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Virtuelles Magazin 2000

 


Arn Strohmeyer

 

„Ohne Würde kann man nicht leben“

Einer der letzten lebenden Deserteure der Wehrmacht, Ludwig Baumann, erzählt in einem erschütternden Buch sein Leben
 
Stefan Zweig hat in seiner „Sternstunden der Menschheit“ Momente, Stunden, Minuten beschrieben, in denen Persönlichkeiten der Geschichte Entscheidungen fällten, die den Lauf der Welt verändert haben, also große Geschichte gemacht haben. Diese Episoden fallen einem ein, wenn man die Geschichte des Lebens von Ludwig Baumann liest, obwohl er keiner der Großen der Geschichte war, sondern ein kleiner unbekannter Soldat der deutschen Wehrmacht, der 1942 in Bordeaux mit einem Kameraden den Beschluss fasste auszusteigen, zu desertieren. Dieser eine kurze Augenblick der „Entfernung von der Truppe“ hat sein ganzes Leben bis heute geprägt, und er ist zu einer wichtigen Person der Zeitgeschichte geworden. Nicht weil er ein Held war, ein Widerstandskämpfer, der gegen das System aufbegehrte, sondern weil er felsenfest an die Würde des Menschen glaubte – seine eigene und die der anderen.
 
„Ich wollte nicht töten“, schreibt er heute im Rückblick. Und deshalb kämpfte er Jahrzehnte lang um die Wiedererlangung der Würde. „Und ich denke, ich habe sie mir wieder geholt“, bekennt er heute. Ludwig Baumann hat die Geschichte seines Lebens oft erzählt – so oft, dass er inzwischen zur Legende seiner eigenen Biographie geworden ist. Dabei ist er immer bescheiden und zurückhaltend geblieben, Prahlerei und Übertreibung liegen diesem Mann nicht. Und er hat seine Lektion aus der selbst erlebten Geschichte gelernt. Wenn man ihn heute fragt, was die wichtigste Erfahrung seines Lebens war, dann formuliert er das so: „Ich denke, es gibt keine gute Armee. Soldaten wurden immer dazu missbraucht, alles zu zerstören: das fremde Land, das eigene Land und sich selber. Und nie konnte einer hinterher sagen, was der, den er tötete, ihm denn eigentlich getan hatte. Daher bin ich auch heute noch davon überzeugt: Man kann nichts Besseres tun, als auch in Zukunft den Krieg – und zwar jeden Krieg – zu verraten.“
 
Er schreibt das in einer Zeit, in der der letzte große Krieg in Europa weit genug – mehr als ein halbes Jahrhundert – zurückliegt, um aus der Erinnerung zu verschwinden, und die deutsche Gesellschaft dabei ist, sich erneut zu militarisieren und das Wort Krieg – siehe die Auseinandersetzung um die Ukraine und die Krim – wieder ohne Scham in den Mund nimmt. Ist es wirklich unmöglich, Lehren aus der Geschichte zu ziehen? Albert Einstein hat einmal gesagt, er halte den Dritten Weltkrieg für möglich, aber den Vierten würden die Menshen dann wieder mit Knüppeln und Steinen austragen.
 
