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Virtuelles Magazin 2000

 


Die Lyra ist das Symbol kretischer Identität
 
Auf der Insel lebt noch eine autochthone Volksmusik
 
Arn Strohmeyer
 
Kretische Musik ist im wesentlichen Lyramusik. Fragt man Kreter, seit wann es diese Musik auf ihrer Insel gibt, wissen sie das nicht genau zu sagen und verlegen deshalb ihren Ursprung in den Mythos: Apoll, der Gott der Musik, der Schönheit und des Lichts, führte stets eine Leier mit sich, ein Instrument mit drei Saiten. Diese kleine göttliche Harfe war sozusagen die erste Lyra, sagen die Kreter. Der Göttervater Zeus, sein Sohn Apoll, das Ida-Gebirge (beziehungsweise der Psiloritis) und der Mythos spielen noch heute eine wichtige Rolle in dieser Musik.
Andere Kreter gehen noch weiter und verlegen auch den Ursprung von Musik und Tanz nach Kreta, denn der Mythos berichtet über Zeus‘ Herkunft: Seinem Vater, dem Titanen und Weltenherrscher Kronos, war prophezeit worden, er werde von einem seiner Söhne entmachtet werden. Deshalb verschlang er seine Kinder gleich nach der Geburt. Zeus aber wurde gerettet, weil seine Mutter Rhea Kronos statt seines Kindes einen Stein zum Verschlingen gab. Den kleinen Zeus versteckte sie in der Höhle im Ida-Gebirge oberhalb der Nida-Ebene. Ziegen und Bienen ringsum ernährten ihn. Die Kureten, priesterliche Diener von Rhea oder Berggeister, beschützten ihn, indem sie vor der Höhle tanzten und ihre Speere auf Schilde schlugen, um das Schreien des Kindes zu übertönen. Andere spielten so laut auf ihren Instrumenten, dass Kronos das Kind nicht hören konnte. Das soll der Ursprung von Musik und Tanz gewesen sein.
Es ist schwer, wenn nicht unmöglich, die Zeit der Entstehung und Entwicklung der kretischen Musik und ihrer Instrumente genau zu bestimmen. Welchen Wahrheitsgehalt hat die Überlieferung des Mythos? Welche Rolle haben Musik und Tanz schon bei den Minoern und den Dorern gespielt? Dass Relikte ihrer Musik- und Tanzkultur sich bis heute erhalten haben, kann als gesichert gelten, aber Details sind schwer auszumachen. Kreta war durch seine geographische Lage zwischen Europa, Asien und Nordafrika immer vielen Einflüssen ausgesetzt. Nach den Römern haben Araber, Kreuzritter, Genuesen, Venezianer und Türken die Insel erobert und ihre Spuren hinterlassen.
Der persische Geograph Ibn Khurradadhbih, der im 9. Jahrhundert n.Chr. lebte, erwähnt die Lyra zum ersten Mal als typisches Instrument der Byzantiner. Hier - im östlich-byzantischen Kulturkreis - scheint die Lyra ihren Ursprung zu haben. Sie weist noch heute Verwandtschaft mit ähnlichen Instrumenten im Osten auf. Auf Kreta tauchte sie erst nach der Eroberung durch die Türken auf, also im 17. und 18. Jahrhundert.1 Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Venezianer die Laoúto, das andere wichtige Instrument der kretischen Musik, und die Violine auf die Insel gebracht haben; sie haben sie immerhin 465 Jahre beherrscht.
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Psarantonis, der berühmteste Lyraspieler und Sänger Kretas

Einer der besten Kenner der Musik des östlichen Mittelmeeres, Asiens und Nordafrikas, der auf Kreta lebende irische Musiker Ross Daly, beschreibt die Eigenart der kretischen Musik und ihre Entstehung wohl treffend folgendermaßen: „Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Musik aus den ältesten Zeiten völlig verloren gegangen ist. Aber es ist auch unwahrscheinlich, dass sie original und unverändert auf uns gekommen ist. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte. Einiges ist verloren gegangen, einiges hat sich bewahrt - wenn nicht in der Form, so doch im Geist. Und viele neue Elemente sind kontinuierlich zu einer musikalischen Tradition hinzugekommen, die alles andere ist als ein Fossil der Vergangenheit. Man darf nicht vergessen, dass die kretische Musik eine sehr dynamische Tradition darstellt, die sich stetig weiter entwickelt und sich den realen Zeitläufen anpasst, während sie sich gleichzeitig darum bemüht, nicht die Verbindung zu ihren wahrscheinlich sehr alten Wurzeln zu verlieren. Dazu haben die griechische und die kretische Musik sich Elemente - Instrumente oder Aspekte musikalischer ‚Sprachen‘ oder ‚Dialekte‘ - zu eigen gemacht, die vorrangig aus dem östlichen Mittelmeerraum, dem Balkan und Nordafrika stammen.“2

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Der Ire Ross Daly (links) beim Lyraspiel, im Hintergrund der berühme Mandolinenspieler und Sänger Nikos Stavrakakis

Der deutsche Lyraspieler, Komponist und Kenner der kretischen Musikszene, Stefan Petersilge, weist auf die Einflüsse der byzantinischen Kirchengesänge auf die kretische Musik hin: „Ich kenne viele Musiker, von denen ich weiß, dass sie byzantinischen Gesang studiert haben“, sagt er.3 Die Frage, ob die Türken durch ihre Jahrhunderte lange Herrschaft über Griechenland und Kreta wesentlichen Einfluss auf die Musik der Insel genommen haben, wird von Kennern – wohl auch wegen der politischen Brisanz des Themas – eher vorsichtig beurteilt. „Natürlich haben sie auf die Musik eingewirkt“, vermutet Petersilge, „aber die Parallelen zwischen beiden Musikarten liegen eher darin, dass beide Kulturen zum Teil gemeinsame Wurzeln und Einflüsse haben. So wird zum Beispiel die byzantinische Lyra, aus der sich die kretische Lyra entwickelt hat, noch heute von türkischen Musikern gespielt.“4

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Der deutsche Lyra-Spieler Stefan Petersilge

