- Dass die Gänsehaut als religiöses Phänomen kein Fall von Gestern ist, zeigen uns anthropologische Berichte von Gesellschaften, die noch heute bewusst und gezielt mit Ekstasetechniken und Trance arbeiten um erweiterte Bewusstseinszustände zu erreichen. Berichte über ekstatische Zustände, bei denen Gänsehaut beobachtet wurde, gibt es z.B. aus dem indischen Bengalen; aus Mikronesien, einem Inselstaat im westlichen Pazifik; und aus Südamerika, wo das Prickeln oft Anzeichen für die Präsenz nicht-menschlicher Mächte und mit bestimmten Seelenzuständen verbunden ist.
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- Ganzheitliche Heilung durch Prickeln
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- Wir sehen, dass dieses Prickeln in verschiedenen spirituellen Richtungen mit Ekstase und veränderten Bewusstseinszuständen einhergeht. Es ist also Teil einer Entwicklung, die negative menschliche Bedingungen überwinden und Heilung für Körper und Geist herbeiführen will. Wenn wir Bewusstseinsentwicklung als ganzheitliche Heilung verstehen, worin liegt dann die heilende Wirkung des Prickelns?
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- Ein gutes Bild für die ganzheitliche Betrachtung ist es, das Prickeln als Energie zu beschreiben, die aus unserem Körper fliesst. Dies entspricht auch der ayurvedischen Sicht, die die Natur des Phänomens mit einem erhöhten vata dosha in Verbindung bringt, also mit dem Wind- oder Ätherzustand und somit mit feinstofflichen, geistigen Energien. Das Prickeln wäre demnach ein Ausscheiden von überschüssiger Energie, und zwar auf einer feinstofflichen Ebene (vata). Als ausfliessende innere Energie deutet dies auf die Beseitigung von Blockaden, Ausschaffung von "Schlacken" und Kühlung - genau so wie das Ausscheiden von Körperflüssigkeiten (Schwitzen, Urinieren etc.) auf gröberen Ebenen (pitta und kapha) für Reinigung und Kühlung sorgt.
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- Unsere westliche Medizin schreibt der Gänsehaut bisher keine solche reinigende und kühlende Wirkung zu. Dies wohl deshalb, weil das Phänomen stets zusammen mit den Symptomen von verschiedenen Erkrankungen beobachtet wurde, oft mit den Symptomen von Infektionskrankheiten. Daher gilt das Prickeln wie etwa das Kältegefühl, die Ohnmacht, Schwindel, Taubheit und andere Beeinträchtigungen als negative Auswirkung der Krankheit, die selbst keinen Beitrag zur Genesung leistet. Doch gerade bei Infektionskrankheiten gibt es Hinweise darauf, dass es wie das erhitzende Fieber nicht ein Symptom, sondern im oben genannten Sinn eine Abwehrreaktion des Körpers ist: Erwähnt sei hier die Tatsache, dass gewisse Medikamente dieses Prickeln verursachen können. Ganzheitlich interpretiert: der Heileffekt liegt gerade auch (oder vor allem?) darin, dass der Wirkstoff die Energie im Körper zum Fliessen bringt um die Krankheit u.a. durch das Prickeln herauszuschaffen. Zudem gibt es bereits vereinzelte statistische Studien, die auf die Möglichkeit eines noch nicht erforschten gesundheitlichen Nutzens von "chills" (engl. für "Frösteln", die meistens mit Zittern und Prickeln einhergehen) hinweisen: So wurde festgestellt, dass Fieber-Patienten mit Blutvergiftung, die "chills" aufweisen, höhere Überlebensraten haben gegenüber solchen Patienten, die keine "chills" erleben. Die Forscher vermuten, dass "chill"-Patienten allgemein effektiver auf die Krankheit antworten können.
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- Auch auf einer mehr psychologischen Ebene wirkt das Prickeln reinigend, im Sinne einer Katharsis: Es werden innere Spannungen bewusst gemacht und aufgelöst. So ist es in Angstsituationen die Energie der Angst, die wir durch unseren Körper abgeben. Mit zunehmendem Fortschritt bleibt das Zittern und Herzklopfen auf diese Weise aus. Dabei gelingt es uns nicht nur, ruhig und gefasst zu bleiben, sondern wir können sogar lernen, diese Energie zu geniessen - die Angst verliert ihre Macht über uns. Auch das Prickeln im Kopf, das bei sehr intensiver Wut spürbar wird, wirkt wie ein Ventil und lässt uns sofort ruhig und gelassen werden. Auf diese Weise haben wir die Aggression nicht verdrängt, sondern auf die richtige Weise aus dem Körper fliessen lassen, ohne sie emotional auszuleben - wir haben die Wut überwunden. Gleiches passiert bei starker Zuneigung in der Liebe oder beim Sex. Ein Gespräch mit einem sympathischen Mensch kann in uns ein schönes entspannendes Prickeln verursachen, das uns den Moment frei von beklemmenden Zwängen und Begehrlichkeiten geniessen lässt. Und für diejenigen, die ihre sexuelle Kraft bewusst umzuwandeln versuchen, wird ein vermehrtes Sträuben der Härchen auf das Ausströmen von sexuell freigewordener Energie hinweisen - ein ekstatischer Ganzkörperorgasmus, der den Körper entspannt, stärkt und die unmittelbare Umwelt schön und freudig macht. In all diesen Fällen hilft uns das Prickeln, emotionale Spannungen bewusst zu machen, aufzulösen und als reine Energie abzugeben, ohne dass wir uns in Abhängigkeiten verstricken. Neuropsychologische Studien bestätigen dies indirekt, wenn sie in Erfahrung brachten, dass Gänsehaut mit erhöhter Aufmerksamkeit und positiven Einschätzungen sowie mit einer verminderten Angst und Abneigung einhergeht.
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