Ludwig Baumann will das nicht hinnehmen. Seine Botschaft ist, uns aufzufordern, den „Krieg zu verraten“, wo immer wir können. Wenn man diesem freundlichen Herrn begegnet (und der Verfasser dieser Zeilen kennt ihn persönlich gut), dann will man nicht glauben, welche Höllen dieser Mann in seinem jetzt 92jährigen Leben durchgemacht hat, nachdem er mit seinem Kameraden Kurt Oldenburg beschlossen hatte zu desertieren. Sein Motiv: Er wollte diesem verbrecherischen System nicht dienen, er wollte einfach nur leben! Aber die Flucht der beiden scheiterte nach nur wenigen Stunden – eine Streife nahm sie fest.
Damit begann das lange und furchtbare Martyrium des Ludwig Baumann: Gefängnis, kurze Gerichtsverhandlung von nur 30 Minuten, Verurteilung zum Tode wegen Fahnenflucht, Einsitzen in der Todeszelle und qualvolles Warten auf die Vollstreckung, ein Ausbruchversuch misslingt, wieder zurück in der Todeszelle – nun aber mit Eisenketten an Händen und Füßen, dann die Begnadigung zu 15 Jahren Zuchthaus, von der er aber erst viel später erfährt. Zehn qualvolle Monate saß er in der Todeszelle. Dann Verlagerung ins KZ Esterwegen, wo er einige Wochen bei äußerst karger Nahrung täglich zwölf Stunden Moor stechen muss. Dann Überführung in das Wehrmachtsgefängnis Torgau, wo seine Eignung zur Aufnahme in die „Bewährungstruppe“ geprüft werden soll. 15 Monate verbrachte er dort, musste eine schwere Diphterie in Quarantäne ausheilen und anschießend schwere Arbeit leisten. Er schreibt über diese Zeit: „Beim Arbeiten hörten wir die Schreie der Gefolterten und häufig wurden wir gezwungen, bei den Erschießungen im Wallgraben zuzusehen, ‚zur Abschreckung‘, hieß es.“
 
Schließlich Fronteinsatz im Osten in der Strafdivision 500, einem Himmelfahrtskommando, bei dem zu überleben die Chancen gleich Null waren. Baumann überlebt dennoch, wird verwundet und kommt in ein Lazarett, in dem eine menschenfreundlich gesinnter Arzt seinen Heilprozess „verzögert“, damit er nicht zurück an die Front muss. Russen gewähren ihm eine Zeitlang Schutz, dann schlägt er sich – der Krieg ist inzwischen vorbei – durch das Chaos von Zerstörung und Verwüstung durch zu seiner Familie in seiner Heimatstadt Hamburg. Der Vater empfängt ihn äußerst kühl. Man schämt sich für diesen Fahnenflüchtigen. Nun beginnt das Spießrutenlaufen durch die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Denn der Deserteur ist für die „guten“ Deutschen ein „Drückeberger“, „Feigling“ und „Kameradenschwein“. Baumann greift zur Flasche und kommt in den nächsten Jahren vom Alkohol nicht los, er vertrinkt seine ganze üppige Erbschaft, seine Frau stirbt früh und hinterlässt ihm mehrere Kinder. Schuldgefühle plagen ihn bis heute.
Aber irgendwann wird ihm bewusst, dass sein Leben auf der schiefen Bahn ein großer Irrtum ist, dass er kämpfen muss, wenn er seine Würde wieder erlangen will. Er engagiert sich in der Friedens- und Eine-Welt-Bewegung. 1990 gründet er die „Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz e. V.“, die es sich zum Ziel setzte, die Aufhebung der Urteile der NS-Militärjustiz und die Rehabilitierung ihrer Opfer zu erreichen, also das zurückzunehmen, was die furchtbaren Militärrichter Hitlers in den Kriegsjahren angerichtet hatten: 100 000 Zuchthausstrafen hatten sie verhängt und 30 000 Todesstrafen gegen Deserteure, von denen 23 000 vollstreckt wurden. Zum Vergleich: In den Streitkräften der Briten und Amerikaner wurde in den Kriegsjahren nur ein einziger Soldat wegen Fahnenflucht verurteilt!
 
Und das Beschämendste: Die deutschen Militärrichter konnten nach 1945 so gut wie alle ihre Karrieren fortsetzen. Einer der berüchtigtsten von ihnen, Erich Schwinge, wurde noch Professor und Dekan der Juristischen Fakultät in Marburg. Er schrieb 1977 den Satz: „Die NS-Militärjustiz war eine antinationalsozialistische Enklave der Rechtsstaatlichkeit.“ Hans Filbinger war ein anderer Vertreter dieser Militärrichterschaft, die von den Betroffenen „Blutrichter“ genannt wurden. Sein Fall erlangte traurige Berühmtheit, weil er noch kurz vor Kriegsende einen jungen Marinesoldaten zum Tode verurteilte, und durch den Satz: „Was damals Recht war, kann heute kein Unrecht sein.“ 3000 gab es von ihnen, die in ihren Ämtern zwischen Zuchthaus und Todesurteil entscheiden konnten und sich fast immer für die Hinrichtung entschieden. Ihre Kriterien waren: „Gehorsam“ und „Manneszucht“.
 
