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Floco Tausin
 
Prickelnde Gesundheit
Vom Haaresträuben zur ganzheitlichen Heilung
 
 
 
Wer kennt es nicht, das Prickelns auf der Haut, bei dem sich die Körperhärchen aufstellen? Oft geht dieses Gefühl einher oder wird gleichgesetzt mit Frösteln, Schauer und bestimmten emotionalen Zuständen. Weil die Haut dabei so hügelig wie bei einer gerupften Gans aussieht, sprechen wir von "Gänsehaut". Kaum bekannt ist dagegen, dass es eine gesundheitliche und spirituelle und Bedeutung hat, im Sinne einer ganzheitlichen Reinigung des materiellen, emotionalen und gedanklichen Körpers. Dies legen sowohl medizinische Studien nahe, sowie die Erfahrungen von spirituellen Meistern verschiedener Kulturen.
 
 
Die spirituelle Bedeutung des Prickelns
 
Es mag nicht sofort verständlich sein, wie die Gänsehaut, die wir im Alltag oft beim Frösteln oder in Schreckensmomenten erleben, eine spirituelle Bedeutung haben kann. Unsere heilige Schrift, die Bibel, kennt das Phänomen nur im Zusammenhang mit Furcht und Schrecken: "Und ein Hauch fuhr an mir vorüber; es standen mir die Haare zu Berge an meinem Leibe. Da stand ein Gebilde vor meinen Augen, doch ich erkannte seine Gestalt nicht." (Hiob 4,15-16) Auch unsere westliche Medizin gibt darauf keinen Hinweis. Nach der gängigen Ansicht der Mediziner handelt es sich bei der Gänsehaut um ein funktionslos gewordenes Überbleibsel aus der fernen Vergangenheit: Denn als die Menschen noch dicht behaart waren, habe das Aufstellen der Haare gegen die Kälte geschützt - und sei zudem, wie bei Tieren noch heute, eine Drohgebärde in Kampfsituationen gewesen, denn der Mensch wirkte dadurch grösser und bedrohlicher. Für uns heutige Menschen dagegen sei dieses Prickeln ohne Nutzen.
 
Andere Kulturen sowie manche religiöse und spirituelle Richtungen weisen auf eine andere Seite dieses Phänomens hin: Die Gänsehaut geht nämlich häufig einher mit meditativen oder ekstatischen Zuständen, oft bei tiefer hingebungsvoller Liebe zu einer Gottheit. Das ist für uns gar nicht so schwer nachzuvollziehen, wenn wir uns daran erinnern, dass wir dieses Prickeln ja auch in sehr schönen Momenten erleben: Sei es beim Hören von harmonischer Musik, beim Sehen von stimmungsvollen Naturerscheinungen und vor allem im Zusammensein mit einem geliebten Menschen.
 
Gerade bei der Liebe und der Sexualität ist das Prickeln auf der Haut das Resultat eines bewussteren Erlebens. Das Kamasutra zum Beispiel, das indische Lehrbuch der körperlichen Liebe, lehrt eine bestimmte Art der Berührung, die das Prickeln auslösen soll. Und der Ausdruck "Hautorgasmus" oder "Ganzkörperorgasmus" für ein entspannendes und beglückendes Prickeln, zeigt die enge Verbindung von Sexualität und diesem Phänomen. Kein Wunder, konnte der Psychologe J. Panksepp neurochemische Ähnlichkeiten im Nervensystem bei einem Prickeln und einem geschlechtlichen Orgasmus feststellen.

Bild 1: Prickelnde Berührung nach dem Kamasutra

Jetzt verstehen wir die tiefere Bedeutung, die dieses Prickeln für viele spirituelle Meister hat: Anstelle der Liebe zu einem Menschen tritt die Liebe zu Gott. Anstelle eines geschlechtlichen Orgasmus tritt der prickelnde Ganzkörperorgasmus. So wird dieses Phänomen in der religiösen Literatur als Erscheinung bei tiefer Kontemplation, Meditation und Ekstase erwähnt. In den Epen und Legenden der Hindus beispielsweise kommt es oft bei grossen Helden, Yogis und Göttern vor, sobald sie edle göttliche Gestalten erblicken oder zeitlose Wahrheiten vernehmen. Ein berühmtes Beispiel ist Arjuna, der Held der Bhagavadgita: Seine Haare sträuben sich als er die wahre Natur seines Wagenlenkers, dem Gott Krishna, erkennt. Später findet das Prickeln Eingang in den buddhistischen Abhidamma, den jüngsten Teil des Pali-Kanons. Hier zeigt es eine bestimmte Stufe der Meditation an, die auf das Stillwerden der Gedanken folgt: Es ist Teil einer den ganzen Körper durchdringenden, überwältigenden Freude (priiti), die in ihrer Intensität bis zur völligen Verzückung reichen kann. Im 4. Jh. schreibt der Kirchenvater und Mystiker Augustinus von einem heiligen Schauer, der ihn plötzlich überfiel und ihn das unsichtbare Wesen der Schöpfung Gottes erkennen liess. Und der islamische Mystiker al-Qusayri bezeichnet im 11. Jh. die Demut (tawadu) als ădie Gänsehaut, die das Herz plötzlich überläuft, wenn die Enthüllung der Wahrheit hereinbricht.“