Ganz außer Zweifel steht aber, dass der Bevölkerungsaustausch infolge der „kleinasiatischen Katastrophe“ 1921 für die griechische und kretische Musik von großer Bedeutung war. Importierten die aus Kleinasien einwandernden Griechen den Rembetiko mit der Bouzouki als typischem Instrument in die Hafentavernen von Piräus, so brachten die Immigranten, die in großer Zahl nach Kreta kamen, eine Musik mit, die mit ihren typischen anderthalb Tonschritten oder auch mit den Vierteltönen ausgesprochen orientalisch klang. Die kretischen Musiker haben sie adaptiert und auf der Lyra gespielt, so wurden kretische Stücke daraus. Der orientalische Einfluss ist seitdem deutlich zu spüren.5
Dies sind die typischen Instrumente der kretischen Musik: Das klassische Instrument ist die Lyra, ein birnenförmiges Streichinstrument mit drei Saiten, das aufrecht auf dem Knie gehalten wird und mit einem Bogen bestrichen wird. Die Saiten werden seitlich mit den Fingernägeln berührt, also nicht niedergedrückt, was ihr einen harten, etwas metallen-flirrenden Klang verleiht. Es gibt auch eine Kombination von Lyra und Geige, die ein erweitertes Klangrepertoire aufweist. Die Geige war lange Zeit in Ost- und West-Kreta populär, hat aber an Bedeutung gegenüber der Lyra verloren. Der Rhythmus wird in der Hauptsache mit der Laoúto gemacht, sie gehört zur Familie der Langhalslauten und hat vier Doppelsaiten. Wird sie als Soloinstrument gespielt, kann sie sehr weich und warm klingen. Die Mandoline ist in der kretischen Musik auch heute noch ausgesprochen populär, vor allem als Begleitinstrument in der „Hausmusik“, aber auch bei den „Kantades“. Dabei ziehen Sänger von Haus zu Haus. Der berühmteste Mandolinenspieler und Sänger heute ist Vassilis Stavrakakis. Neben der Laoúto wird auch die Gitarre als Rhythmus-Instrument verwendet. Bisweilen wird der Rhythmus auch mit einer Trommel (daoúli) verstärkt, die mit der Hand oder einem Stock geschlagen wird. Ein weiteres Instrument ist die Askomandoura, eine Art Dudelsack, die aus Ziegen- oder Schafhaut gefertigt wird und mit einer zweiläufigen Flöte versehen ist.
Die Lyra ist auf G D A gestimmt. Die hohe E-Saite fehlt. Ross Daly hat einen neuen Lyratyp entwickelt, der so nicht aus Kreta stammt. Er hat die traditionelle Lyra mit insgesamt 19 Resonanzsaiten und drei Spielsaiten ausgestattet. Dieses Instrument ist schwieriger zu spielen als die normale Lyra, entwickelt aber einen fantastischen Klang. Viele Musiker auf Kreta spielen sie inzwischen. Sie hat sich durchgesetzt. „Typisch für die traditionelle Lyramusik auf der Insel ist, dass sich der Gesang mit dem Lyraspiel abwechselt. Der Klang der Lyra kommt sehr nah an den der menschlichen Stimme heran. Gesang und Spiel gehen also völlig Hand in Hand. Wir sagen: Wir singen mit der Lyra und der Stimme. Das ist etwas ganz Einzigartiges“, sagt Stefan Petersilge.6
Man hat an der Lyramusik oft kritisiert, dass sie zu monoton sei und zu einfache Strukturen aufweise. Kenner weisen dieses Argument mit Vehemenz zurück und halten dagegen: Verglichen mit anderen Volkmusikkulturen sei die kretische Musik ausgesprochen komplex. Man könne spüren, dass sie aus einer Hochkultur stamme. Viele Experten erinnert sie an die Barockmusik. Im Gegensatz zur polyphonen europäischen Musik ist die kretische Musik aber wie die orientalische monophon. Das schließt aber nicht aus, dass sie hochkomplex ist – etwa in dem raffinierten Gebrauch verschiedener Tonskalen. Vom Rhythmus her ist sie aber eher einfach. Es überwiegt der 4/4-Takt, was das Tanzen erleichtert, denn kretische Musik ist immer auch Tanzmusik. Tanzen kann man aber nur, wenn der Rhythmus klar rüberkommt.
Auf Grund ihrer Form und der Art, wie sie gespielt wird, misst man der Lyra einen hohen Symbolwert zu. Der kann einmal aus der Landschaft abgeleitet werden. In einer rauen, von Männern beherrschten Bergwelt wie dem Ida-Gebirge wird anders musiziert und gesungen als in den Ebenen und am Meer, wo die Musik „weicher“, als mehr „weiblich“ empfunden wird. Der britische Musiksoziologe Kevin Dawe bemerkt dazu: „Das Instrument [die Lyra] ist oft als ein Produkt der Berge beschrieben worden. Sie ist im Idealfall aus Bergholz gefertigt. Sie hat einen Körper, einen Nacken, Augen und ein Herz, eine Seele und eine Stimme, die laut hinaus tönt wie die Geister und Tiere der Berge.“ 7
Die Lyra kann auf Grund ihrer Form auch erotische Assoziationen wecken, das Wort ist ja vom Genus her auch weiblich: So wird die Lyra als Symbol der Weiblichkeit, ja als weiblicher Körper angesehen. Skordalos, ein berühmter Virtuose , hat geäußert: „Die Lyra ist wie eine Frau. Wenn Du sie nicht liebst, wenn Du sie nicht umsorgst, wirst Du sie verlieren.“ Und Skoulas, ein anderer berühmter Spieler drückte es so aus, dass er die Fortschritte, die er beim Lyra-Spiel mache, auf seine innige Liebe zu diesem Instrument zurückführe.8 Dem widerspricht nicht, dass das Lyraspiel in der Regel eine rein männliche Angelegenheit ist. Denn die meisten Lieder (sie handeln von der Liebe) richten sich an die Frauen. So wird die Lyra durchaus auch als männliches Instrument gedeutet, da es in den gespielten und gesungenen Stücken um eine Poesie der Männlichkeit geht. Und da ihr Klang zwischen süß und bittersüß schwankt, wird sie mit der Erfahrungswelt der Männer in Verbindung gebracht.9
Die Lyra kann aber auch religiös gedeutet werden. Dadurch dass nur der Nagel beim Spielen die Saiten berührt oder abgreift, hat sich eine ganz eigene Interpretation der Lyra aus der christlichen Mystik heraus ergeben. Man sagt, die Lyra habe drei Saiten, weil sie damit die heilige Dreifaltigkeit symbolisiere. Außerdem ergeben Lyra und Bogen ein Kreuz, das am Herzen gehalten wird. Und schließlich wird die Lyra nicht vom menschliche Fleisch der Finger berührt, sondern nur vom Fingernagel und dem Bogen. Das Instrument wird deshalb auch als Symbol der Jungfräulichkeit gedeutet.
Kreta ist noch eine weitgehend patriarchalische Gesellschaft. Wie überall ist Musik auch dort ein soziales Phänomen, aber in Kreta weist sie Besonderheiten auf. Denn Musik, Poesie (Lieder) und Tanz bilden eine feste und geschlossene Einheit, was viele Experten auf die ungebrochene Tradition des antiken Theaters zurückführen, die sich bis heute erhalten hat. Die Musik ist in Kreta nicht nur Sache der Ausführenden, sondern an einem solchen Event nimmt auch die ganze Gemeinschaft teil. Insofern realisiert sich in der Darbietung kretischer Musik ein soziales Ideal, ein gemeinschaftlicher Glaube - und letzten Endes auch die Identität, Kreter zu sein. Wobei das Gemeinschaftsgefühl durch die Musik, das Tanzen, Essen, Trinken und Plaudern zustande kommt.10
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Nach kretischer Musik wird überall auf der Insel getanzt

Bei allen solchen Musikevents - Familienfeiern, Festen, Konzerten usw. - ist die eindeutig männliche Dominanz nicht zu übersehen. Kevin Dawe spricht in diesem Zusammenhang immer wieder von gelebten „Männlichkeitsidealen“ und sogar von „Machotum“. Er merkt an: „Die Männer haben immer die Kontrolle, auch wenn die Frauen den Tanz beginnen. Denn sie tanzen nach der Melodie eines Lyra spielenden Mannes. Sie [die Männer] machen die Musik und sorgen für das Auftreten (appearance) der Instrumente, sie überschauen den Fortgang der Veranstaltung - so werden Männer und Instrumente zum Symbol für Autorität, für Männlichkeit, für Dorfidentität, für Kretatum und Tradition. Letztendlich steht die Lyra im Focus der Aufmerksamkeit, da Spieler und Instrument eins zu werden scheinen.“11
Wie sehr die Männer das Geschehen bei Musikevents im Griff und unter Kontrolle haben, belegt folgendes Detail: Der Lyraspieler muss sich bei seiner Darbietung an den Rahmen eines traditionellen Regelwerkes halten, er muss aber auch musikalisch wie verbal improvisieren. Dieses Zwischenspiel ist von großer Bedeutung (ohne es wäre er ein schlechter Spieler) und sorgt für eine Gemeinschaft der Männlichkeit.12 Die verbalen Improvisationen werden beim Vortragen der Mantinaden vorgenommen - halb gesprochene, halb gesungene lyrische Reimpaare mit jeweils 15 Silben. Sie sind ein wesentliches Element der kretischen Musiktradition und werden oft als ihr „Blut“ oder ihre „Seele“ bezeichnet. Oft zitiert jemand - der Lyraspieler, ein Gastspieler oder ein Gast - einen solchen Vers, dann folgt ein kurzes Zwischenspiel des Lyraspielers oder seiner Gruppe, worauf eine andere Person gleichsam als Echo mit einem neuen improvisierten Reim antwortet, was große sprachliche Geschicklichkeit erfordert. So können regelrechte Wort- oder Versgefechte ausgetragen werden, die oft mit Witz, Anzüglichkeiten, Erotik, Nostalgie oder sogar Beleidigungen gespickt sind.
Der Ablauf einer Hochzeitsfeier zeigt, mit welcher Lebensfreude solche Feste begangen werden, er zeigt aber auch, dass sie ausgesprochen männlich bestimmt sind und eine „Gemeinschaft der Männlichkeit“ bilden - vor allem durch die vorgetragenen Mantinaden. Der Lyraspieler leitet die Veranstaltung, indem er das Publikum geschickt von Thema zu Thema führt.13 Er beginnt etwa mit einer Mantinade, die die bis zum Tod dauernde Treue der Ehefrau beschwört:
 
Wenn ich sterbe,
wenn ich sterbe, als eine Kerze
wenn ich sterbe, als eine Kerze
als eine große Kerze solltest du leuchten
und als eine große Kerze solltest du leuchten.
Und deinen Namen auf mein Grabkreuz,
deinen Namen auf das Kreuz
meines Grabes solltest du schreiben,
auf mein Grab solltest du schreiben.14
 
Der Text dieser und der folgenden Mantinaden kann vom Lyraspieler durch Improvisationen ergänzt werden. Die verbalen Wortgefechte, die Einschübe und Solos des Lyraspielers, der auch variiert und improvisiert, und der Wechsel der Themen schaffen eine ganz eigene Dynamik, die sich auf die Tänzer überträgt. Eine Mantinade kann dann etwa lauten:
 
Meine vielfarbige Blume (Hyazinthe),
meine vielfarbige Hyazinthe,
komm, sag mir, wie es dir geht.
 