Ludwig Baumann führte mit seiner Organisation einen langen und beschwerlichen Kampf für die Rehabilitierung und die Rückgewinnung der Würde dieser Kriegsopfergruppe. Vor allem die politisch konservative Seite – die Parlamentarier der CDU/CSU – legten diesen Bestrebungen immer wieder Steine in den Weg. Sie argumentierten: Würde man die Deserteure rehabilitieren, wäre das ein Verrat an dem „anständigen Verhalten“ der anderen Millionen deutschen Soldaten der Wehrmacht, die „ihre Pflicht taten“, und außerdem würde man so die Soldaten der Bundeswehr demotivieren. Baumann musste viele Rückschläge und Niederlagen einstecken. Aber es gab auch große Erfolge, die hoffen ließen: 1991 fällte das Bundessozialgericht ein wegweisendes Urteil: dass es sich bei Hitlers „Drittem Reich“ um einen „Unrechtsstaat“ gehandelt habe. Der Krieg, den es geführt habe, sei „völkerrechtswidrig“ gewesen. Daher dürfe auch Widerstand gegen ein Unrechtsregime nicht von der Entschädigung nach BVG [Bundesversorgungsgesetz] ausgeschlossen werden.
 
Darauf folgte ein Urteil des Bundesgerichtshofes: Die NS-Militärrichter hätten „Terrorjustiz“ betrieben, „Blutjustiz“, um rücksichtslos Kampfkraft aufrecht zu erhalten für einen „völkerrechtswidrigen Krieg“. Die etwa 30 000 Todesurteile seien so „offensichtlich unrechtmäßig“ gewesen wie die 5200 des Volksgerichtshofes. Eine Vielzahl der Richter hätte nach 1945 „wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen zur Verantwortung gezogen werden müssen. (...) Darin, dass dies nicht geschehen ist, liegt ein folgenschweres Versagen der bundesdeutschen Strafjustiz.“
 
Ludwig Baumann hatte inzwischen durch seine unermüdliche politische Arbeit unter den Parlamentariern einiges bewegt. 1977 fasste der Bundestag einen Beschluss, der besagte, dass der „Zweite Weltkrieg ein Angriffs- und Vernichtungskrieg war, ein von Nationalsozialisten verschuldetes Verbrechen.“ Die Deserteure wurden aber nicht pauschal rehabilitiert, sondern die Gerichte mussten in einer Einzelfallprüfung ein politisches Motiv nachweisen. Der Beschluss löste große Empörung aus. Dann schockierte 1991 die „Wehrmachtsausstellung“ viele Menschen in Deutschland auf, weil sie nachwies, wie sehr Hitlers Armee direkt in die Judenvernichtung involviert war. Sie mordete mit, und die Vernichtungslager konnten nur so lange „arbeiten“, wie die Wehrmacht die Front im Osten hielt. Die Stimmung in der Bevölkerung schlug langsam um, die Zeit wurde reif für eine andere Sicht auf den Krieg.
 
Am 17. Mai 2002 feierte Ludwig Baumann seinen größten Erfolg: Der Bundestag hob mit den Stimmen von Rot-Grün und PDS alle NS-Urteile gegen die Deserteure auf. Sie waren nun rehabilitiert und nicht mehr vorbestraft – 57 Jahre nach Kriegsende! Baumann schreibt: „Eine Befreiung vom Makel der Vorstrafe, aber auch von Demütigungen. Jahrzehnte konnte ich den Beschimpfungen als ‚Feigling‘ oder ‚Vaterlandsverräter‘ nichts entgegenhalten. Das Gesetz zur Aufhebung der NS-Unrechtsurteile bescheinigt uns, wir hätten aus ‚Gewissensgründen‘ gehandelt – und: ‚In einem von NS-Deutschland verschuldeten Angriffs- und Vernichtungskrieg‘ sei unser Tun ‚weder kriminell noch unehrenhaft gewesen‘. Mein ganzes Leben war ein Kampf um meine Würde und nun habe ich sie wieder.“ Und alle die anderen Deserteure auch.
 
