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Virtuelles Magazin 2000


Bei zusammenfassender Durchsicht dieser Industriefotografien heben sich Grundmuster der Gestaltung heraus, Stereotypen der Industrie und ihrer Fotografie, Netze abstrakter Bildorganisation. In den Strukturgittern fangen sich Realitätsfragmente. Sie bieten sich an zu formalem und historischem Vergleich. Sie demonstrieren in ihrer Vergleichbarkeit Industriegeschichte, politische Geschichte. Das Handwerk der Fotografin entwickelt eine Reihe von Bilder Typen, die in den vier Jahrzehnten ihrer Arbeit immer wieder auftauchen.

augenau

Sanitaswerke, Berlin, 1939
(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

 

Bei dem berühmten, melancholisch-heroischen Stahlarbeiterbild (Abb. S. 23), dem "Ritter der Arbeit" (Richard Hiepe) 17, eher "der letzte Ritter", Symbol einer untergehenden Spezies, entsteht der tiefsinnige Gesichtsausdruck wohl eher durch geduldiges Modellstehen vor einer studiomäßig hergerichteten Fabrikwand und einer lästig heizenden und grellen Nitraphotlampe, eine Fotoszene, die ein ebenfalls müde gewordener Arbeiter als Hilfskraft im Hintergrund beobachtet.

Erst durch seinen Wegschnitt bekommt das Bild den strittigen, absoluten Charakter eines Symbol Kunstwerks. Die reale Fotografiersituation, die gerade keine Arbeitssituation ist, geht so verloren und damit auch ihre spannungsreiche Widersprüchlichkeit. Ein professionelles Stimmig machen des Ausschnitts führt zu der gewünschten Verfügbarkeit unter Schwächung des Realitätscharakters, welcher jede Fotografie "gleichsam durchsengt", wie Waltert Benjamin es formuliert hat 18. Der Bildtyp des Arbeiterporträts findet sich bereits 1926 auf der Titelseite der AIZ Nr. 8 als "Spezialaufnahme für die AIZ von einem Arbeiterphotographen"; der messende, die Maschine beherrschende Arbeiter (Abb. 9). Bildaufbau, Schnitt, Lichtführung sind von professioneller Qualität und lassen mich im Zweifel über den Amateurstatus des Fotografen. Bis heute hat dieses Bild viele Enkel und Urenkel.

ritter

Traktorenfabrik Lanz, Mannheim, 1939
(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

textilsaal

Tuchfabrik Otten, Mönchengladbach, 1940
(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)



Um den perspektivischen Rhythmus in Produktion und Architektur herauszuarbeiten, legt die Fotografin den Fluchtpunkt oft an den Rand, schiebt ihn sogar aus dem Bild (Abb. S. 21 u. 35) - eine straffe Diagonal Komposition mit sich verkürzenden Vertikalen.

zeichensaal

Allgemeine Hoch- und Ingenieurbau AG, Düsseldorf, 1953
(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

durchsicht

Radiatorenfabrik Projahn, Waldbröhl, 1954
(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

 

Textilarbeitsflächen, Zeichenbretter, Hausfassaden und Fabrikfronten staffeln sich in die Tiefe, fluchten auf den Rand der Bildfläche (Abb.12). Menschen ordnen sich klein und unauffällig dazwischen oder verschwinden ganz. Wohnsiedlungen und Fabrikanlagen scheinen leergefegt (Abb.13).

hauser

Häuserreihen stellen sich dar als Massenprodukt aus den Bauingenieurbüros. Die Unterdrückung menschlicher Zufälligkeit, Individualität, Alltäglichkeit bringt deutlich den Industriecharakter einer genormten Gesellschaft zum Ausdruck. In den späten 50er Jahren, in welchen ein solches Siedlungsfoto entsteht, kann der Kanzler Ludwig Erhard mit dem positiven Affekt des Wahlkämpfers von einer "formierten Gesellschaft" in der Bundesrepublik sprechen.

Bilder schaffen Worte und umgekehrt, und beide nageln sich fest im Bewusstsein. Die Revolte der neuen Linken, der neuen Arbeiterfotografen und Alternativen steht zu Lebzeiten von Ruth Hallensleben noch aus.

fensterblick

Siegerdorfer Schamottewerke, Siegerdorf, 1943
(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)



Transparenz, Durchsicht als Aufsicht und Kontrolle von Menschen und Produktion charakterisiert einen weiteren Bildtyp.

Die Kamera blickt durch gläserne Steuerungs- und Werkmeisterkästen in die Fabrikhalle (Abb.14). In Identifikation mit der Aufsicht prüft sie über die Schulter hinweg.

