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- Bei allen solchen Musikevents - Familienfeiern, Festen, Konzerten usw. - ist die eindeutig männliche Dominanz nicht zu übersehen. Kevin Dawe spricht in diesem Zusammenhang immer wieder von gelebten „Männlichkeitsidealen“ und sogar von „Machotum“. Er merkt an: „Die Männer haben immer die Kontrolle, auch wenn die Frauen den Tanz beginnen. Denn sie tanzen nach der Melodie eines Lyra spielenden Mannes. Sie [die Männer] machen die Musik und sorgen für das Auftreten (appearance) der Instrumente, sie überschauen den Fortgang der Veranstaltung - so werden Männer und Instrumente zum Symbol für Autorität, für Männlichkeit, für Dorfidentität, für Kretatum und Tradition. Letztendlich steht die Lyra im Focus der Aufmerksamkeit, da Spieler und Instrument eins zu werden scheinen.“11
- Wie sehr die Männer das Geschehen bei Musikevents im Griff und unter Kontrolle haben, belegt folgendes Detail: Der Lyraspieler muss sich bei seiner Darbietung an den Rahmen eines traditionellen Regelwerkes halten, er muss aber auch musikalisch wie verbal improvisieren. Dieses Zwischenspiel ist von großer Bedeutung (ohne es wäre er ein schlechter Spieler) und sorgt für eine Gemeinschaft der Männlichkeit.12 Die verbalen Improvisationen werden beim Vortragen der Mantinaden vorgenommen - halb gesprochene, halb gesungene lyrische Reimpaare mit jeweils 15 Silben. Sie sind ein wesentliches Element der kretischen Musiktradition und werden oft als ihr „Blut“ oder ihre „Seele“ bezeichnet. Oft zitiert jemand - der Lyraspieler, ein Gastspieler oder ein Gast - einen solchen Vers, dann folgt ein kurzes Zwischenspiel des Lyraspielers oder seiner Gruppe, worauf eine andere Person gleichsam als Echo mit einem neuen improvisierten Reim antwortet, was große sprachliche Geschicklichkeit erfordert. So können regelrechte Wort- oder Versgefechte ausgetragen werden, die oft mit Witz, Anzüglichkeiten, Erotik, Nostalgie oder sogar Beleidigungen gespickt sind.
- Der Ablauf einer Hochzeitsfeier zeigt, mit welcher Lebensfreude solche Feste begangen werden, er zeigt aber auch, dass sie ausgesprochen männlich bestimmt sind und eine „Gemeinschaft der Männlichkeit“ bilden - vor allem durch die vorgetragenen Mantinaden. Der Lyraspieler leitet die Veranstaltung, indem er das Publikum geschickt von Thema zu Thema führt.13 Er beginnt etwa mit einer Mantinade, die die bis zum Tod dauernde Treue der Ehefrau beschwört:
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- Wenn ich sterbe,
- wenn ich sterbe, als eine Kerze
- wenn ich sterbe, als eine Kerze
- als eine große Kerze solltest du leuchten
- und als eine große Kerze solltest du leuchten.
- Und deinen Namen auf mein Grabkreuz,
- deinen Namen auf das Kreuz
- meines Grabes solltest du schreiben,
- auf mein Grab solltest du schreiben.14
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- Der Text dieser und der folgenden Mantinaden kann vom Lyraspieler durch Improvisationen ergänzt werden. Die verbalen Wortgefechte, die Einschübe und Solos des Lyraspielers, der auch variiert und improvisiert, und der Wechsel der Themen schaffen eine ganz eigene Dynamik, die sich auf die Tänzer überträgt. Eine Mantinade kann dann etwa lauten:
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- Meine vielfarbige Blume (Hyazinthe),
- meine vielfarbige Hyazinthe,
- komm, sag mir, wie es dir geht.
-
- Komm, sag mir, wie es dir geht,
- wo kann die Schönheit gefunden werden
- und der Wohlgeruch, den du hervorbringst?