Aber es gab noch eine letzte Hürde zu nehmen. Das „Kriegsverratsgesetz musste noch aufgehoben werden. Es besagte: „Wer als Soldat dem Land Schaden zufügte oder dem Feind einen Vorteil verschaffte“, wurde zum Tode verurteilt. Diese Gesetz öffnete Willkürurteilen Tür und Tor. Der Militärhistoriker Wolfram Wette analysierte daraufhin 63 erhaltene Todesurteile dieses Deliktes. Er kam zu haarsträubenden Ergebnissen. Ein Beispiel: Zwei Wehrmachtssoldaten wollten mit einem LKW drei jüdische Familien von Ungarn nach Rumänien schaffen, um sie vor dem Zugriff der NS-Schergen zu retten. Die Juden wurden bei einer Kontrolle entdeckt. „Kriegsverrat“ befanden die Militärrichter und verurteilten die beiden Soldaten zum Tode, weil sie dem Feind einen „Vorteil“ verschafft hatten.
 
Wettes Forschungen ließen den Fraktionen im Bundestag keine Wahl, sie waren zu überzeugend. Alle Fraktionen stimmten am 8. September 2009 dem Beschluss zu: Auch die Urteile gegen Kriegsverrat wurden aufgehoben. Ludwig Baumann konnte jubeln – der Jahre lange Kampf hatte sich gelohnt. Er schreibt: „Der Krieg hätte viel früher enden können und Millionen hätten nicht mehr zu sterben brauchen, wenn mehr Kriegsverrat begangen worden wäre. Man kann nichts Besseres tun als jeden Krieg zu verraten.“
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Ludwig Baumann, deutscher Wehrmachtsdeserteur und Friedensaktivist auf einer Demonstration gegen ein öffentliches Bundeswehrgelöbnis. Quelle: Wikipedia

So hatte Ludwig Baumann sein Lebenswerk vollendet und zugleich auch seine Würde wiedergewonnen und hatte sie so vielen anderen auch zurückgegeben. Heute treibt ihn nur noch die Angst um, dass die Jüngeren die Erfahrungen seiner Generation vergessen könnten und dass Krieg, Gewalt und Verbrechen noch einmal ihren Lauf nehmen könnten. Deshalb zieht er immer wieder durch Schulen und Universitäten und verkündet seine Botschaft des „Nie wieder!“ Dabei hat er immer die Sätze des Schriftstellers Alfred Andersch im Kopf, der selbst desertierte und darüber in seinem Buch die „Kirschen der Freiheit“ schrieb: „Mein ganz kleiner privater 20. Juli fand bereits am 6. Juni 1944 statt – ich hatte beschlossen, davonzulaufen. Die meisten Desertionen geschahen nicht aus Furcht vor dem Tode, sondern aus dem Willen zu leben.“
 
Ludwig Baumann hat (zusammen mit dem Journalisten Norbert Joa) einen faszinierenden Zeitzeugenbericht geschrieben, der betroffen macht, ja erschüttert, weil er den den Historikern bekannten Satz belegt: je mehr man die nationalsozialistische Zeit von uns wegschieben will desto bedrängender und näher kommt sie wieder zurück. Sie lässt sich nicht auslöschen, weil es keinen Schlussstrich gibt. Nur die Wahrheit zu wissen macht frei.
Ludwig Baumann: (mit Norbert Joa): Niemals gegen das Gewissen. Plädoyer des letzten Wehrmachtsdeserteurs, Herder Verlag, 2014

Anm. d. Red. - Auch zu empfehlen: Rainer Schepper: Ich war Deserteur: Reminiszenzen aus dem Jahre 1945,
agenda Verlag Münster, 2009