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Virtuelles Magazin 2000

 


Annette Bültmann

Kulturtrümmer unter Wasser

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"Heut bin ich über Rungholt gefahren, die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren. Noch schlagen die Wellen da wild und empört, wie damals, als sie die Marschen zerstört" schreibt der Dichter Detlev von Liliencron anno 1882 und setzt damit einer im Meer versunkenen Ortschaft ein Denkmal,von der von Zeit zu Zeit Artefakte aus dem Schlick gefischt werden. Rungholt war eine Siedlung in der Nähe der heutigen friesischen Halbinsel Nordstrand, die vermutlich bei einer Sturmflut im Jahr 1362 überschwemmt wurde, und auf einigen historischen Landkarten noch verzeichnet ist, in der Nähe der heutigen Hallig Südfall. Einige Fundstücke aus Rungholt sind im Nordsee Museum Husum zu sehen. Seit noch längerer Zeit versunken waren die antken Hafenstädte Heraklion, Kanopus und Alexandria, deren Überreste durch den Unterwasserarchäologen Franck Goddio zu Tage gefördert und 2006 in Berlin in der Ausstellung "Ägyptens versunkene Schätze" präsentiert wurden. Von diesen wurde eine grössere Zahl von Fundstücken geborgen, aber nicht nur materielle Überreste bleiben von früheren Kulturen, sondern auch Mythen, über Rungholt existieren Legenden, zum Beispiel dass die Stadt alle 7 Jahre wieder aus dem Meer auftaucht. In der Sage wurde Rungholt zur reichen und prunkvollen Stadt, die durch lasterhaften Lebenswandel ihren Untergang selbst heraufbeschwor. In Wirklichkeit war der Ort vermutlich ein von mehreren Tausend Menschen bewohnter Handelsplatz, wobei das Handelsgut Salz aus dem unter dem Marschland gelegenen Torf der nordfriesischen Uthlande gewonnen wurde. Durch Verdunstung hatte sich Salz aus dem Meerwasser in den Torfschichten gesammelt, und so diente der Torf gleichzeitig als Brennmaterial und zur Salzgewinnung, solange bis die Bewohner buchstäblich die eigenen Lebensgrundlagen untergraben hatten, d.h. den ohnehin nur wenig über dem Meeresspiegel liegenden Boden soweit abgesenkt hatten, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, wann die Flut das Land überschwemmen würde. Heute suchen Archäologen im Wattenmeer bei Ebbe nach den Spuren von Rungholt, die bei Flut wieder im Meer verschwinden.

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Kulturen wachsen auf den Trümmern vorheriger Kulturen, im wörtliche Sinne, indem antike Städte mehrere Schichten aufweisen, mit Überresten der jeweiligen Epoche. Im übertragenen Sinne hinterlässt jede Kultur eine Schicht von Ideen und Denkweisen, Archetypen, Mythen, Medien, und diese werden wiedergefunden und recycelt, auch im digitalen Zeitalter. Der Medientheoretiker Marshall McLuhan benutzte dafür den Begriff der Schrotthandlung. Diese, unter Wasser gesetzt, wird Teil eines neuen Biotops im virtuellen Raum.

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