Zum InhaltsverzeichnisVirtuelles Magazin 2000 

Jörg Boström

Vorläufiges Requiem für eine Zeitung

Man hört, das Stadtblatt sei nicht liquide, daher hätte man es liquidiert. Da die ersten Versuche als Layoutkonzept noch am Fachbereich Design an der Sparrenburg als Diplomarbeit entstanden, da viele Fotografen aus eben diesem Hause dem Blatt immer wieder optisches Leben einbliesen, da ich gelegentlich dafür geschrieben habe und auch darin zur Pensionierung mit meinen Kollegen ausführlich erwähnt wurde unter der beeindruckenden Überschrift "Ende einer Ära", gebe ich nun diese Formulierung mit leichter Rührung zurück. Auch mit dem Stadtblatt endet eine Ära der alternativen, freien, frechen Presse in Bielefeld und nicht nur da - aus studentischem, feministischem und grünlich-linkischem Lager und damit auch ein Stück Vielfalt in der Presselandschaft. Das Bielefelder Stadtblatt sollte im Zuge des "Medienoptimismus" (Enzensberger) der 68er Initiativen eine Veränderung der Gesellschaft auch über alternative Medien erreichen. Nun ja. Schön war die Zeit und kämpferisch. Kämpfen wir weiter - mit andern Blättern, Netzen, Formaten. Der Rest des Lebens wäre sonst nur schwer zu ertragen. Als vorläufige Totenrede setze ich einen Vortrag ins virtuelle Magazin, den ich anlässlich einer Ausstellung von Stadtblattfotografie in der Bielefelder Stadtbibliothek gehalten habe, und zwar

Zur Ausstellung 20 Jahre Bielefelder Stadtblatt

Wie redet man eine Zeitung an? Liebes Stadtblatt ? So lieb ist es gar nicht. Auf den Plakaten zu dieser Ausstellung stehen die Lock- und Schockworte Angst, Wut und Dreck. Verehrtes Organ? Es gibt Organe, die ich mehr verehre. Hallo paper. Es ist doch kein Blatt nur für die twenty-somethings. Ich frage nach positiven Signalen für die fifty-somethings, für unsereinen, man versichert mir, die gäbe es, Heimat, Liebe, Glück, Zukunft, auch dieses fände sich auf den Plakaten - aber mit welchen Bildern? Dieses Blatt ist gerade mal selbst ein twenty-something geworden. Heute nennt man diese Leute die Generation X.

Das Bielefelder Stadtblatt ist so etwas wie eine alternative Zeitung. Alternative Zeitungen sind rückläufig, wie wir wissen. Gestorben ist der Frankfurter Pflasterstrand, die Kölner Volkszeitung. Die meisten ihrer Genossinnen stecken sanft im Heldenkoma. Das Bielefelder Stadtblatt gehört zu den Überlebenden unter den Medien der 70er Protestbewegung. Warum gibt es diese Zeitung immer noch? Warum erscheint sie immer wieder? Da ich über fotografische Bilder spreche, behaupte ich, es liegt (auch) an der Fotografie. Und die ist oft voll daneben, neben dem Erwarteten. Anders als in der alltäglichen Tageszeitung geraten immer wieder Bilder zum Kopfschütteln ins Layout, Bilder für Menschen, die auch mit den Augen denken. Visuelle Alternativen eben.

