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Christiane Heuwinkel
 
Martin Brockhoff - Surface
 
Kunsthalle Bielefeld, Studiengalerie
8.12.2004 - 27.2.2005
 
 
Das Unsichtbare sichtbar machen
 
 
Von einem Freund bekommt der Fotograf Martin Brockhoff einen alten Film geschenkt, den dieser beim Entrümpeln im Keller fand. Er hatte seinem längst verstorbenen Großvater gehört. Der Kodakfilm aus Wehrmachtsbestand trägt auf der Pappverpackung gedruckt das Mindesthaltbarkeitsdatum Mai 1940. Die Tageslichtpatrone "Feinkorn Panatomic F 135" mit der Empfindlichkeit von 16 DIN und einer Kapazität von 36 Einzelbildern trägt den Aufkleber "Übungspatrone - Ausschußfilm". Ob der Großvater, der im Zweiten Weltkrieg Wehrmachtssoldat war, sie nicht gebrauchen konnte oder wollte, ob sie für einen Kriegsfotografen in der Ausbildung gedacht war oder anderen Zwecken dienen sollte, ist nicht mehr zu klären. Über 60 Jahre später entwickelt und vergrößert Martin Brockhoff das über Jahrzehnte vergessene Filmmaterial für eine Kleinbildkamera. In der vergilbten, eingerissenen "Gebrauchsanweisung zur ’Kodak’ Filmpatrone für ’Retina’ etc." ist zu lesen, dass das panchromatische Material nur in völliger Dunkelheit zu verarbeiten sei. Über die Jahrzehnte hinweg sind jedoch Licht, Staub und Mikroben eingedrungen und haben ihre Spuren auf dem Schwarzweiß-Negativmaterial hinterlassen. Das Licht hat eine Art Horizontlinie in das Filmband eingeschrieben. Staub und Mikroben haben graubräunliche Farbspuren hinterlassen. Es scheint, als habe die Zeit selbst das Bild gestaltet, als habe die Geschichte sich als Schichtung aus Staub und Bakterien auf dem Material abgesetzt. Wie in den legendären time capsules von Andy Warhol ist in dieser Filmpatrone die Zeit eingeschlossen. In ihr und auf dem Film verdichtet sich Geschichte. Nicht als Einzelbild, das ja nur einen Moment, einen Ausschnitt von Realität festhalten kann, erleben wir Historie, sondern als Zeitschiene und Zeitfluss. Statt einer vorstellbaren Folge von Testbildern mit Wehrmachtsangehörigen, von Truppenübungsplätzen, Kriegsschauplätzen oder Erinnerungsschnappschüssen sehen wir eine abstrakte, farbige Struktur. Die von Martin Brockhoff in vier Segmente aufgeteilten Filmvergrößerungen erinnern an Landschafts- und Wolkenformationen, aber auch an Aufnahmen von urzeitlichen Eismeeren oder Flusslandschaften. Die Strukturen wirken stellenweise klar, präsent und eindeutig, aber auch nebulös und verschwommen. In der Materialität des Films scheinen Erinnerungsmomente, Zeit-Schichten, die Zeit und die Geschichte selbst aufgehoben worden zu sein. Brockhoffs Präsentation der Materialität des überlagerten Films ist sein Versuch, das Unsichtbare sichtbar zu machen.

Die Struktur der Filme kann durch Anklicken vergrößert betrachtet werden.

Das Nichts fotografieren
Mit einer Großformatkamera fotografiert Martin Brockhoff den Himmel - in Schwarzweiß. Nicht ein farbbrillantes Abbild des ’strahlenden Azurs’, das unendliche Firmament oder die Schönheit von Wolkenformationen interessieren ihn, sondern die Art, wie die technische Apparatur der Laufbodenkamera sich selbst ins Bild hineinsetzt. Auf den ersten Blick wirken die monochrom grauen Bilder ein-tönig. Dann erkennt das Auge minimale Helligkeitsabstufungen, Himmelsspuren sozusagen, aber auch die Vignettierung, die kreisförmige Abdunkelung zum Rand hin - eine Gegebenheit der fotografischen Apparatur. Mit 20 x 25 cm großen Diapositiven fotografiert Martin Brockhoff das Licht und dessen Spuren auf dem Papier. Ein Nebeneinander von mittelgrauen Himmelsfotografien, die beinahe identisch wirken, kombiniert er mit dem Gegenüber eines fast schwarzen und eines fast weißen Himmels. Als "Versuch, das Nichts zu fotografieren", stellt er diese vierteilige Arbeit vor. Denn tatsächlich sehen wir vier Variationen von Grauabstufungen, die keinen Bezug zur Außenwelt zu haben scheinen. In ihrer Zeit- und Ortlosigkeit scheinen diese Fotoarbeiten neben dem "Nichts" des Bildgegenstandes doch auch das "Alles" zu enthalten. Brockhoff ist sich bewusst, dass auch das angebliche Abbild in der Fotografie immer ein Konstrukt ist. Und so kann eine Fotoarbeit, die sich dem unmittelbaren Bildeindruck, der Sichtbarkeit des Bildes, zu verweigern scheint, sehr viel in sich tragen, das "Alles" in seiner Möglichkeitsform.