Komm, sag mir, wie es dir geht,
wo kann die Schönheit gefunden werden
und der Wohlgeruch, den du hervorbringst?
 
Meine vielfarbige Hyazinthe,
meine vielfarbige Hyazinthe,
das Beste an dir ist:
 
Das Beste an dir ist:
Wer will dich sehen und wird nicht sagen:
Sei will kommen, meine Blume.15
 
Zwei Gäste können anschließend einfallen und sich über einen möglichen Ehebruch des Bräutigams lustig machen:
 
„Komm zu ihren Freuden und allen ihren Reichtümern!“
[Ausdruck für den Charakter der Frauen auf Kreta]
und zu allen ihren Reichtümern
Hurrah! und zu allen ihren Reichtümern!
 
Komm, mein Vogel, lasse sie am Ufer,
sie will dich nicht sehen,
und sie wird nicht eifersüchtig auf dich sein,
Hurrah! eifersüchtig auf Dich.
 
Und wenn sie keinen eifersüchtigen
Streit mit dir anzettelt,
Streit mit dir anzettelt,
werde ich Wasser von der Platane zu dir bringen. 16
 
Die Musiker verstehen es, mit einer Steigerung des Tempos von Melodie und Rhythmus bis an die Grenzen ihrer Spielkunst bei Tänzern und Publikum eine Begeisterung auszulösen, die etwas Rauschhaftes hat. Der Lyraspieler tut das Seine dazu, indem er mit seinen Improvisationen von bekannten Melodiemustern abweicht und mit seinem rasenden Spiel die Tänzer zu immer schnelleren Drehungen und Wendungen antreibt. Die tanzenden Männer (vor allem der Anführer) vollführen dann schwierige Schrittfolgen und kunstvolle Akrobatik - etwa Sprünge, die als Beweis von viriler Stärke und Geschicklichkeit gelten. Auch dazu gibt es eine Mantinade:
 
Wenn der Kreter tanzt, zeigt er seine Männlichkeit,
seine Vornehmheit, seine Leventia und seine Tapferkeit.
Er dreht sich, blickt auf den zweiten Schritt,
macht den starken Schwung und einen größeren Schwung. 17
 
Unter Opa! Opa!-Rufen des Lyraspielers (ein Schrei zur Ermunterung) erreicht die Stimmung ihren Höhepunkt, den die Kreter kéfi nennen, was man am besten mit Hochstimmung übersetzen kann. An diesem Punkt der Ausgelassenheit schießen die Männer mit Gewehren in die Luft. Diese Knallerei, bei der es bisweilen auch Verletzte und Tote gibt, ist ein Ausdruck von Lebensfreude, Solidarität und männlichen Idealen. 18
Festlichkeiten auf Kreta haben aber strenge Regeln, die je nach Ort variieren können. Sie sind für die Teilnehmer von großer sozialer Bedeutung, weil sie für Zusammenhalt (oder Rivalität) in der Gemeinschaft sorgen. Immer aber liegt die Hauptverantwortung für das Gelingen eines Festes bei den Musikern und besonders beim Lyraspieler. Er bestimmt die Themen der Mantinaden, das Tempo des Spiels und die Improvisationen in der Musik und ist so für die Stimmung und den Verlauf des Festes ganz maßgeblich verantwortlich. Er hält das Fest letztendlich zusammen und sorgt dafür, dass es nicht in Chaos versinkt - die Leute nicht ausrasten, zu viel trinken und das Schießen außer Kontrolle gerät. Für den Musiksoziologen Kevin Dawe ist all dies ein Beleg dafür, dass solche Veranstaltungen „männlich“ bestimmt sind, ja männlichen Idealen folgen. 19
Zwischen dem Lyraspieler, dem Publikum und den Tänzern besteht eine sehr enge Interaktionsbeziehung. Der Laoúto- und Lyraspieler Kostis Makakis (Epiksopi) erklärt, dass die Musiker sich jeweils ganz auf die Tanzenden einstellen müssten und das sei im eigenen Dorf eben viel einfacher, weil man die Leute kenne, als in fremden Orten.20 Der deutsche Lyraspieler Stefan Petersilge bestätigt diese Aussage, indem er darauf hinweist, dass jedes Tanzveranstaltung ein „psychologisches Drama“ sei, auf das sich der Lyraspieler einstellen müsse.21
Die Mantinaden sind die„Seele“ der kretischen Musik, sie machen den poetischen Teil der Dreiheit Musik, Dichtung (Lieder) und Tanz aus. Sie handeln von Liebe, Leidenschaft, der Schönheit des Lebens, der Freude, der Zuversicht, der Heimatverbundenheit, aber auch von den Sorgen und Nöten und der Niedergeschlagenheit der Menschen. So lauten Mantinaden:
 
Mond, dir hat man so viele Geheimnisse anvertraut,
warum habe ich niemals gehört, dass du eins preisgegeben hast?
 
Die Liebe macht mich zu einem Kind und bedrängt mich so oft,
dieses Leben zu verlassen, ohne erwachsen zu werden.
 
Wir begrüßen euch Schwalben im Frühling,
in einer Jahrtausende alten Zivilisation.
 
Es gibt keinen anderen Schmerz, der so wehtut, ja tötet,
wie eine heimliche Liebe, die unerwidert bleibt. 22
 
Überaus populär sind in der kretischen Musik auch die Verse aus dem Epos Erotókritos, das der Dichter Vizentzos Kornaros zu Beginn des 17. Jahrhunderts geschrieben hat. Er lebte in Sitia und gehörte vermutlich einer gräzisierten venezianischen Adelsfamilie an, stammte also aus der gebildeten Schicht. Seine Sprache aber ist die des einfachen Volkes, was wohl die Popularität dieser Fünfzehn-Silben-Reime bis in die Gegenwart erklärt. So singen die Lyra- oder Laoútospieler auch heute noch die Verse:
 
Von allen freundlichen Dingen auf dieser Erde,
sind es schöne Worte, die den größten Wert haben,
und wer sie nutzt mit Charme und List,
der bringt die Augen der Menschen zum Weinen oder zum Lachen.23
 
oder:
 
Wahr ist das Sprichwort: Wer dem zustimmt,
dass die Holzköpfe herrschen, ist selbst ein Narr.24
 
oder:
 
Wer die großen Dinge des Lebens will,
aber nicht weiß, dass er damit nur auf der Straße reist,
und der sich seines Adels und seines Reichtums rühmt,
den tue ich als einen Niemand ab, als einen Verrückten.
Denn diese Dinge sind wie Blumen, die kommen und gehen,
und die Zeit schafft sie oft einfach beiseite.25
 
Neben den Mantinaden erfreuen sich in der kretischen Musik auch die Risitika großer Beliebtheit. Auch sie handeln von Liebe, Freundschaft und dem Tod, haben aber auch Verlust und Befreiung, Widerstand und Rebellion, Kampf und Heldentum zum Thema. Sie sind oft Jahrhunderte alt und werden in immer neuen Variationen gesungen, verlieren aber nie ihre ursprüngliche Form und Kraft. Risitika werden von Männern gesungen, wobei der Vorsänger die Strophen vorträgt und der Chor sie wiederholt. Viele Risitika sind zur Zeit der Türkenherrschaft entstanden, andere während des Kampfes gegen die deutsche Besatzung. So lautet eine:
 
Ich breche Lorbeer und Myrten vom Psiloritis,
um die Toten zu bekränzen, die für Kreta starben.
Mein Kreta, du Diamant, Lehrer der Freiheit,
die deine Geschichte jedes Mal mit Kugeln schreibt.26
 
Eine Risitiko des berühmten Sängers Stavrakakis lautet:
 