Auf einem dieser Fotos steht ein Mann, besser ein Anzug in gebückter Haltung, in dem offenbar ein Mann steckt, denn man sieht nur seine rechte Hand, die aus dem Jackenärmel ragt. Der Kopf steckt im Busch. Was sieht der Mann? Versteckt er sich vor der Kamera? Ist das ein Mensch auf der Suche ganz allgemein oder sucht er nur seinen Zwergpudel, seinen Schlüssel? Im Gestrüpp, im Blättergespinst verhakelt sich sein Blick. Ein Vogelstrauß ohne Sand. Hat er sich nur in den Busch gebückt, um Uschi Dresing dieses Bild zu erlauben? Ist er tief in Gedanken und mag sie nicht mehr sehen, die ewig gleiche, durchstrampelte Fußgängerzone? Welche Visionen ermöglicht ihm das Abtauchen ins Grüne, und sei es, wie hier, nur mit dem Kopf? Kann ein solcher Mensch, der die Augen der Gewohnheit durch Blätter und Geäst verschließen lässt, vielleicht zu gänzlich neuen Erkenntnissen und Gedanken finden? Er steht links von der Mittelachse, nach rechts gebückt bis in die Waage seines Rückens, die fortgeführt wird durch den nach links horizontal über das Verbundpflaster laufenden, hellen Abflussstreifen, der seinen Hintern stützt wie ein Stab oder aber aus ihm schießt wie ein Furz. Das Bild ist zweigeteilt komponiert, senkrechte Mittelachse, links Pflastersteine der Fußgängerzone, rechts Textilkleidung und Blätterwald, Leere gegen Fülle. Der Mann muss eine Optik haben wie ein Spatz, der durchs Geäst hüpft. Ich sehe was, was du nicht siehst, ein spannendes Kinderspiel. Es ist ein Spiel auch für Fotografen. Was bewegt die Fotografin, den Auslöser der Kamera zu betätigen? Das Bild gehört in eine Reihe satirischer Darstellungen zum Thema "Männer". Ich merke erschrocken, dass ich mich als Mann mit diesem männlichen Menschen identifiziere, der da sein Gesicht in die Büsche schlägt, selbst zum Gegenstand der Satire werde, dass ich mir wirre Pflanzenwelten vorstelle, die ihm da statt der gepflasterten Innenstadt um den Kopf strudeln, dass ich mir seine Position gut vorstellen kann - gelegentlich - den Hintern der Geschäftswelt zugetan und den Kopf da, "wo Finsternis aus dem Gesträuche mit hundert schwarzen Augen sah," was den liebeskranken Goethe im Gedenken an Friederike auch faszinierte. Nun hat die Fotografin, die den einzelnen Mann durchaus schätzen kann, die "Männer" als Spezies im Visier und amüsiert sich in distanziertem Feminismus über diese Hälfte der Menschheit. Ich werde diesen Mann und sein Foto nun verlassen. Er wird sicher bald von seiner Frau gerufen: "Wo bleibst du denn?" Er wird nun wieder vernünftig aus dem Bild treten, unter ihrer Anleitung den Kopf erheben und in die textilen Kollektionen der Fußgängerzone eintauchen oder in das Schuhangebot.

Wenn ich über Fotografien rede, die denken können, muss ich gelegentlich auch über die Menschen reden, die sie machen.

Ulla Brockmeier war lange Jahre, nach Uschi Dresing, Bildredakteurin und Fotografin dieser Zeitung. Als Diplomarbeit präsentierte sie Bilder aus dem Papierkorb ihrer Tageszeitung, für die sie damals jobbte. Es waren durch Fehlentwicklungen, Nichtfixierung und dadurch bedingte Solarisationen verdorbene Prints, Abfall, Bilderschrott, Junk food. Sie stellten in verschrobenen grafischen Strukturen Weltgrößen, Weltereignisse und Tagesinformationen dar, die wie Fossilien einer längst abgetretenen Epoche aus dem chemischen Brei auftauchten. In Wandbildgröße gebracht, erhielten sie den Charme politischer Satire durch informelle Überformung und visuellen Fäulnisprozess.

Das andere Foto entweder machen oder das Gewohnte anders machen, das wurde weiterhin Ulla Brockmeiers Programm. Ulla Brockmeier zeigte kürzlich vom FDP-Parteitag Möllemanns Schattenspiele. Wieder auf andere Art grafische Struktur als politische Satire.

Was denkt ein Hund? Dieser hier trottet nach links aus dem Bild, ein wenig missmutig, aber noch nicht ganz daneben. Fußballspieler tummeln sich am Horizont. Der Texter träumt von Wackersdorf. Die Stadtblattredaktion, wohl zugleich er selbst, positioniert dieses Bild von Martin Speckmann auf die Sportseite, die der Fußballinitiative Wilde Liga zugeteilt ist. Ihre Sportler erscheinen als verschwindender Rest einer kämpferischen Vergangenheit, die auf dem fast leeren Platz versickert. Selbstironie, Sarkasmus, melancholische Kämpferattitüde im Sportteil, der die wilde Liga feiert wie die Dortmunder ihre Borussen, gerade so, als hätte es Arminia Bielefeld nie gegeben. Arminia findet bei den übrigen Zeitungen statt.

Das Bielefelder Stadtblatt bleibt auch hier die etwas andere Zeitung.