Zur Segmentierung der Bildfläche werden Durchblicke, Maschinenöffnungen, Fenster, Türen genutzt, um eine Spannung zwischen Innen- und Außenfeldern herzustellen (Abb. S. 22, 27, 39 u. Rücktitel).

nazipause

(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

Bei der Verwendung der Zentralperspektive wird die zwanghafte Hermetik des hallenslebenschen Bildersystems besonders deutlich. Die Fluchtlinien führen nicht ins Freie (Abb. S. 30 u. Abb.8). Beim Bildtyp der perspektivischen Rhythmen liegt der Fluchtpunkt außerhalb der Bildfläche, so dass ein Entweichen des Blickes nur möglich wäre, wenn er das Bild selbst verlässt. Bei der zentralperspektivischen Komposition fixiert der Fluchtpunkt den Betrachter auf Herrschaftszeichen wie Hakenkreuz und Führerbild, in den 50er Jahren ersetzt durch Waldlandschaft in Öl. Auch bei den späten Kantinenbildern erscheinen die Räume geschlossen, die Menschen darin, offenbar einverständlich, eingesperrt. Wirken sie in den 30er und 40er Jahren eher familienartig, bierstubenhaft gemütlich versammelt unter der unbefragten Autorität des NS-Übervaters, so stehen sie in den 50er Jahren wie verloren und hilflos an den dünn- und schrägbeinigen, schwingenden Resopalkonstruktionen unter Sterntütenlampen eines entlastenden Designs (Abb.15).

pause

(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

Der politische Leerlauf dieser Zeit schafft sich seine Zeichen in verspielten Dekors, welche die Fotografin präzise registriert. Keine Betriebsratsankündigung, keine Ermahnungen zum Unfall- oder gar Umweltschutz an der Wand, aber auch keine Chefbilder unterbrechen den "Rösselsprung" (Morgenstern) der Tapete. Was sperren die Hallensleben-Bilder aus?

seherin

Kirschbrennerei & Likörfabrik. Schladerer Staufen/Breisgau. 1944
(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

 

Die Frage verlässt das Thema, die Antworten zeichnen jedoch durch Negativcharakteristik die Konturen dieser Fotografie noch einmal durch. Die allgemeine Antwort: Alles, was nicht Auftrag ist. Im Besonderen zeigen diese Bilder keine Individualität, weder des Arbeiters noch des Chefs, keine psychologische Zeichnung, keine Nöte und Deformationen durch Arbeitsverschleiss, politische und strukturelle Unterdrückung, keine Unmenschlichkeit der lebensvernichtenden Ausbeutung der KZ· und Ostarbeiter und Arbeiterinnen, keine Thematisierung von Arbeitshetze und Gesundheitszerstörung durch inhumane Arbeitsbedingungen und sicher keine Umweltvernichtung. Die Menschen auf den Bildern scheinen ihren Job ohne große Mühe zu bewältigen, sie wirken einverständlich, puppenhaft eingebunden in diese Welt ohne Ausblick. Persönliche Kontakte im Betrieb finden nicht statt, Privatleben taucht nur auf in Werkswohnungen nach den Happylife-Vorstellungen von Werksarchitekten und Familienplanem. Es handelt sich nicht um sozialdokumentarische Fotografie, nicht Arbeiterfotografie, Livefotografie oder gewerkschaftlich orientierte Betriebsfotografie. Es ist eine entwickelte Form der bis heute prägenden Industriefotografie im Auftrag des Unternehmens 19. Es ist Werksfotografie im Sinne einer in sich stimmigen, intakten, von keiner Seite bedrohten, geschlossenen Fabrikwelt, ein Produktionskosmos ohne Wackeln und Schwanken, eine fotografische Form für "Heile Welt", in der Kälte sich ausbreitet wie eine langsam wachsende Krankheit, bis zuletzt die Menschen verschwinden im Selbstlauf der Automaten. Rolf Sachsse nannte diese Frau eine "deutsche Fotografin" 20. Wenn Perfektion und Gradlinigkeit, ein "sieh nicht hin, sieh nicht her, sieh nur geradeaus" wie in einem Marikka-Röck-Schlager deutsch ist, hat er sicher recht.

waschraum

Fa. Eickhoff, Bochum, 1939
(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

titel

Dalliwerke, Stolberg, 1944
(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

 

Titelbild des Katalogs Ruth Hallensleben. Ruhrlandmuseum. Fotodokumente. Alle gezeigten Fotografien sind aus dem Bestand des Ruhrmuseums Essen, dem ich hiermit danke für die Zusendung.

Zitate:

1) Peter Panter (Kurt Tucholsky): Neues Licht (1930), in: Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie 11, München 1979, S. 243ff.

