Michael Jastram deuten, die der Deutsche Bundestag angekauft hat. Dieser Bildhauer, der in seinen Arbeiten zumeist auf eine archaische, primitive Formsprache zurückgreift, hat den Stier als massigen monolithischen Block gestaltet, aus dem an der vorderen Oberseite zwei Hörner herausragen. Das Tier hat keine Beine, unten an dem schweren Steinquader sind klobige Räder angedeutet, die kaum zur Fortbewegung geeignet sind. Auf dem Hinterteil dieses unbeweglichen Klotzes sitzt – winzig, mager und zerbrechlich – Europa, dem Bullen unter ihr völlig abgewandt und in die Ferne schauend, als habe sie mit diesem Stier nicht das geringste zu tun. Die einstige verheißungsvolle Vision ist in Immobilismus erstarrt, ein Bewegen von der Stelle, ein Fort-schritt also, ist nicht mehr möglich. Die Utopie ist zum Stillstand gekommen. Europa erstarrt in einsamer Verzweiflung.

Natürlich wird das Motiv auch in Griechenland, das am meisten von der europäischen Krise betroffen ist, aufgegriffen. Der kretische Maler Telis Yannakoudakis (siehe VM 2000 Nr. 56) aus Heraklion hat das Thema in einem Bild in eher konservativ-herkömmlicher Art gestaltet: Europa reitet – sich an den Hörnern des Stiers festhaltend und von Delphinen umgeben – durch das Meer. Erst beim genauen Hinsehen entdeckt man die versteckte politische Kritik: Beide Figuren sind umschlungen von einem Band, das die Farben Schwarz-Rot-Gold trägt. Soll heißen: Deutschland ist für die Krise und das griechische Elend hauptsächlich verantwortlich, weil es als Europas ökonomische Vormacht den Kontinent fest im Griff hat und ihm seine Bedingungen diktieren kann. (siehe Abbildung)

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Gemälde Europa mit dem Stier von Telis Yannakoudakis

An der Südküste Kretas bei Matala, wo der Zeus-Stier mit Europa der Sage nach ankam, gibt es keine Skulptur, die an das mythische Ereignis erinnert. Aber wenige Kilometer von dort hat ein Italiener dem Mythos jetzt in dem Dorf Lentas ein übergroßes Denkmal gesetzt. Seit Jahren diesem Küstenstrich eng verbunden hat der frühere Direktor des Kolosseums in Rom. der Architekt und bildende Künstler Piero Meogrossi, Europa mit dem Stier aus Alltagsmüll wie Schwemmholz, Draht, Plastiktüten, Wasserflaschen und Zeitungspapier geschaffen. Mit gewaltiger Kraft ist dieser stämmige Bulle die felsige Küste hochgeklettert, um sich oben auf einem Plateau in seiner ganzen Herrlichkeit zu zeigen. Auf seinem Rücken sitzt aufrecht eine triumphierende Europa, die den rechten Arm wie zum Siegesgruß, der wie ein trotziges „Jetzt gerade!“ oder „Nun dennoch!“ wirkt, emporhält. Diese Königstochter ist nicht geraubt worden, sie hat keine Angst vor dem, was sie auf Kreta erwartet. Sie ist dem urigen Stier wohl freiwillig und aus Liebe gefolgt. (siehe Abbildung)

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Piero Meogrossi vor seiner Skulptur in Lentas

Die europäische Symbolik liegt nicht nur im Motiv, sondern auch im kurzlebigen Material. Meogrossi hatte seine Skulptur im Sommer 2012 geschaffen, ein Jahr später bot sie sich schon arg zerzaust dar. Der raue Seewind, die Regengüsse des Winters und die zumeist brennende Sonne hatten der äußeren Erscheinung arg zugesetzt. Aber Meogrossi nahm den Verfall gelassen hin. „Die Symbolik stimmt“, sagt er, „das ist der Zustand Europas. Ich werde nichts mehr daran ändern.“ Das Thema hat ihn seit Jahren so fasziniert, dass er es auch noch einmal zeichnerisch großformatig gestaltet hat. Ein äußerst lieb und verständig wirkender Stier sucht am felsigen Ufer einen Aufgang, um seine teure Last dort hochzutragen. Europa auf seinem Rücken schaut erwartungsvoll in Richtung auf die fremde Insel. Auf diesem Bild ist „Europa“ noch in Ordnung. Das Bild hängt viel bewundert in einer Taverne am Strand von Lentas.

Um den alten Kontinent, dem die schöne Königstochter den Namen gegeben hat, steht es nicht gut. Spötter sagen: „Gestern waren wir noch am Rande des Abgrunds, heute sind wir schon einen Schritt weiter!“ Muss Zeus noch einmal zur phönizisch-libanesischen Küste aufbrechen, um einen neuen Europa-Mythos zu begründen? Oder braucht der Kontinent für sein Überleben eine ganz neue Erzählung – ganz ohne Stiergott und schönes Mädchen?

Literatur:

Grünbein, Durs: Die Verführung zur Freiheit. Durs Grünbein über die Liebe zum alten Europa, Spiegel Nr. 5 2003

Konicz, Thomasz: Die Rückkehr des Pauperismus. Abstieg, Arbeitslosigkeit, Armut – Krise und Austeritätspolitik zerstören die Lebensgrundalgen der Bevölkerung in den europäischen Peripheriestaaten, in: Hintergrund. Das Nachrichtenmagazin, 3. Quartal 2013

Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. Vortrag gehalten in Wien am 8. Mai 1936 anlässlich des 80. Geburtstages von Sigmund Freud, Wien 1936

Nichols, Marianne: Götter und Helden der Griechen. Mythos und historische Wirklichkeit, Bindlach 1975

Roth, Karl Heinz/ Papadimitriou, Zissis: Die Katastrophe verhindern. Manifest für ein egalitäres Europa, Hamburg 2013

Salzmann, Siegfried (Hrsg.): Mythos Europa. Europa und der Stier im Zeitalter der industriellen Zivilisation, Katalog zur Ausstellung der Kunsthalle Bremen 29. Mai bis 7. August 1988, Bremen 1988

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, Gütersloh und Leipzig 1887

Tripp, Edward: Lexikon der antiken Mythologie, Frankfurt/Main, Wien 1981