Man muss ruhig sein, damit man die Nachricht von denen
hören kann, die ihre Wurzeln tief im Boden haben,
in Ruinengräbern und zerbrochenen Knochen,
gewässert mit verschiedenen Farben des Bluts,
sodass die Stimme, die in all diesen Jahren und Zeiten kämpft,
vielleicht nach oben kommen wird,
die Stimme, die sich schleppt hinter all den Clans und unzähligen Vorfahren,
um mit männlichem Stolz über die ganze Erde zu sagen,
dass dieses Land nicht in Angst und Panik ist.
Es wird nicht ausradiert werden, es wird nicht sterben.27
 
Viele Risitika haben die deutsche Besetzung 1944 - 44 und das Wüten der Wehrmacht zum Thema:
 
Von den Hügeln Galatas vernahm ich Schrei’n und Weinen,
ob Charon wohl vorüberkam, ob der Tod wohl nahte?
Nicht Charon kam vorüber, noch der Tod traf ein,
allein aus Deutschland kamen Mörder.
Sie schlachten, sengen in den Dörfern und entehren Kirchen,
die Vögel verstummten, und die Bäume verdorrten,
und die Flüsse stockten von dem vielen Weh.28
 
und:
 
Auf dem Felde von Agiia höre ich Schreien und Weinen.
Was ist das für ein Trauern hier, für eine Totenklage?
Mütter weinen um ihr Kind, um ihren Mann die Witwen,
um ihre Brüder die Geschwister und die Kinder um den Vater.
Wie aus Brunnen fließen Tränen, schwemmen in die Erde,
und vor so viel Traurigkeit und so viel Schmerzen
neigen Bäume ihr Geäst und verdorren Gräser.
Seid verflucht, ihr Deutschen, ihr habt Kreta abgebrannt! 29
 
Neben der Landschaft, die immer wieder besungen wird, spielt der Mythos eine große Rolle in den Liedern. Beide sind eine wichtige Quelle der Inspiration und Entstehung dieser Musik, und sie hängen eng zusammen. „Musik ist sozial“, schreibt Maria Hranaki, „weil sie Mittel bereitstellt, durch welche die Menschen ihre Identität und geographischen Räume erkennen, aber auch die Grenzen, die sie trennen.“30 Viele Orte in Kreta werden mit antiken Mythen in Verbindung gebracht, und es ist erstaunlich, wie lebendig sie im Bewusstsein der Menschen noch immer sind. Die Verehrung gilt vor allem Zeus, der im Psiloritis - in ihrem Gebirge also - geboren wurde und aufwuchs. So werden zahlreiche Mantinaden gesungen und zu ihnen getanzt, die Zeus preisen:
 
Kronos wurde genarrt für viele Tage und Nächte,
Zeus wuchs auf mit Hilfe der Koureten.
 
Zeus, Vater der Götter, ich rufe dich heute Nacht an,
du wurdest auf Kreta geboren; wir werden das nie vergessen.
 
Obwohl Zeus ein mythischer Gott ist, denke ich an ihn
als einen wirklichen Gott, er steht sogar noch höher.
 
Die Einwohner von Anogia betrachten sich sogar als Nachfahren der Koureten, die Zeus vor der Höhle bewacht hatten:
 
Die Nachkommen der Koureten leben in Anogia,
auch nach so vielen Jahren ehren sie den Gott Zeus.
 
Die Pauken der Koureten machen großen Lärm:
Es scheint so, dass du auch heute Nacht schreist, Zeus.31
 
Immer am 6. Juli feiern die Bewohner von Anogia im Ida-Gebirge ein Fest für Zeus in den Bergen bei einem Kirchlein, einem steinernen Rundbau (Mitata), wie ihn schon die Minoer vor Jahrtausenden für ihre Hirten hier errichteten. Neben dem Göttervater ist es auch Hyazinth gewidmet, der zwei Identitäten hatte: Er war ein schöner Jüngling, in den sich Apoll verliebt hatte, tötete ihn aber unabsichtlich mit dem Diskus. Aus dem Blut des sterbenden Jünglings erwuchs eine Blume, die Hyazynthe. Apoll bestimmte, dass Hyazynth durch das Fest der „Hyazynthia“ geehrt werden sollte. Es gibt aber auch einen christlichen Märtyrer namens Hyazynth. Die Bewohner von Anogia, die den apollinischen Brauch übernommen haben und auch ihr Fest so nennen, umgehen mit der Einbeziehung des Märtyrers in ihr Fest geschickt den Vorwurf des Heidentums. Beide Traditionen - antike und christliche - leben hier nebeneinander. Symbolisch wird auf diesem Fest die Rettung des jungen Zeus tänzerisch dargestellt: Ein Darsteller ist Zeus, die anderen sind die Koureten. Die dazu vom Lyraspieler gesungene Mantinade lautet:
 
Zeus, du solltest Nachsicht mit den Koureten haben,
denn sie haben dein Schreien durch Paukenschläge überdeckt.
 
Zeus hatte nur geringe Chancen zu überleben,
aber die Schilder der Koureten haben ihn gerettet.32
 
