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Virtuelles Magazin 2000

 


Timm Starl

Das „Bekannte in einer neuen Form“

 

Olaf Breidbach, Kerrin Klinger, Matthias Müller

Camera Obscura

Die Dunkelkammer in ihrer historischen Entwicklung

Stuttgart: Franz Steiner, 2013

24 x 17 cm, 227 S., 185 SW-Abb.

 

Die differenten bildlichen Wirklichkeiten, die beim Gebrauch der Camera obscura und der

Fotokamera entstehen, werden in der vorliegenden Abhandlung nicht direkt angesprochen.

Doch weil immer wieder die Ausrichtung der beiden Geräte und der mediale Gebrauch zur

Sprache kommen und die Unterschiede zueinander gesetzt werden, kommt der Gedanke auf,

welch enorme Einschränkungen sich die Zeitgenossen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

auferlegt haben, um die Hervorbringungen zuerst der einen, dann der anderen als analoge

Wiedergaben der Natur aufzufassen.

Zunächst sollen die Entsprechungen genannt werden: Das kleine Loch der Camera

obscura gegenüber dem Gegenstand des Interesses liefert ebenso runde Bilder wie das Objektiv

der fotografischen Apparatur; die Perspektive des Raumes vor den Geräten wird jeweils

verkleinert oder auch vergrößert auf eine flache Ebene projiziert; gegen den Rand hin werden

die Bilder dunkler und weisen Verzerrungen auf; je entfernter die Objekte sich befinden, desto

unschärfer bilden sie sich ab. Der Gebrauch ist in beiden Fällen insofern gleich, als die

Wahl des Motivs jeweils ausschließlich vom Nutzer bestimmt wird. Und da wie dort entdeckt

man in den Bildern Erscheinungen, die sonst nur nebenbei oder gar nicht wahrgenommen

wurden – also „das Bekannte in einer neuen Form“ (58), weshalb die Darstellungen der

Camera obscura „lebensechter wirken als die Objekte selbst“ (63). Doch ebenso wissen wir

von den Kommentatoren der ersten Daguerreotypien, dass ihnen die genaue Aufzeichnung

eines Dachziegels oder eines Grashalms im Heuhaufen als Beleg für die Wirklichkeitsnähe

der fotografischen Abbilder gegolten haben.

Erheblich sind allerdings manche Abweichungen. Die Bilder der Camera obscura sind

bewegte, die der Fotografie statische. Die ersteren geben reale Zustände in der Zeit wieder,

die anderen versetzen alles Sichtbare in einen Stillstand, den die Realität nicht kennt. Zudem

sind die einen Bilder farbig, die anderen – für mehrere Jahrzehnte ausschließlich – mono2

chrom. Auch die Flüchtigkeit der Darstellung in der Camera obscura entspricht dem realen

Vorbild, das nur verschwindende Augenblicke kennt, während die fotografischen Produkte

den Eindruck eines einzigen Moments auf einer Platte festhalten, sichtbar machen und konservieren.

Damit beide Bildarten gleichermaßen als wirklichkeitsnah angesehen werden konnten

– und dies war der Fall –, mussten die zeitgenössischen Betrachter beim Wechsel von der

Camera obscura zur Fotografie einen ungeheuren Verlust hinnehmen. Um den Preis, ein

bleibendes Dokument zu erhalten, akzeptierte man die Unwirklichkeit des fotografisch Dargestellten:

farblos, zeitlos, unbewegt.

Bild309

Den Autoren geht es jedoch in erster Linie um früher bereits entwickelte „Standards

der Bildbetrachtung und Bildwiedergabe, nach denen im 19. Jahrhundert auch die ersten fotografischen

Aufnahmen ausgerichtet und interpretiert wurden.“ (67) Angelegt waren die Sehgewohnheiten

bereits in der Camera obscura, die seit Jahrhunderten in Gebrauch war. Behandelt

werden in gesonderten Abschnitten die Konstruktion und Funktionsweise sowie die Anwendungen

bis hin zu „Nachbauten“ und der „(Publikations)geschichte zur Camera obscura“.

Vorgestellt werden ebenso die tragbaren Kameras wie solche, für die ein ganzes Zimmer als

Dunkelkammer eingerichtet worden war. Wir erfahren, dass die Geräte sowohl als Zeichenhilfe

als auch zur Motivsuche eingesetzt wurden und in Kombination mit dem Sonnenmikroskop

zur Projektion Verwendung fanden.

Folgt man den ebenso in Einzelheiten gehenden wie zusammenfassenden Erörterungen,

wird unverständlich, weshalb Jonathan Crary in seinen Techniken des Betrachters von

1996 erst die Einführung der Fotografie im 19. Jahrhundert dafür verantwortlich macht, dass

„Wahrnehmungen standardisiert und Wahrnehmungsmuster objektiviert wurden“ (106). Bestimmt

wie lakonisch und korrigierend kommen die Autoren zu dem Schluss: „Die Fotokamera

ist einer Fortführung der Camera obscura [...]“ (112)

Im „Katalogteil“ des Bandes präsentiert Matthias Müller Entwürfe und Beschreibungen

von rund 130 Geräten, beginnend mit einer Skizze von Leonardo da Vinci aus dem Jahr

1492 (118) und abschließend mit der von Friedrich August Wilhelm Netto „1842 vorgestellte[

n] Camera obscura zur Anfertigen von Kalotypien“ (217). Was den Band angenehm unterscheidet

von vergleichbaren Veröffentlichungen, insbesondere jenen, die auch theoretische

Aspekte berühren, ist die reichhaltige Illustrierung. Im Gegensatz zu den Publikationen der

wortreich argumentierenden Kunsthistoriker der jüngeren Zeit, die nur spärlich Bildmaterial

einsetzen, wird hier deutlich gemacht, dass theoretische Überlegungen des Fundaments der

Praxis bedürfen, die es – insbesondere bei Bildmedien – zur Anschauung zu bringen gilt. Die

Herausgeber haben sich sogar die Mühe gemacht, Bildschirmprojektionen in historischen

Camerae obscurae anzustellen und abzubilden.

Wer sich mit dem Aufkommen der Fotografie im 19. Jahrhundert auseinandersetzt und

verstehen will, welche Sichtweisen bereits eingeübt waren und welche Bildbedürfnisse sich

daraus gebildet hatten, darf an dem vorliegenden Band nicht vorübergehen. Er wird sich dann

beispielsweise fragen, ob sich der Erfinder Joseph Nicéphore Niépce für den Stillstand interessierte

oder vielleicht doch für die Bewegung, als er für seinen „Point de vue pris de la

fenêtre du Gras“ von 1926/27 rund acht Stunden Belichtungszeit aufwendete und den wechselnden

Einfall des Lichts aufzeichnete. Oder weshalb der Pariser Fotograf Nadar in den

1860er Jahren die Metropole vom Ballon aus, also von einem sich fortbewegenden Standort

aus, in einer Sequenz fotografierte, wodurch sich in den sich verändernden Perspektiven die

Bewegung des Fluggeräts verfolgen ließ. Die Beschäftigung mit der Camera obscura lässt die

Fotografie, zumindest manche ihrer Hervorbringungen, in durchaus neuem Licht erscheinen.

Bei den Abbildungen handelt es sich um Wiedergaben aus der besprochenen Veröffentlichung.

 

Erwähnte Literatur

Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert [1990], Aus dem Amerikanischen

von Anne Vonderstein, Dresden: Verlag der Kunst, 1996

Oktober 2013

© Timm Starl 2013