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- Meine vielfarbige Hyazinthe,
- meine vielfarbige Hyazinthe,
- das Beste an dir ist:
-
- Das Beste an dir ist:
- Wer will dich sehen und wird nicht sagen:
- Sei will kommen, meine Blume.15
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- Zwei Gäste können anschließend einfallen und sich über einen möglichen Ehebruch des Bräutigams lustig machen:
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- „Komm zu ihren Freuden und allen ihren Reichtümern!“
- [Ausdruck für den Charakter der Frauen auf Kreta]
- und zu allen ihren Reichtümern
- Hurrah! und zu allen ihren Reichtümern!
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- Komm, mein Vogel, lasse sie am Ufer,
- sie will dich nicht sehen,
- und sie wird nicht eifersüchtig auf dich sein,
- Hurrah! eifersüchtig auf Dich.
-
- Und wenn sie keinen eifersüchtigen
- Streit mit dir anzettelt,
- Streit mit dir anzettelt,
- werde ich Wasser von der Platane zu dir bringen. 16
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- Die Musiker verstehen es, mit einer Steigerung des Tempos von Melodie und Rhythmus bis an die Grenzen ihrer Spielkunst bei Tänzern und Publikum eine Begeisterung auszulösen, die etwas Rauschhaftes hat. Der Lyraspieler tut das Seine dazu, indem er mit seinen Improvisationen von bekannten Melodiemustern abweicht und mit seinem rasenden Spiel die Tänzer zu immer schnelleren Drehungen und Wendungen antreibt. Die tanzenden Männer (vor allem der Anführer) vollführen dann schwierige Schrittfolgen und kunstvolle Akrobatik - etwa Sprünge, die als Beweis von viriler Stärke und Geschicklichkeit gelten. Auch dazu gibt es eine Mantinade:
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- Wenn der Kreter tanzt, zeigt er seine Männlichkeit,
- seine Vornehmheit, seine Leventia und seine Tapferkeit.
- Er dreht sich, blickt auf den zweiten Schritt,
- macht den starken Schwung und einen größeren Schwung. 17
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- Unter Opa! Opa!-Rufen des Lyraspielers (ein Schrei zur Ermunterung) erreicht die Stimmung ihren Höhepunkt, den die Kreter kéfi nennen, was man am besten mit Hochstimmung übersetzen kann. An diesem Punkt der Ausgelassenheit schießen die Männer mit Gewehren in die Luft. Diese Knallerei, bei der es bisweilen auch Verletzte und Tote gibt, ist ein Ausdruck von Lebensfreude, Solidarität und männlichen Idealen. 18
- Festlichkeiten auf Kreta haben aber strenge Regeln, die je nach Ort variieren können. Sie sind für die Teilnehmer von großer sozialer Bedeutung, weil sie für Zusammenhalt (oder Rivalität) in der Gemeinschaft sorgen. Immer aber liegt die Hauptverantwortung für das Gelingen eines Festes bei den Musikern und besonders beim Lyraspieler. Er bestimmt die Themen der Mantinaden, das Tempo des Spiels und die Improvisationen in der Musik und ist so für die Stimmung und den Verlauf des Festes ganz maßgeblich verantwortlich. Er hält das Fest letztendlich zusammen und sorgt dafür, dass es nicht in Chaos versinkt - die Leute nicht ausrasten, zu viel trinken und das Schießen außer Kontrolle gerät. Für den Musiksoziologen Kevin Dawe ist all dies ein Beleg dafür, dass solche Veranstaltungen „männlich“ bestimmt sind, ja männlichen Idealen folgen. 19
- Zwischen dem Lyraspieler, dem Publikum und den Tänzern besteht eine sehr enge Interaktionsbeziehung. Der Laoúto- und Lyraspieler Kostis Makakis (Epiksopi) erklärt, dass die Musiker sich jeweils ganz auf die Tanzenden einstellen müssten und das sei im eigenen Dorf eben viel einfacher, weil man die Leute kenne, als in fremden Orten.20 Der deutsche Lyraspieler Stefan Petersilge bestätigt diese Aussage, indem er darauf hinweist, dass jedes Tanzveranstaltung ein „psychologisches Drama“ sei, auf das sich der Lyraspieler einstellen müsse.21
- Die Mantinaden sind die„Seele“ der kretischen Musik, sie machen den poetischen Teil der Dreiheit Musik, Dichtung (Lieder) und Tanz aus. Sie handeln von Liebe, Leidenschaft, der Schönheit des Lebens, der Freude, der Zuversicht, der Heimatverbundenheit, aber auch von den Sorgen und Nöten und der Niedergeschlagenheit der Menschen. So lauten Mantinaden:
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- Mond, dir hat man so viele Geheimnisse anvertraut,
- warum habe ich niemals gehört, dass du eins preisgegeben hast?