Bild 2: Arjunas Haare sträuben sich bei der Betrachtung der wahren Natur Krishnas
Quelle: Harsh K. Luthar, Ph.D.,
The Hindu Epic Mahabharata: Krishna as a Transformational Servant-Leader

Dass die Gänsehaut als religiöses Phänomen kein Fall von Gestern ist, zeigen uns anthropologische Berichte von Gesellschaften, die noch heute bewusst und gezielt mit Ekstasetechniken und Trance arbeiten um erweiterte Bewusstseinszustände zu erreichen. Berichte über ekstatische Zustände, bei denen Gänsehaut beobachtet wurde, gibt es z.B. aus dem indischen Bengalen; aus Mikronesien, einem Inselstaat im westlichen Pazifik; und aus Südamerika, wo das Prickeln oft Anzeichen für die Präsenz nicht-menschlicher Mächte und mit bestimmten Seelenzuständen verbunden ist.
 
 
Ganzheitliche Heilung durch Prickeln
 
Wir sehen, dass dieses Prickeln in verschiedenen spirituellen Richtungen mit Ekstase und veränderten Bewusstseinszuständen einhergeht. Es ist also Teil einer Entwicklung, die negative menschliche Bedingungen überwinden und Heilung für Körper und Geist herbeiführen will. Wenn wir Bewusstseinsentwicklung als ganzheitliche Heilung verstehen, worin liegt dann die heilende Wirkung des Prickelns?
 
Ein gutes Bild für die ganzheitliche Betrachtung ist es, das Prickeln als Energie zu beschreiben, die aus unserem Körper fliesst. Dies entspricht auch der ayurvedischen Sicht, die die Natur des Phänomens mit einem erhöhten vata dosha in Verbindung bringt, also mit dem Wind- oder Ätherzustand und somit mit feinstofflichen, geistigen Energien. Das Prickeln wäre demnach ein Ausscheiden von überschüssiger Energie, und zwar auf einer feinstofflichen Ebene (vata). Als ausfliessende innere Energie deutet dies auf die Beseitigung von Blockaden, Ausschaffung von "Schlacken" und Kühlung - genau so wie das Ausscheiden von Körperflüssigkeiten (Schwitzen, Urinieren etc.) auf gröberen Ebenen (pitta und kapha) für Reinigung und Kühlung sorgt.
 
Unsere westliche Medizin schreibt der Gänsehaut bisher keine solche reinigende und kühlende Wirkung zu. Dies wohl deshalb, weil das Phänomen stets zusammen mit den Symptomen von verschiedenen Erkrankungen beobachtet wurde, oft mit den Symptomen von Infektionskrankheiten. Daher gilt das Prickeln wie etwa das Kältegefühl, die Ohnmacht, Schwindel, Taubheit und andere Beeinträchtigungen als negative Auswirkung der Krankheit, die selbst keinen Beitrag zur Genesung leistet. Doch gerade bei Infektionskrankheiten gibt es Hinweise darauf, dass es wie das erhitzende Fieber nicht ein Symptom, sondern im oben genannten Sinn eine Abwehrreaktion des Körpers ist: Erwähnt sei hier die Tatsache, dass gewisse Medikamente dieses Prickeln verursachen können. Ganzheitlich interpretiert: der Heileffekt liegt gerade auch (oder vor allem?) darin, dass der Wirkstoff die Energie im Körper zum Fliessen bringt um die Krankheit u.a. durch das Prickeln herauszuschaffen. Zudem gibt es bereits vereinzelte statistische Studien, die auf die Möglichkeit eines noch nicht erforschten gesundheitlichen Nutzens von "chills" (engl. für "Frösteln", die meistens mit Zittern und Prickeln einhergehen) hinweisen: So wurde festgestellt, dass Fieber-Patienten mit Blutvergiftung, die "chills" aufweisen, höhere Überlebensraten haben gegenüber solchen Patienten, die keine "chills" erleben. Die Forscher vermuten, dass "chill"-Patienten allgemein effektiver auf die Krankheit antworten können.
 