Die Hecken
"Viele Gründe sprechen für eine Hecke. Hecken sind eine Bereicherung für jeden Garten, für das Ortsbild, für die Landschaft. Sie erfreuen uns durch das lebendige Farbenspiel des Laubes, der Blüten und der Zweige ihrer verschiedenen Einzelpflanzen. Sie gewähren uns Schutz vor neugierigen Blicken, dämpfen den Straßenlärm und filtern Staub aus der Luft. Sie dienen als Windschutz, Schattenspender und vielleicht sogar als Früchtelieferant." Soviel lesen wir auf der Website Thuja-Lebensbaum.de über den banalen Bildgegenstand in Martin Brockhoffs 5-teiliger Serie "Hecken". Lebensbaumhecken, die "immergrün, immissions- und stadtklimafest" sind und in gepflegten Vorgärten gern meterweise als "Begrenzungsgrün" eingesetzt werden, wie der Gartenspezialist John Langley an dieser Stelle schreibt, zeigt Brockhoff als undurchdringliche Sichtblenden. In Augenhöhe, mit der wohl kühlsten aller möglichen Kamerapositionen, der dokumentarisch planparallelen Perspektive fotografiert er das widerstandsfähige Grün. Wie in der Reprofotografie mit ihrem Ziel der maßstabgenauen Abbildhaftigkeit negiert Brockhoff in dieser En face-Gegenüberstellung die gestalterischen Möglichkeiten der Fotografie, die in der dynamischen Perspektive, der Schärfe und Unschärfe, den Verwischungen, Über- und Unterbelichtungen liegen und zeigt die Hecke pur. Paradoxerweise ermöglicht Brockhoffs Negation der klassischen Bildsprache erst die Sichtbarkeit. Im Beharren auf der Oberfläche seines Bildgegenstands liegt dessen Durchdringung. Seine Hecken haben keine Wurzeln oder Spitzen, sie sind ortlos, anonym, bizarr in ihrer Eintönigkeit. Die frisch geschorenen Oberflächen bieten dem Auge keinen Halt und keinen Durchlass, nur Abwehr. Die leisen Varianten, die wir nach und nach entdecken, verirrtes Laub, das sich in den schuppenartigen Blättern verhakt hat und verdorrt, einzelne herausragende Triebe, die sich der Präzisionsheckenschere verweigert zu haben scheinen, unterstreichen noch die Tristesse des Ganzen. Wie ein übler Scherz wirkt der botanische Name "morgenländischer Lebensbaum" (Thuja orientalis) für eine der leblosesten Pflanzen des Abendlandes. Dass dieses Zypressengewächs in seinen Zweigspitzen, Zapfen und dem Holz zudem noch das Nervengift Monoterpen Thujon beheimatet, verwundert dann nur noch wenig.

Surface - en face - en ciel
Mit seinen zwölf für die Kunsthalle konzipieren Fotoarbeiten bewegt sich Martin Brockhoff zwischen Sichtbarkeit, Ein-Sicht und Sicht-Schutz. Er versucht, das "Nichts" und das "Alles" zu fotografieren. Das Medium, das eigentlich dafür geschaffen zu sein scheint, den Augenblick festzuhalten, nutzt er als Möglichkeit, Geschichte und lange Zeiträume sicht- und imaginierbar zu machen. Die Ansicht der Unsichtbarkeit des Himmels wird zu einer Reflexion über die Bedingtheiten des Mediums Fotografie. In streng dokumentarischer Gegenüberstellung verlieren seine Hecken jeden Realitätsbezug und werden zu abstrakten Rapporten. Als "Oberflächen" interessieren ihn die körperhafte Materialität des Films wie die fotografische Apparatur oder die undurchdringbar scheinenden Hecken. Seine Kamera richtet sich dabei sozusagen von nach unten nach oben: Von der Aufsicht auf den Film als Material und Geschichte bewegt sie sich im 90 Grad-Winkel gekippt nach vorn, ausgerichtet auf die Hecken und die Gegenwart, und richtet sich um weitere 90 Grad gekippt nach oben in den Himmel, in die Unendlichkeit: Surface - en face - en ciel.

http://www.kunsthalle-bielefeld.de

 

 

Martin Brockhoff, geboren 1961 in Altena/Westfalen, freier Fotograf in Bielefeld
2002 Marta-Hoepffner-Preis für Fotografie

http://www.fotobuero.de