2) Kemp, a.a.O. S. 140

3) Heiner Kurzbein: Das Lichtbild im neuen Deutschland, Vorwort zu:

Willy Stiewe, Foto und Volk, Halle (Saale) 1933, S. 5

4) ,Die Kamera', Amtlicher Katalog und Führer, Berlin 1933, S. 27

5) Lothar Kräussl: Fotografie zwischen Handwerk - Kunsthandwerk Kunst. Die Geschichte und Entwicklung der ,Gesellschaft Deutscher Lichtbildner" seit 1919. Dissertationsschrift an der Universität Osnabrück, 1989, S. 91

6) Kräussl: a.a.O. S. 89

7) Diethart Kerbs u.a. Hg.: Die Gleichschaltung der Bilder, Pressefotografie 1930-36, Berlin 1983

8) nach Kah Jagals: Ruth Hallensleben -Industriefotografie, in: Ruth Hallensleben, Frauenarbeit in der Industrie, Hgg. v. Ursula Peters, Berlin 1985, S. 34

9) Mitteilungsblatt der Reichskammer der bildenden Künste 1937,6

10) Kurt Wehlau: Das Lichtbild in der Werbung für Politik, Kultur und Wirtschaft, Würzburg-Aumühle 1939, S. 59

11) Wehlau: a.a.O. S.190/91

12) Anette IIlenberger: Pressefotografie als Propagandamittel im Dritten Reich (1933-1939), Magisterschrift, München 1985, S. 66

13) s. auch Jörg Boström: Fotografie und Störfall, in: Hans-Jürgen Häßler, Christian von Heusinger (Hg.): Kultur gegen Krieg - Wissenschaft für den Frieden, Würzburg 1989, S. 322 ff.

14) Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1968

15) Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Fotografie, in: Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/M. 1963, S. 90

16) Richard Hiepe: Riese Proletariat und große Maschinerie, Erlangen 1983

17) Hiepe: a.a.O. S. 131

18) Benjamin: a.a.O. S. 71

19) Zum Menschenbild der Industriefotografie s. auch Reinhard Matz: Industriefotografie, Essen 1987, S. 52 ff.

20) in: Ruth Hallensleben: Frauenarbeit in der Industrie, a.a.O. S. 74

Abbildungen

Archivtechnische Angaben der mit (E) gekennzeichneten Abbildungen vergleiche Exponaten·Verzeichnis

1) Siegener Maschinenbau AG, Messestand, Hannover, 194917,5 x 12,9, sw, Reprint Inv.Nr. 86/1970, RH: 2/1822/5494, KB: 2 Y 8

2) Seidenweberei Bettmann, Rheydt, 194117,5 x 12,6, sw, Reprint Inv.Nr. 86/1971, RH: 2/241/8410, KB: 201

3) Vereinigte Stahlwerke AG, Düsseldorf, 1937 Inv.Nr. 86/1853 (E)

4) Westfälisch·Anhaltische Sprengstoff AG (Wasag), 1940 13,6 x 13,5, sw, Reproduktion, Inv.Nr. 86/1972, KB: Wasag

5) Radium Gummiwerke Köln, 195413,5 x 13,7, sw, Reprint, Inv.Nr.

86/1973, RH: 2/53311Y, KB: 2 Y 12

6) Radium Gummiwerke Köln, 195413,5 x 3,8, sw, Reprint, Inv.Nr.

86/1974, RH: 2/5327/Y, KB: 2 Y 12

7) Rheinpreußen AG für Bergbau und Chemie Duisburg-Homberg, 1956, Inv.Nr. 86/40 (E)

8) Chemische Fabrik Bremer, Klaffenbach i. E., 1940, 17,2 x 12,4, sw, Reproduktion, Inv.Nr. 86/1977

9) Arbeiter·lllustrierte Zeitung, Nr. 8,1926

10) Strumpffabrik Ewers Medebach, 196617,5 x 13,1, sw, Reprint Inv.Nr. 86/1975, RH: 2/5158/366 x, KB: 2 X 17

11) Rembrandt, Der Arzt Nicolaas Tulp bei der Demonstration der Anatomie des Armes, 1632, Den Haag, Mauritshuis, entnommen aus: Horst Gerson, Rembrandt, Gemälde, Gütersloh, 1969, Abb.l00, S.255

12) Thyssen AG, Duisburg-Hamborn, 1955, Inv.Nr. 86/1954 (E)

13) Rheinpreußen AG für Bergbau und Chemie, Duisburg·Homberg, 1956 I nV.N r. 86/1916 (E)

14) Gladbacher Wolle AG, Mönchengladbach, 1940, 17,5 x 13,2, sw, Reprint, Inv.Nr. 86/1976, RH: 2/518/840 Y, KB: 2 Y 2

15) Rheinpreußen AG für Bergbau und Chemie, Duisburg-Homberg, 1957, Inv.Nr. 86/1902 (E)

 

Datum: Freitag, 22.02.2013 Uhrzeit: 19:00 Uhr

Vortrag "Ruth Hallensleben und die Henrichshütte" von Jörg Boström

In Ruth Hallenslebens Fotografien steht laut Prof. Jörg Boström der Industrieprozess im Mittelpunkt und nicht der Mensch.

Veranstalter: LWL Industriemuseum Henrichshütte,

Tel. (0 23 24) 9 24 70

Ort: LWL Industriemuseum Henrichshütte, Werksstraße 31-33, Hattingen

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