Wenn ich nach einem gemeinsamen Nenner für den fotografischen Stil der Stadtblattfotografen suche, taucht in meinem Kopf das Wort engagierte Satire auf. Aus dem Bewusstsein der Randposition im Stadt- und Mediengetriebe leisten sich die Kameras von Martin Brockhoff, Uschi Dresing, Jürgen Speckmann, Ulla Brockmeier, Hermine Oberrück, Veit Mette und Martin Langer stechende Blicke ins ironisierende Detail. Sie saugen ihre Sahne aus der Unwirtlichkeit des Wirklichen, aus der schwer erträglichen Seichtigkeit des Scheins. Das Gefühl der Ohnmacht gebiert oft den Narren mit seiner unterhaltsamen Weisheit. Diese Bielefelder Spezies der Fotografie setzt das Bekannte, in unserem Falle die tägliche Zeitungsfotografie voraus und montiert mit den Abfällen, eine Art Junk-food Ästhetik. Das geht bis in den bitteren Kommentar wie zuletzt noch das Foto eines sich die Lippen leckenden Babys auf der Titelseite. Um seine knuffige Stirn legt sich in Versalien das Wort VISUM. Nonsens-Montage reagiert auf Nonsens-Politik. Auf ein Wort, Herr Kanther! Foto Martin Brockhoff.

Feuerwehrfest. Hier sind die jungen Feuerwehrmänner in den Hintergrund und an den rechten, oberen Bildrand gedrückt, als ob sie dahin gehörten. Im Vordergrund gruppieren sich bemantelte Seniorinnen und ein Senior vor der Kulisse einer mit Planen abgeschlossenen Verkaufsbudenwand. Die Damen klammern sich an Handtasche und Knirps, der Mann an seinen Jackenknopf. Er fletscht übellaunig die verbrauchten Zähne. Vampire der älteren Generation, die, wie wir aus dem SPIEGEL erfahren haben, nicht das Blut, wohl aber das Geld aus den saftigen Jungen saugen. Diese älteren Menschen hier wirken wie zermürbt auch von Jahrzehnten der Feuerwehrfeste, sie starren missmutig vor sich hin, an dem Fotografen Martin Langer vorbei. Was will der da, hier gibt es nichts zu sehen, nichts zu fotografieren und wir sind auch ganz langweilig.

Das Stadtblatt leistet sich die Glosse im Foto, auch da wo es ernst wird und der Humor schwarz. Hermine Oberrück teilt die Bildfläche und die Fassade einer Wohnhauszeile wie ein Buch. Rechts der Mittelachse sieht man Menschen aus dem Fenster schauen, links wird abgebrochen, Sanierungsgebiet Teichstraße. Auf einem anderen Bild sieht man sehnsüchtige Kindergesichter auf Spielzeugsoldaten blicken, deutsche Truppen im Angriff, Handgranatenwurf. Ich habe auch schon damit gespielt und dachte irrig, es ist lange her. Hermine Oberrück zitiert hier - ob sie es weiß? - ein Titelbild der "Berliner Illustrierte Zeitung" vom 21. Dezember 1939. Hier fasst ein kleiner Junge liebevoll einen Spielzeug MG Trägersoldaten an den Helm. Unterschrift : Das Liebste Weihnachtsgeschenk, "Vati ist auch Soldat".

Bei Martin Brockhoffs Reportage über Bethel spielen pensionierte Diakonissen in Berufskleidung mit Bällen. Sie sind nicht mehr im Dienst am Nächsten aber sie bleiben unter ihren Häubchen. Dienst einmal und immer - auch beim sitzenden Ruhestand im Fitnesstraining.

Stadtblattfotografie ist zugleich Dokumentation und Kommentar, sie zeigt Flagge und wedelt damit, respektlos und doch liebevoll.

Veit Mette lässt uns mit einer jungen Frau in der Stadthalle Eis schlecken, während hinter ihr die Straßendemo von der Polizei kanalisiert sich auf der Straße staut. "Ihr seid die Titanic, wir sind der Eisberg", harter Spruch außen, innen leckt die Dame das Eis weich. Innen und Außen, Verschränkung der Szenen, der Inhalte, Montage und Witz, dabei Kopfsalat sowenig wie möglich. In den letzten Nummern wächst er wieder. Leider. Ich weiß auch ohne Stadtblatt, wie Frau Dopheide oder Herr Vesper aussieht.

Ich bin gespannt auf die nächsten visuellen Bisse und Bissen. Was kommt am nächsten Donnerstag? Bis dahin.

Herford, 27.2.1997

Jörg Boström