Der Mythos und die Poesie leben in der kretischen Musik, aber er ist nicht denkbar ohne das dritte Element der Dreiheit: den Tanz, dessen Wurzeln auch weit in die Vergangenheit reichen. Für die Minoer war er ein heiliger Akt zur Anrufung der Gottheit. Homer (etwa 800 v.Chr.) berichtet von dem Tanz des Dädalos für Ariadne. Antike Schriftsteller überliefern, dass die wichtigsten Tänze der hellenischen Zivilisation aus Kreta stammten.33 Der Tanz ist auch heute noch ein unentbehrlicher Teil jeder Festlichkeit in Kreta. Und er ist viel mehr als eine Volksbelustigung, denn er stiftet Gemeinschaft und letzten Endes die Identität, ein Kreter oder eine Kreterin zu sein.
Die Kreter unterscheiden bei ihren fünf Haupttänzen zwischen schleifenden bzw. schleppenden und springenden. Die meisten dieser Tänze werden im offenen Kreis getanzt, wobei sich die Tänzer ihre Hände gegenseitig auf die Schultern legen. Der Syrtós kritis oder Syrtós chaniotis ist ein schleppender Tanz im 2/4-Takt, der im Tempo je nach Musik zwischen langsam und schnell variiert. Der Pentozalis (Fünf-Schritt-Tanz) mit seinen kleinen komplizierten schnellen Fußbewegungen und Sprüngen erfreut sich großer Beliebtheit. Die Tänzer bilden eine lange halbkreisförmige Linie, die, wenn das Tempo sich steigert, oft auseinander reißt, um kühne Sprünge zu ermöglichen. Dieser Tanz entstand 1770 während einer - genau gesagt der fünften - Revolte gegen die Türken und erhielt daher auch seinen Namen.
Der Siganós ist ein langsamer schleppender Tanz, der dem Pentozali vorausgeht und mit dem oft Hochzeiten eröffnet werden. Die Tänzer halten sich an den Schultern und bewegen sich langsam gegen den Uhrzeiger zur Seite. Der Malevisiotis (oder Kastrinos, nach einem Stadtteil in Heraklion benannt) ist ein schneller (ursprünglich kriegerischer) springender Tanz. Er ist der schnellste und eindrucksvollste Tanz auf Kreta. Sein rasender Rhythmus und seine Lebendigkeit geben den Tänzern Gelegenheit, ihr akrobatische Können zu zeigen. Er ist ein typisch männlicher Tanz. Der Sousta ist der Tanz der Liebenden, der von Paaren im 2/4-Takt getanzt wird. Die Paare schauen sich dabei an, variieren die Basisschritte und drehen sich im Kreis. Dieser Tanz drückt Emotionen aus und gilt als einer der schönsten Liebestänze auf der Insel. Bei den springenden Tänzen springt der Anführer hoch und schlägt sich - ein Taschentuch haltend - auf die Schenkel und auf die Stiefel. Wenn den Anführer die Kraft verlässt, übernimmt der nächste das Taschentuch und versucht sich in noch komplizierteren Schritten und noch kühneren Sprüngen.
Kreta hat im Gegensatz etwa zu Deutschland noch eine echte, unverfälschte Volksmusik und die dazugehörigen Tänze, die aus einer Jahrtausende alten Tradition stammen und die auch heute noch vom Volk getragen werden. Sie konnten nur aus einer besonderen geschichtlichen Situation heraus entstehen. Die türkischen Besatzer, die das Land Jahrhunderte lang beherrschten, haben wie alle Okkupanten das in der Geschichte taten und auch heute noch tun, die Herausbildung einer Ober- und Mittelschicht verhindert, die ihnen hätte gefährlich werden können. Die griechische und die kretische Gesellschaft waren deshalb viel egalitärer als die Gesellschaften in Mitteleuropa.
So konnte die Volksmusik auf Kreta wegen der isolierten Insellage ihren authentischen Charakter bewahren. Sie musste auch keinen Kontinuitätsbruch hinnehmen wie ähnliche Richtungen in Deutschland durch den Missbrauch der Nazis mit allem, was mit „Volk“ zu tun hat. Eine echte Volksmusik gibt es heute in Deutschland nicht mehr. Was unter diesem Namen firmiert, ist volkstümliche Schlagermusik, die „traditionelle Instrumente und folkloristische Melodik und einfache Texte verbindet, die das Bedürfnis nach Geborgenheit bedienen. Die Globalisierung befördert das Bedürfnis nach Heimat. Die tröstliche Welt der Volksmusik bietet eine Parallelwelt jenseits der schlechten Nachrichten“.34
Genau das ist die kretische Volksmusik nicht, weil sie authentisch ist und die Eigenart der Insel und ihre Geschichte widerspiegelt. Zwar gibt es sie in den Touristenzentren auch als Folkore-Version, aber dann hat sie eigentlich schon ihren Charakter verloren, da sie zum bloßen Show-Objekt geworden ist. Man muss Kretas Musik an ihren Originalschauplätzen aufsuchen und erleben. Der Laoúto- und Lyraspieler Kostis Makakis (Episkopi) sagt: „Ein guter Lyraspieler muss immer original und authentisch bleiben, er darf sich nicht nach vom Kommerz bestimmten Moden richten. Ich spiele natürlich auch vor Touristen, aber nicht mit weniger Qualität. Musikalisch darf man da keine Zugeständnisse machen.“35
Damit ist die Frage der Kommerzialisierung angeschnitten. Natürlich gibt es Firmen, die diese Musik mit großem Erfolg verbreiten, und Radiosender, die nur kretische Musik spielen. Dennoch sehen Kenner die Gefahr der totalen Kommerzialisierung als nicht so groß an, weil das Niveau dieser Musik hoch und die Ansprüche an die Musiker immens sind. Die Kreter wissen sehr gut zwischen guten und schlechten Musikern zu unterscheiden.
Auch unter Jugendlichen ist diese Musik trotz des Einflusses der westlichen Popmusik sehr populär. Lyraspieler zu werden, ist unter jungen Leuten ein hohes Ideal. Zudem sind die kretischen Exilgemeinden in aller Welt ein wichtiger Antrieb für diese Musik, weil sie Künstler für Konzerte engagieren, Gagen bezahlen und CDs kaufen. Sie tragen neben den Kretern selbst dazu bei, diese Musik am Leben zu erhalten. Mit ihr können sie sich auch in der Fremde als echte Kreter fühlen. Die Lyramusik hat also außerhalb und auf der Insel selbst ein sehr starkes Identität stiftendes Moment. Die Lyra ist also nicht nur ein Instrument, sie ist viel mehr: Sie ist nicht nur das Markenzeichen und die „Stimme“ kretischer Musik, sie ist das Symbol kretischer Identität schlechthin, das auch die Verbindung zu einer als ruhmvoll empfundenen Vergangenheit herstellt. Die Beziehung der Kreter zu diesem Instrument ist hoch emotional, sie sprechen von ihrer „großen Liebe“ zur Lyra, die zu ihren Seelen spreche und ihnen die Sorgen lindere. 36
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Nikos Stavrakakis in einem Konzert

Die Polularität der Lyramusik wäre natürlich gar nicht möglich ohne ihre bedeutenden Interpreten, die wie Heroen oder Popstars verehrt werden. Mit Ehrfurcht sprechen die Kreter von den großen inzwischen verstorbenen Spielern wie Rodinos, Mountakis, Skordalos, Kládos, Xilouris und anderen. Aufnahmen von ihnen sind noch allgegenwärtig. Die berühmten lebenden Solisten wie Psarantonis, Skoulas, Stavrakakis und Ross Daly genießen Kultstatus. Ihre Auftritte haben Volksfestcharakter. Die Musik in Kreta führt also ein sehr dynamisches Eigenleben. Es muss also etwas dran sein an dem Wort von Mikis Theodorakis, dessen Familie väterlicherseits aus Kreta stammte und der die kretische Musik nicht nur sehr genau studiert hat, sondern sich immer auch auf ihr Vorbild für seine eigene Kompositionen
berufen hat: „Kreta ist Musik für mich!“ 37
 
 
Psarantonis und Nikos Xilouris - die Stimmen Kretas
 
Die kretische Musik ist nicht denkbar ohne die Familie Xilouris im kleinen Städtchen Anogia im Psiloritis. In dieser Familie scheint die Musik in den Genen zu liegen. Die beiden Brüder Antonis und Nikos sind Heroen in der Musikszene der Insel, aber es gibt auch noch zahlreiche andere Musiker und Sänger in diesem Clan. Antonis nennt sich Psarantonis, was folgende Bewandtnis hat: Sein Großvater war in den Bergen an vielen Kämpfen und Auseinandersetzungen mit den Türken beteiligt. „Mein Großvater wurde so gerufen“, erzählt er. „Er war sehr schnell auf den Beinen und hat die Türken gejagt. Es war eine Gruppe von sechs Leuten, tapfere Burschen, mit denen er immer unterwegs war. Es heißt, dass mein Großvater nicht nur schnell, sondern auch wahnsinnig kaltblütig sein konnte. Wenn sie einen Türken erledigen wollten, hat er ihn augenblicklich erwischt und fertiggemacht. Ein anderer sagte dann: 'Seht Ihr? Wie die Fische fängt er sie, die Türkenlümmel!' 38 So entstand der Name Psarantonis. Denn Psari heißt Fisch und 'Psaratourko' heißt dann so viel wie 'Türkenlümmel'.“ Sein Bruder Nikos trat als Künstler unter dem Familiennamen Xilouris auf. Er erlangte Weltruhm mit seinen Liedern, starb aber viel zu früh, 1980 mit 44 Jahren.
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Der Superstar der kretischen Musik: Xilouris. Porträts in dem kleinen Museum für den Sänger und Lyraspieler in Anogia