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- Die Liebe macht mich zu einem Kind und bedrängt mich so oft,
- dieses Leben zu verlassen, ohne erwachsen zu werden.
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- Wir begrüßen euch Schwalben im Frühling,
- in einer Jahrtausende alten Zivilisation.
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- Es gibt keinen anderen Schmerz, der so wehtut, ja tötet,
- wie eine heimliche Liebe, die unerwidert bleibt. 22
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- Überaus populär sind in der kretischen Musik auch die Verse aus dem Epos Erotókritos, das der Dichter Vizentzos Kornaros zu Beginn des 17. Jahrhunderts geschrieben hat. Er lebte in Sitia und gehörte vermutlich einer gräzisierten venezianischen Adelsfamilie an, stammte also aus der gebildeten Schicht. Seine Sprache aber ist die des einfachen Volkes, was wohl die Popularität dieser Fünfzehn-Silben-Reime bis in die Gegenwart erklärt. So singen die Lyra- oder Laoútospieler auch heute noch die Verse:
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- Von allen freundlichen Dingen auf dieser Erde,
- sind es schöne Worte, die den größten Wert haben,
- und wer sie nutzt mit Charme und List,
- der bringt die Augen der Menschen zum Weinen oder zum Lachen.23
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- oder:
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- Wahr ist das Sprichwort: Wer dem zustimmt,
- dass die Holzköpfe herrschen, ist selbst ein Narr.24
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- oder:
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- Wer die großen Dinge des Lebens will,
- aber nicht weiß, dass er damit nur auf der Straße reist,
- und der sich seines Adels und seines Reichtums rühmt,
- den tue ich als einen Niemand ab, als einen Verrückten.
- Denn diese Dinge sind wie Blumen, die kommen und gehen,
- und die Zeit schafft sie oft einfach beiseite.25
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- Neben den Mantinaden erfreuen sich in der kretischen Musik auch die Risitika großer Beliebtheit. Auch sie handeln von Liebe, Freundschaft und dem Tod, haben aber auch Verlust und Befreiung, Widerstand und Rebellion, Kampf und Heldentum zum Thema. Sie sind oft Jahrhunderte alt und werden in immer neuen Variationen gesungen, verlieren aber nie ihre ursprüngliche Form und Kraft. Risitika werden von Männern gesungen, wobei der Vorsänger die Strophen vorträgt und der Chor sie wiederholt. Viele Risitika sind zur Zeit der Türkenherrschaft entstanden, andere während des Kampfes gegen die deutsche Besatzung. So lautet eine:
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- Ich breche Lorbeer und Myrten vom Psiloritis,
- um die Toten zu bekränzen, die für Kreta starben.
- Mein Kreta, du Diamant, Lehrer der Freiheit,
- die deine Geschichte jedes Mal mit Kugeln schreibt.26
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- Eine Risitiko des berühmten Sängers Stavrakakis lautet:
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- Man muss ruhig sein, damit man die Nachricht von denen
- hören kann, die ihre Wurzeln tief im Boden haben,
- in Ruinengräbern und zerbrochenen Knochen,
- gewässert mit verschiedenen Farben des Bluts,
- sodass die Stimme, die in all diesen Jahren und Zeiten kämpft,
- vielleicht nach oben kommen wird,
- die Stimme, die sich schleppt hinter all den Clans und unzähligen Vorfahren,
- um mit männlichem Stolz über die ganze Erde zu sagen,
- dass dieses Land nicht in Angst und Panik ist.