Auch auf einer mehr psychologischen Ebene wirkt das Prickeln reinigend, im Sinne einer Katharsis: Es werden innere Spannungen bewusst gemacht und aufgelöst. So ist es in Angstsituationen die Energie der Angst, die wir durch unseren Körper abgeben. Mit zunehmendem Fortschritt bleibt das Zittern und Herzklopfen auf diese Weise aus. Dabei gelingt es uns nicht nur, ruhig und gefasst zu bleiben, sondern wir können sogar lernen, diese Energie zu geniessen - die Angst verliert ihre Macht über uns. Auch das Prickeln im Kopf, das bei sehr intensiver Wut spürbar wird, wirkt wie ein Ventil und lässt uns sofort ruhig und gelassen werden. Auf diese Weise haben wir die Aggression nicht verdrängt, sondern auf die richtige Weise aus dem Körper fliessen lassen, ohne sie emotional auszuleben - wir haben die Wut überwunden. Gleiches passiert bei starker Zuneigung in der Liebe oder beim Sex. Ein Gespräch mit einem sympathischen Mensch kann in uns ein schönes entspannendes Prickeln verursachen, das uns den Moment frei von beklemmenden Zwängen und Begehrlichkeiten geniessen lässt. Und für diejenigen, die ihre sexuelle Kraft bewusst umzuwandeln versuchen, wird ein vermehrtes Sträuben der Härchen auf das Ausströmen von sexuell freigewordener Energie hinweisen - ein ekstatischer Ganzkörperorgasmus, der den Körper entspannt, stärkt und die unmittelbare Umwelt schön und freudig macht. In all diesen Fällen hilft uns das Prickeln, emotionale Spannungen bewusst zu machen, aufzulösen und als reine Energie abzugeben, ohne dass wir uns in Abhängigkeiten verstricken. Neuropsychologische Studien bestätigen dies indirekt, wenn sie in Erfahrung brachten, dass Gänsehaut mit erhöhter Aufmerksamkeit und positiven Einschätzungen sowie mit einer verminderten Angst und Abneigung einhergeht.

Bild 3: Der Medizin-Buddha: Heilt er mit seiner aus dem ganzen Körper ausstrahlenden ekstatischen Kraft?
Quelle:
http://www.dharma-media.org

Das Prickeln hat also im Sinne einer ganzheitlichen Reinigung einen heilenden Aspekt, der von der Spiritualität nicht zu trennen ist. Was in unserer Schulmedizin allmählich zur Erkenntnis wird, haben spirituelle Meister verschiedener Richtungen vorgelebt: Das entspannende Prickeln auf der Haut, das sich durch eine entsprechende Lebensweise bis zur Ekstase steigern lässt, ist aus dem Körper fliessende Energie. Sie macht uns glücklich und bewusst, und lässt uns das Leben geniessen und bejahen.
 
 
 
Floco Tausin
www.mouches-volantes.com
 
 
 
Quellen und Literatur
 
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Becker, Judith O.: Deep Listeners: Music, Emotion and Trancing, (Info University Press) 2004
 
Figge, Horst H.: Geisterkult, Besessenheit und Magie in der Umbanda-Religion Brasiliens, (K. Alber) 1973
 
Goodenough, Ward H.: Under Heaven’s Brow: Pre-Christian Religious Tradition in Chuuk, Philadelphia 2002
 
Grewe, Oliver u.a.: How Does Music Arouse "Chills"? Investigating Strong Emotions, Combining Psychological, Physiological, and Psychoacoustical Methods, in: Neurosciences and Music III: From Perception to Performance. Annals of the New York Academy of Sciences 1060 (2005), S. 446-449
 
Guenther, Herbert V.: Philosophy and Psychology in the Abhidharma, Delhi 1974
 
Hartmann, Richard: Das Sufitum nach Al-Kuschairi, (J. J. Augustin) 1914
 
McDaniel, June: The Madness of the Saints. Ecstatic Religion in Bengal, Chicago 1989
 
Panksepp, J.: The emotional sources of "chills" induced by music, in: Music Perception 13 (2, Winter 1995), S. 171-207
 
Spitzer, Manfred: Musik im Kopf, Stuttgart 2002
 
Tausin, Floco: Mouches Volantes. Die Leuchtstruktur des Bewusstseins, Bern 2004
 
Van Dissel, Jaap T. u.a.: Chills in "early sepsis": good for you?, in: Journal of Internal Medicine 2005, 257, S. 469-472
 
http://www.spektrumdirekt.de/artikel/591742