Psarantonis ist einer der großen Meister des Lyraspiels und verkörpert die kretische Musik wie kaum ein anderer. Es sei dahingestellt, wie weit es sich bei dabei um ein geschickt aufgebautes Image handelt oder um Authentizität. Ich halte ihn für authentisch, der Mann ist von großer Faszination und ein Kreter aus dem Psiloritis aus tiefster Überzeugung. Jedes Konzert mit ihm ist ein einmaliges Erlebnis.
Ich hatte vor Jahren einmal mit ihm persönlich zu tun. Ich war nach einem Auftritt zu ihm gegangen und hatte ihn um ein Interview gebeten. Etwas schroff lehnte er meinen Wunsch mit den Worten ab, er habe schon so viele Interviews gegeben, dass er nichts Neues mehr sagen können. Sagte es, lief zu seinem Auto und kam mit einem ganzen Stapel Zeitungsartikeln und gedruckten Interviews zurück, drückte ihn mir in die Hand mit den Worten: „Da steht alles über mich drin!“ Ich nahm ihm die Ablehnung meines Interviewwunsches nicht übel und gestand ihm sogar eine gehörige Portion Weisheit zu, den Medienleuten nicht hinterherzulaufen.
Kreter weisen immer wieder darauf hin, wie sehr eine Landschaft und ihre Mythen Einfluss auf die Ausformung der Lyra-Musik nehmen. Psarantonis kommt von den Höhen des Psiloritis. Auf die Frage, für wen er Lyra spiele und singe, hat Psarantonis ganz ernsthaft geantwortet: „Für Zeus.“ Und er fügte noch hinzu: „Denn es ist die Wahrheit. Sie haben alle tatsächlich existiert, und sie existieren noch: sowohl Zeus als auch Orpheus und Apoll.“ Das kann nur einer sagen, der selbst vom Dach der Götter stammt – vom Psiloritis. Psarantonis sagt über die Zeus-Höhle oberhalb der Nida-Ebene, in der der Gott seine Kindheit verbracht hat: „Es handelt sich um den weltweit bedeutsamsten archäologischen Ort. Der Gott der Götter ist dort geboren worden. Das meinen übrigens auch die Archäologen.“ Diese Höhle hat direkt mit seiner Musik zu tun. Vangelis Vekios, ein Freund des Lyraspielers und Sängers, ist überzeugt davon, dass diese Musik in den „Genen der Klänge festgeschrieben“ ist, die die Kureten vor der Höhle erzeugt hatten. Seine Stimme höre sich an, als käme sie aus den Eingeweiden der Erde und als habe sie ihren Ursprung in den Tiefen der Zeit. Psarantonis sei eins mit der Natur und überlasse es ihr, sich aus sich selbst heraus auszudrücken. Er versuche nicht die Natur zu zügeln, er fürchte sie nicht, er wolle sie nicht lenken, er sei verliebt in sie, er wolle vollkommen im Einklang mit ihr sein – in tiefer Ehrfurcht vor dem Gott, der uns umgebe.39
Die alten Sagen und Geschichten sind im Ida gegenwärtig geblieben, weil die grandiose Natur sie täglich wieder belebt und anschaulich macht. Der Psiloritis ist deshalb für die Kreter bis heute ein mythischer Ort. Seine Berge, Schluchten, Höhlen und Ebenen wurden zu Kampfplätzen für neue heroische Taten, aber auch Rückzugs- und Fluchtgebiet nach erbitterten Schlachten mit immer neuen Eroberern und Besatzern der Insel. Dieses Gebirge wird in den Liedern der kretischen Musik immer wieder besungen - auch von Psarantonis.
Er weiß natürlich um die Meisterschaft seiner Kunst und um seine Popularität. Seine Konzerte laufen zumeist nach der gleichen Regie ab - ich habe früher an anderer Stelle ein Konzert von Psarantonis geschildert. Ich greife auf diesen Text zurück, weil ich die Einmaligkeit dieses Mannes und seines Vortrages nicht zwei Mal beschreiben kann. Seine Musiker nehmen oben auf der hell angestrahlten Bühne Platz und stimmen ihre Instrumente. Dann kommt er, von Statur kleiner als man sich diesen Heroen kretischer Musik vorgestellt hat, ein scharf geschnittenes, wild-bärtiges Gesicht mit auf die Schultern fallendem leicht gelocktem, ergrautem Haar, was darauf hinweist, dass er die Sechzig überschritten hat. Er steuert auf das Podium zu, eilt die Stufen hinauf und nimmt auf seinem Stuhl in der Mitte des Halbrunds seiner Musiker Platz. Ein paar Streichübungen auf seiner Lyra, die er zärtlich und liebevoll umfasst, keine Vorrede, keine Begrüßungen, keine Ankündigung – ein Blick zu den Musikern, ein Kopfnicken und das Spiel beginnt: Leise, zart und sanft zupfend hebt die Gitarre an, der Rhythmus – geschlagen auf der Laoúto und mit den Händen auf einem großen Tongefäß – hält sich noch im Hintergrund, dann setzt Psarantonis mit der Lyra ein: Schroffe, raue und harte Schnörkel und Läufe, die Tonfolgen springen, kippen, hüpfen und wechseln in unendlicher Modulation und Vielfalt, scheinen keine Oktaven oder Intervalle zu kennen, sondern nur ungewohnte Schräglagen, die zunächst verletzend sägen, quälen, weinen und schmerzen – erst hart und zusetzend, dann lieblich schmeichelnd und beseeligend.
Das Instrument auf dem Knie abgestützt, die Saiten nur mit dem Fingernagel berührend und den Bogen mal leicht streichelnd, mal temperamentvoll niederdrückend, errichtet er tonale Gegensätze, um sie augenblicklich wieder fallen zu lassen und neue Tonfolgen aufzubauen. Der Eindruck von Dissonanz verschwindet nach wenigen Augenblicken, die Klänge finden zueinander, ordnen sich, fügen sich zu harmonischem Ganzen.
Dann kommt der Rhythmus in Gang, monoton stampfend, schlagend, schiebend, pulsierend. Und darüber schwebt, mal verhalten lieblich, leise und lyrisch, mal jammernd, klagend und traurig, mal wild ausgelassen und leidenschaftlich, die Lyra. Abrupt unterbricht Psarantonis sein Spiel, und den Part der Lyra übernimmt seine Stimme: tief, heiser, rau und schrundig setzt sie ein. Immer wieder brechend, manchmal gurgelnd, mal gefühlvoll und zart, dann explodierend, steigt sie auf zum höchsten Jubilieren – er wirft dabei wie ein balzender Vogel den Kopf mit der langen Mähne in den Nacken, um im nächsten Augenblick abzustürzen und mit tiefem Bass im Kehlkopf zu gründeln, zu baden, zu schwelgen, da wo er den Bauch berührt. Sein Gesang klingt dann, als ob er als Echo aus einem rostigen Rohr in den Eingeweiden der Erde zurückgeworfen würde.
Ein kurzer Augenkontakt mit seinen Leuten, und wieder stampft der Rhythmus in wildem Galopp. Die springenden Tonfolgen der Lyra werden dichter und dichter, brechen überraschend hierhin und dorthin aus, überschlagen sich in dithyrambischer Ausgelassenheit. Der Bogen lacht, springt, tanzt auf den Saiten, der Rhythmus wird schnell und schneller. Die Spannung steigert sich, wird zur Ekstase, ist kaum noch zu ertragen, steuert einem wilden, gierigen, verschlingenden Höhepunkt zu – und mündet in einer orgiastischen Explosion, der ermattete selige Entspannung folgt. Aber nicht um schweigend zu verklingen, denn nun setzt quäkend, quiekend und raumgreifend der Dudelsack ein, die Askomandoura, jammernd und klagend, melancholisch und traurig, um augenblicklich und unerwartet und ohne Übergang in jubelnde Freude und Heiterkeit auszubrechen, getragen vom wieder in schnelle Fahrt kommenden Stampfen des Rhythmus’, der alles durchdringt und mit sich fortreißt. An dieser Stelle kann auch die Flöte einsetzen, das uralte bukolische Instrument der Hirten, das wie die Askomandoura in schnellem Wechsel weinen und jubeln kann, wenn es vom schweren und entbehrungsreichen und doch so herrlichen Leben in den Bergen erzählt.
Aber diese Instrumente sind nur Beiwerk, spielen nur eine Nebenrolle in der großen Inszenierung, die Psarantonis mit seiner Lyra und seinem heiseren Gesang ganz beherrscht. Der Mann spielt sein Instrument nicht, er ist völlig verwachsen, ja eins mit ihm. Nur diese totale Identität lässt ahnen, was er ihm zu entlocken vermag. Er streichelt es zärtlich, ja erotisch hingebungsvoll und lässt den Bogen über die Saiten gleiten und tanzen. Dann behämmert er sie rhythmisch, klopft auf den hölzernen Boden der Lyra und berührt den Steg liebevoll mit den Lippen, legt ihn dann an die Stirn, als wolle er die Kraft seiner Gedanken und Gefühle auf das Holz übertragen. Dabei hat er seine Leute immer im Blick und sie hängen mit ihren Augen an ihm, richten ihr Spiel nach seinen Gesten und Blicken aus, was große Konzentration erfordern muss, denn nie spielt er etwas zwei Mal. Jedes Stück entsteht neu – durch überraschende Wendungen, Variationen und Improvisationen, gerade wie es aus diesem brodelnden Vulkan hochkommt und ausbricht. Das Unerwartete und Unvorhergesehene liegt hinter jeder Berührung des Bogens mit den Saiten. Es gibt nichts Festes, Statisches, nichts Fixiertes. Und wenn der stampfende Rhythmus rast, die Lyra durch die blitzartig umschlagenden Tonreihen und Kadenzen ächzt, stöhnt, quietscht und jubiliert und Psarantonis wie in wildem Rausch den Kopf zurückwirft, bukolische Schreie ausstößt, in tiefes Gurgeln verfällt und sich stimmlich in Urlandschaften bewegt, dann kann nur der Mythos veranschaulichen, aus welchen Tiefen der Tradition hier einer schöpft.
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Psarantonis bei seinem Gesangsvortrag