- Es wird nicht ausradiert werden, es wird nicht sterben.27
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- Viele Risitika haben die deutsche Besetzung 1944 - 44 und das Wüten der Wehrmacht zum Thema:
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- Von den Hügeln Galatas vernahm ich Schrei’n und Weinen,
- ob Charon wohl vorüberkam, ob der Tod wohl nahte?
- Nicht Charon kam vorüber, noch der Tod traf ein,
- allein aus Deutschland kamen Mörder.
- Sie schlachten, sengen in den Dörfern und entehren Kirchen,
- die Vögel verstummten, und die Bäume verdorrten,
- und die Flüsse stockten von dem vielen Weh.28
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- und:
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- Auf dem Felde von Agiia höre ich Schreien und Weinen.
- Was ist das für ein Trauern hier, für eine Totenklage?
- Mütter weinen um ihr Kind, um ihren Mann die Witwen,
- um ihre Brüder die Geschwister und die Kinder um den Vater.
- Wie aus Brunnen fließen Tränen, schwemmen in die Erde,
- und vor so viel Traurigkeit und so viel Schmerzen
- neigen Bäume ihr Geäst und verdorren Gräser.
- Seid verflucht, ihr Deutschen, ihr habt Kreta abgebrannt! 29
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- Neben der Landschaft, die immer wieder besungen wird, spielt der Mythos eine große Rolle in den Liedern. Beide sind eine wichtige Quelle der Inspiration und Entstehung dieser Musik, und sie hängen eng zusammen. „Musik ist sozial“, schreibt Maria Hranaki, „weil sie Mittel bereitstellt, durch welche die Menschen ihre Identität und geographischen Räume erkennen, aber auch die Grenzen, die sie trennen.“30 Viele Orte in Kreta werden mit antiken Mythen in Verbindung gebracht, und es ist erstaunlich, wie lebendig sie im Bewusstsein der Menschen noch immer sind. Die Verehrung gilt vor allem Zeus, der im Psiloritis - in ihrem Gebirge also - geboren wurde und aufwuchs. So werden zahlreiche Mantinaden gesungen und zu ihnen getanzt, die Zeus preisen:
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- Kronos wurde genarrt für viele Tage und Nächte,
- Zeus wuchs auf mit Hilfe der Koureten.
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- Zeus, Vater der Götter, ich rufe dich heute Nacht an,
- du wurdest auf Kreta geboren; wir werden das nie vergessen.
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- Obwohl Zeus ein mythischer Gott ist, denke ich an ihn
- als einen wirklichen Gott, er steht sogar noch höher.
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- Die Einwohner von Anogia betrachten sich sogar als Nachfahren der Koureten, die Zeus vor der Höhle bewacht hatten:
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- Die Nachkommen der Koureten leben in Anogia,
- auch nach so vielen Jahren ehren sie den Gott Zeus.
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- Die Pauken der Koureten machen großen Lärm:
- Es scheint so, dass du auch heute Nacht schreist, Zeus.31
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- Immer am 6. Juli feiern die Bewohner von Anogia im Ida-Gebirge ein Fest für Zeus in den Bergen bei einem Kirchlein, einem steinernen Rundbau (Mitata), wie ihn schon die Minoer vor Jahrtausenden für ihre Hirten hier errichteten. Neben dem Göttervater ist es auch Hyazinth gewidmet, der zwei Identitäten hatte: Er war ein schöner Jüngling, in den sich Apoll verliebt hatte, tötete ihn aber unabsichtlich mit dem Diskus. Aus dem Blut des sterbenden Jünglings erwuchs eine Blume, die Hyazynthe. Apoll bestimmte, dass Hyazynth durch das Fest der „Hyazynthia“ geehrt werden sollte. Es gibt aber auch einen christlichen Märtyrer namens Hyazynth. Die Bewohner von Anogia, die den apollinischen Brauch übernommen haben und auch ihr Fest so nennen, umgehen mit der Einbeziehung des Märtyrers in ihr Fest geschickt den Vorwurf des Heidentums. Beide Traditionen - antike und christliche - leben hier nebeneinander. Symbolisch wird auf diesem Fest die Rettung des jungen Zeus tänzerisch dargestellt: Ein Darsteller ist Zeus, die anderen sind die Koureten. Die dazu vom Lyraspieler gesungene Mantinade lautet:
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- Zeus, du solltest Nachsicht mit den Koureten haben,
- denn sie haben dein Schreien durch Paukenschläge überdeckt.
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- Zeus hatte nur geringe Chancen zu überleben,
- aber die Schilder der Koureten haben ihn gerettet.32
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- Der Mythos und die Poesie leben in der kretischen Musik, aber er ist nicht denkbar ohne das dritte Element der Dreiheit: den Tanz, dessen Wurzeln auch weit in die Vergangenheit reichen. Für die Minoer war er ein heiliger Akt zur Anrufung der Gottheit. Homer (etwa 800 v.Chr.) berichtet von dem Tanz des Dädalos für Ariadne. Antike Schriftsteller überliefern, dass die wichtigsten Tänze der hellenischen Zivilisation aus Kreta stammten.33 Der Tanz ist auch heute noch ein unentbehrlicher Teil jeder Festlichkeit in Kreta. Und er ist viel mehr als eine Volksbelustigung, denn er stiftet Gemeinschaft und letzten Endes die Identität, ein Kreter oder eine Kreterin zu sein.
- Die Kreter unterscheiden bei ihren fünf Haupttänzen zwischen schleifenden bzw. schleppenden und springenden. Die meisten dieser Tänze werden im offenen Kreis getanzt, wobei sich die Tänzer ihre Hände gegenseitig auf die Schultern legen. Der Syrtós kritis oder Syrtós chaniotis ist ein schleppender Tanz im 2/4-Takt, der im Tempo je nach Musik zwischen langsam und schnell variiert. Der Pentozalis (Fünf-Schritt-Tanz) mit seinen kleinen komplizierten schnellen Fußbewegungen und Sprüngen erfreut sich großer Beliebtheit. Die Tänzer bilden eine lange halbkreisförmige Linie, die, wenn das Tempo sich steigert, oft auseinander reißt, um kühne Sprünge zu ermöglichen. Dieser Tanz entstand 1770 während einer - genau gesagt der fünften - Revolte gegen die Türken und erhielt daher auch seinen Namen.
- Der Siganós ist ein langsamer schleppender Tanz, der dem Pentozali vorausgeht und mit dem oft Hochzeiten eröffnet werden. Die Tänzer halten sich an den Schultern und bewegen sich langsam gegen den Uhrzeiger zur Seite. Der Malevisiotis (oder Kastrinos, nach einem Stadtteil in Heraklion benannt) ist ein schneller (ursprünglich kriegerischer) springender Tanz. Er ist der schnellste und eindrucksvollste Tanz auf Kreta. Sein rasender Rhythmus und seine Lebendigkeit geben den Tänzern Gelegenheit, ihr akrobatische Können zu zeigen. Er ist ein typisch männlicher Tanz. Der Sousta ist der Tanz der Liebenden, der von Paaren im 2/4-Takt getanzt wird. Die Paare schauen sich dabei an, variieren die Basisschritte und drehen sich im Kreis. Dieser Tanz drückt Emotionen aus und gilt als einer der schönsten Liebestänze auf der Insel. Bei den springenden Tänzen springt der Anführer hoch und schlägt sich - ein Taschentuch haltend - auf die Schenkel und auf die Stiefel. Wenn den Anführer die Kraft verlässt, übernimmt der nächste das Taschentuch und versucht sich in noch komplizierteren Schritten und noch kühneren Sprüngen.