Psarantonis ist ein faunischer, orgiastischer Barde, ein bukolischer Orpheus, ein Satyr – vor allem aber ein musikalisch rasender Dionysos. Denn die Merkmale dieses geheimnisvollsten der antiken Götter waren die unablässige Bewegung, die Form im ewigen Wandel, das Spontane, Plötzliche und Unvorhergesehene. Dionysos war die Naturgewalt des unvermittelten Hervorbrechens. Genau das ist auch das Wunder an Psarantonis' Musik: Alles an ihr ist Tradition, baut auf Mythos, Antike, Orient und auf byzantinischem Erbe auf, um all das aber sofort wieder abzulegen und aufzubrechen in neue, nie gehörte Tonlandschaften, die ewig in Wandel und Umbruch sind. Die Musik dieses Magiers ist wie der berühmte Fluss des Philosophen Heraklit: Man kann nie zweimal in ihn hineintreten, weil er dann schon wieder ein ganz anderer ist. Glückliche Griechen, die an ihren Mythen anschließen können und dabei nie Gefahr laufen, auf weltanschauliche Abwege zu geraten wie die Deutschen mit ihrem Missbrauch des Mythischen und den daraus entstandenen furchtbaren historischen Folgen!
Wer des Griechischen und obendrein des kretischen Dialekts nicht mächtig ist, kann nicht verstehen, worüber dieser Barde der Götter singt. Ich habe das Gesehene und Gehörte tief auf mich wirken lassen. Nachträglich erst habe ich mir Übersetzungen seiner Lieder und Stücke besorgt und war überrascht, worum es da ging. In meiner Phantasie hatte ich mir ausgemalt, dass einer dort Gewaltiges zu seiner Musik kundgibt: Geschichten von Kämpfen zwischen den Göttern und Menschen, von kühnen Heldentaten kretischer Freiheitskämpfer in der Abwehr fremder Eroberer und von der Leidenschaft großer Liebender. Gesungene und gespielte Erzählungen, die er oben auf dem Gipfel des Psiloritis im Kreis der versammelten Götter hätte vortragen können. Und wenn dem nicht so wäre, so würden seine Lieder die tiefsten Tiefen der Erde ausloten, die höchsten in den Himmel ragenden Spitzen der Berge preisen – oder sie würden endlich das ewige Geheimnis des Orpheus lüften.
Aber da war meine Phantasie auf Abwege geraten. Psarantonis erzählt ganz einfache kleine lyrische Geschichten: Er wirft Steine zum Mond hinauf, weil er will, dass er schnell verschwindet. Denn der Erdtrabant soll Platz machen für seine alte Liebe, damit ihr Strahlen sein Haus erleuchte. Ein Mädchen besingt er, das er liebt, weil sie so schön lange geflochtene Zöpfe hat. Doch sie macht etwas Schreckliches, sie schneidet sich die Zöpfe ab und verliert so ihre Schönheit. Er fragt in einem Lied die wilden Bergziegen, die neben den Adlern als die freiesten Geschöpfe des Psiloritis gelten, nach ihrem Zuhause, ihrer Weide und ihrer Tränke. Und sie antworten: Unser Zuhause ist oben in den Wäldern und den Höhlen der Berge. Ein Rebhuhn, das auf der Nida-Hochebene herumtanzt und sich produziert, aber Angst vor den Jägern hat – Symbol für ein geliebtes Mädchen – beruhigt er mit den Worten: „Vertrau mir, ich habe keine Flinte dabei!“ Er preist die Schönheit einer Frau, die er in Chania auf der Straße gesehen hat: „Ihr Gesicht war hell wie die Sonne, ihr Busen war wie der Mond, eine Schlange lief durch die Luft: das Band, das sie im Haar trug.“ Und er bekennt: „ Meine Gedanken sind wie alter Wein, Gefährten meiner Feste, aber manchmal machen sie mich auch krank; dann bin ich nicht in der Lage, das Mindeste auszusprechen.“
Seine Lieder handelten alle von der Liebe, hat er einmal gesagt. Von welcher Liebe? Was ist Liebe? „Die Liebe gilt allen Dingen. Es ist unnötig, sie auf irgendetwas Bestimmtes zu richten. Und wenn du sagst, es ist die Liebe zur Natur, dann hast du es. Die Natur wird dir Liebe geben, wenn du in der Lage bist, mit ihr zu sprechen. Wenn du nicht mit der Natur sprichst, dann schenkt sie dir keine Musik. Wenn alle Menschen versuchen würden, mit der Natur zu sprechen, dann würden wir in einer besseren Welt leben.“ Und die Lyra – was ist sie für ihn? „Sie ist das Herz des Menschen. Das Instrument Gottes.“ Der griechische Journalist, zu dem er diese Sätze bei einem Interview sagte, bekannte nach dem Gespräch: „Ich reiste Tausende Jahre zurück, und noch einmal so viel voraus.“40
Die Konzerte enden meistens so merkwürdig wie sie beginnen. Psarantonis erhebt sich von seinem Stuhl und geht einfach von der Bühne. Kein Wort der Absage oder des Dankes an das Publikum. Wenn der Beifall sich zum Orkan steigert und die Menschen eine Zugabe fordern, steigt er noch einmal aufs Podium, setzt sich, wieder ein gebietender Blick zu seinen Musikern, ein Nicken als Antwort und das Spiel beginnt noch einmal: wild, bukolisch und berauschend. Dann tritt er endgültig ab. Ohne ein Wort, ohne eine Geste.
Wieder einmal in Anogia. Als Deutscher wird man dort ein beklemmendes Gefühl nicht los. Die Männer dieses Ortes hatten sich während der deutschen Besetzung ganz besonders gegen die fremden Okkupanten gewehrt. Viele von ihnen gingen als Partisanen in die umliegenden Berge. Der Kommandant der Festung Kreta, der deutsche General Müller, hatte am 13. August 1944 verfügt: Da die Stadt Anogia ein Zentrum britischer Spionagetätigkeit sei und der Ort verschiedenen Widerstandsgruppen Unterschlupf gewährt habe, sei sie dem Erdboden gleichzumachen und jeder männliche Einwohner hinzurichten, wenn er in dem Ort oder in dessen Umkreis angetroffen werde. Der Befehl, der heute auf einer Tafel am Mahnmal gegen den Krieg vor dem Rathaus in Deutsch zu lesen ist, wurde mit deutscher Gründlichkeit umgehend ausgeführt. Alle 950 Häuser des Ortes wurden zuerst niedergebrannt und dann mit Dynamit gesprengt. Auch die wirtschaftliche Basis der Bewohner wurde vernichtet: Viehzucht und Wollverarbeitung. Die Schaf- und Ziegenherden nahmen die Wehrmachtssoldaten mit oder töteten sie. 117 Menschen wurden in der Besatzungszeit von den Deutschen hingerichtet. In vielen Risitikas haben sich die Trauer und die Wut, der Schmerz und die Verzweiflung über die Untaten der „Germanos“ niedergeschlagen. Im Blick auf sie heißt es in einem Gedicht: „Verflucht sei das Land, verdammt sein Stamm, auf dass Jahrhunderte vergehen ohne Vergebung.“41
In der ersten Augusthälfte jeden Jahres - genau bis zum 15. des Monats - gedenken die Einwohner der Kämpfe um ihren Ort, dessen Zerstörung, der Gefallenen und der übrigen von der Wehrmacht Ermordeten. Und wie sollte man hier oben im Ida-Gebirge anders gedenken als mit Musik? Anogia und kretische Musik - das ist ein Synonym, auch wenn man in anderen Teilen der Insel ganz anderer Meinung ist. Dieses kleine Städtchen, das hauptsächlich von der Landwirtschaft und der Schafhaltung in den Bergen lebt, hat viele berühmte Musiker hervorgebracht, darunter seine beiden berühmtesten Söhne: Xilouris und Psarantonis.
Schlendert man durch die Gassen der Unterstadt, springt einem der Name Xilouris überall in die Augen: die Besitzer von Tavernen, Supermärkten, Metzgereien und Souvenirläden tragen diesen Namen. Jeder scheint hier mit jedem verwandt zu sein. Gemeinsam ist allen aber der Stolz auf Nikos, der fast drei Jahrzehnte nach seinem Tod noch fast kultisch verehrt wird. Er ist immer noch allgegenwärtig. Es gibt kaum einen Laden, ein Schaufenster, in dem sein Bild nicht hängt, oft neben dem eines Heiligen. Das Freilichttheater in der Oberstadt ist nach ihm benannt und die Musik-Festtage Anfang August sind ihm gewidmet. Auf der kleinen plateia in der Unterstadt, wo ein Kafenion oder Restaurant neben dem anderen liegt und wo deren Besitzer die Touristen sehr aufdringlich an ihre Tische zu locken versuchen, steht neben dem Denkmal für den Partisanenführer Christomichalis Xilouris ein turmartiges kleines Haus, in dessen Erdgeschoss der Xilouris-Kult seinen Höhepunkt findet: Ein Reliquienschrein sozusagen, vollgestopft mit Familienbildern, Fotos und Artikeln an den Wänden über diesen Bob Marley der kretischen Musik.
Zwei lebensgroße Fotos zeigen den Mann, dem neben seiner musikalischen Begabung und seiner großen Stimme auch das Aussehen eines Götterlieblings, eine Menge Charme und ein strahlendes Charisma gegeben waren. Eine alte Frau, ganz in Schwarz gehüllt, ist die Hüterin dieser Schätze. Sie stellt mir gleich unaufgefordert ein großes Glas Raki, Käse und Zwieback hin und will mir ein kretisches Kopftuch verkaufen. Ich möchte gern einiges zu den Bildern wissen, aber sie ist keiner fremden Sprache mächtig, obwohl hierher so viele Touristen kommen. Sie zeigt immer wieder auf die Bilder und erklärt: „Nikos (Xilouris) tot! Psarantonis Heraklion (wo er wirklich wohnt), Kriti musiki poly orea! (kretische Musik ist sehr schön!)“ Mehr bekomme ich aus ihr nicht heraus, mein Griechisch reicht nicht dazu. Der Bruder Psarantonis ist in diesem Kultraum mit nur wenigen Fotos vertreten.
Das Schicksal der Musiker-Familie Xilouris könnte einer antiken Tragödie entnommen sein. Xilouris wurde 1936 in Anogia geboren, er brachte es zu Weltruhm. Er war der Superstar der Lyramusik. Aber wen die Götter lieben, den nehmen sie früh zu sich: Xilouris starb 1980 mit 43 Jahren in New York an einem Gehirntumor. Für die Menschen blieb er die Stimme Kretas und der Erzengel Kretas. Auch 32 Jahre nach seinem Tod ist er für den Rest der Welt noch immer der Botschafter der kretischen Musik. Vor allem ihm ist es zu verdanken, dass aus der Musik einer Insel im östlichen Mittelmeer plötzlich „Weltmusik“ wurde. Was macht den einmaligen Erfolg dieses kretischen Barden aus? Die Musikwissenschaftlerin Maria Hranaki sieht ihn vor allem in der Würde und dem Ethos begründet, womit er die kretische Musiktradition vertrat. Sein einmaliges stimmliches Timbre zusammen mit seiner zeitlosen archetypischen Ausdruckskraft habe der kretischen Musik eine ganz neue Dimension gegeben, egal was er gesungen habe.42
Der in Kreta lebende irische Musiker Ross Daly, der Xilouris noch persönlich kannte, sieht es ganz ähnlich. Er schreibt: „Obwohl er sich der kretischen Musiktradition annäherte, war Nikos Xilouris sehr innovativ. Was auch immer er sang, er fügte ihm einen frischen unverwechselbaren, persönlichen Sound hinzu. Er hatte alle die großen Lyra-Spieler vor ihm sehr genau studiert und eignete sich die Essenz ihrer Musik an, ohne sie jemals zu kopieren. Dieses Wesentliche wurde Teil seines Seins, er wusste es in seiner einzigartigen und kreativen Weise zu nutzen. Das ist die Art, in der alle großen Traditionen wachsen und sich entwickeln - eben durch solche bemerkenswerten Persönlichkeiten wie Nikos Xilouris.“
Weiter schreibt er: „Für die Griechen (nicht nur für die Kreter) ist er in der Tat eine Verkörperung der Summe aller Tugenden des archetypischen kretischen Geistes. Es war seine einzigartige Persönlichkeit, in der sich die Eigenschaften des Stolzes, der Demut und der Einfachheit vereinigten. All dies sicherte ihm einen vorderen Platz in den Herzen der Griechen und in ihrer Erinnerung.“43
Der kretische Komponist Jannis Markopoulos hatte ihn entdeckt und mit ihm erste Aufnahmen gemacht. Er produzierte mit Xilouris, dessen reine Stimme er die beste Griechenlands nannte, auch eine neue Version von sehr alten Risitika, in denen Krieg und Widerstand, aber auch die Lebensfreude eine große Rolle spielen. Etwa:
 
Was habt ihr alle rundherum
und euer Herz ist schwer,
ihr esst nicht und trinkt nicht
und ihr vergnügt euch nicht,
bevor der Tod uns findet
und uns packt,
alle Generationen packt
und die Männer auswählt
und junge Leute zu den Waffen ruft.
 
Ein Risitiko hat die Bergziegen zum Thema, die ein Symbol für den Widerstandskampf in den Bergen sind:
 
Meine Bergziegen und Bergzicklein,
meine zahmen Hirsche,
sagt mir, wo euer Land ist
und wo eure Winterquartiere sind.
Steile Felswände sind unser Land,
und in engen Schluchten ist unser Winterquartier,
kleine Berghöhen sind unser Elternhaus,
meine Bergziegen und Bergzicklein ...44
 
Nach großen Erfolgen soll es zwischen den beiden zum Zerwürfnis gekommen sein, danach gingen beide eigene Wege. Xilouris hatte schon mit zwölf Jahren mit dem Lyraspiel begonnen, mit 17 gab er sein erstes Konzert im Kastro in Heraklion, einem berühmten Restaurant, in dem kretische Musik aufgeführt wurde. Mit 20 gewann er den ersten Preis auf dem Volksmusikfestival in San Remo (Italien). In den frühen siebziger Jahren sang er auch vertonte Texte von renommierten griechischen Dichtern wie Nikos Gatsos, Jannis Ritsos, Georgios Seferis, Kostas Varnalis und Dionysos Solomos. - eine musikalische Richtung, die Mikis Theodorakis begründet hat. Die Kompositionen zu diesen Dichtungen stammten von Stavros Xarhakos, Christodoulos Halaris und eben von Jannis Markopoulos. Durch diese Lieder wurde er in ganz Griechenland bekannt.
Immer wieder wird Xilouris mit Che Guevara in Verbindung gebracht, ihre Fotos sieht man oft nebeneinander. Die Nähe zu dem kubanischen Revolutionär ist auf sein unbeugsames und unerschrockenes Engagement zurückzuführen, mit dem er der von 1967 bis 1974 in Athen herrschenden Militärjunta entgegentrat. Als die Studenten am 17. November 1973 das Polytechnikum in Athen besetzten, über einen eigenen Sender zum Kampf gegen die Junta aufriefen und damit das Ende der Militärherrschaft einläuteten, stand Xilouris hinter ihnen, und die Studenten sangen seine Lieder, die zum Teil von Markopoulos stammten. Seinem Glauben an die Freiheit, die Unabhängigkeit und die schöpferische Kraft des Menschen ist er stets treu geblieben. Das haben ihm die Griechen nicht vergessen.
 
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Xilouris wird auf der Insel verehrt wie Che Guevara. Portäts des Lyraspielers neben dem des kubanische Revolutionärs vor einer Taverne

Einen Spaß hat er sich mit einem seiner berühmtesten Lieder gemacht: Filedém, Filedém..., ein Wort, das es in der griechischen Sprache nicht gibt. Es wurde gerätselt: War es ein Code-Wort britischer Agenten im Zweiten Weltkrieg? Ist es ein türkischer Vorname, dann würde es mein „Freund Edem“ bedeuten. Wenn Xilouris Filedém, Filedém. oh! Amán-amán! ich liebe ein türkisches Mädchen, das ich in der Moschee getroffen habe..., singt, wird klar, was er meint!
Als die Nachricht von seinem Tod die Insel erreichte, hat ganz Kreta geweint, wie noch noch erzählt wird. Ein tragisches Geschehnis, das Stoff für neue Mythen und Gesänge lieferte, aber auch dem Bruder, der bis dahin im Schatten des Größeren und Berühmteren gestanden hatte, den Weg frei machte. Psarantonis ist aber nie der Versuchung erlegen, Xilouris nachzuahmen. Er ist seinen eigenen Weg gegangen – eigenwillig und konsequent – und muss den Vergleich mit ihm nicht scheuen.
 
 
Zum selben Thema hat Arn Strohmeyer ein Buch geschrieben. Es ist unter dem Titel „Die Lyra singt, tanzt und lacht. Vom Zauber kretischer Musik“ im Verlag Thomas Balistier (Mähringen) erschienen, ISBN 978-3-937108-30-8.
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Kretischer Tanz ist auch schon bei Kindern und Jugendlichen populär

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