- Kreta hat im Gegensatz etwa zu Deutschland noch eine echte, unverfälschte Volksmusik und die dazugehörigen Tänze, die aus einer Jahrtausende alten Tradition stammen und die auch heute noch vom Volk getragen werden. Sie konnten nur aus einer besonderen geschichtlichen Situation heraus entstehen. Die türkischen Besatzer, die das Land Jahrhunderte lang beherrschten, haben wie alle Okkupanten das in der Geschichte taten und auch heute noch tun, die Herausbildung einer Ober- und Mittelschicht verhindert, die ihnen hätte gefährlich werden können. Die griechische und die kretische Gesellschaft waren deshalb viel egalitärer als die Gesellschaften in Mitteleuropa.
- So konnte die Volksmusik auf Kreta wegen der isolierten Insellage ihren authentischen Charakter bewahren. Sie musste auch keinen Kontinuitätsbruch hinnehmen wie ähnliche Richtungen in Deutschland durch den Missbrauch der Nazis mit allem, was mit „Volk“ zu tun hat. Eine echte Volksmusik gibt es heute in Deutschland nicht mehr. Was unter diesem Namen firmiert, ist volkstümliche Schlagermusik, die „traditionelle Instrumente und folkloristische Melodik und einfache Texte verbindet, die das Bedürfnis nach Geborgenheit bedienen. Die Globalisierung befördert das Bedürfnis nach Heimat. Die tröstliche Welt der Volksmusik bietet eine Parallelwelt jenseits der schlechten Nachrichten“.34
- Genau das ist die kretische Volksmusik nicht, weil sie authentisch ist und die Eigenart der Insel und ihre Geschichte widerspiegelt. Zwar gibt es sie in den Touristenzentren auch als Folkore-Version, aber dann hat sie eigentlich schon ihren Charakter verloren, da sie zum bloßen Show-Objekt geworden ist. Man muss Kretas Musik an ihren Originalschauplätzen aufsuchen und erleben. Der Laoúto- und Lyraspieler Kostis Makakis (Episkopi) sagt: „Ein guter Lyraspieler muss immer original und authentisch bleiben, er darf sich nicht nach vom Kommerz bestimmten Moden richten. Ich spiele natürlich auch vor Touristen, aber nicht mit weniger Qualität. Musikalisch darf man da keine Zugeständnisse machen.“35
- Damit ist die Frage der Kommerzialisierung angeschnitten. Natürlich gibt es Firmen, die diese Musik mit großem Erfolg verbreiten, und Radiosender, die nur kretische Musik spielen. Dennoch sehen Kenner die Gefahr der totalen Kommerzialisierung als nicht so groß an, weil das Niveau dieser Musik hoch und die Ansprüche an die Musiker immens sind. Die Kreter wissen sehr gut zwischen guten und schlechten Musikern zu unterscheiden.
- Auch unter Jugendlichen ist diese Musik trotz des Einflusses der westlichen Popmusik sehr populär. Lyraspieler zu werden, ist unter jungen Leuten ein hohes Ideal. Zudem sind die kretischen Exilgemeinden in aller Welt ein wichtiger Antrieb für diese Musik, weil sie Künstler für Konzerte engagieren, Gagen bezahlen und CDs kaufen. Sie tragen neben den Kretern selbst dazu bei, diese Musik am Leben zu erhalten. Mit ihr können sie sich auch in der Fremde als echte Kreter fühlen. Die Lyramusik hat also außerhalb und auf der Insel selbst ein sehr starkes Identität stiftendes Moment. Die Lyra ist also nicht nur ein Instrument, sie ist viel mehr: Sie ist nicht nur das Markenzeichen und die „Stimme“ kretischer Musik, sie ist das Symbol kretischer Identität schlechthin, das auch die Verbindung zu einer als ruhmvoll empfundenen Vergangenheit herstellt. Die Beziehung der Kreter zu diesem Instrument ist hoch emotional, sie sprechen von ihrer „großen Liebe“ zur Lyra, die zu ihren Seelen spreche und ihnen die Sorgen lindere. 36
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