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Virtuelles Magazin 2000


Jörg Boström.

Ruth Hallensleben. Eine Interpretin auf der Bühne der Industrie.

Etwa 200 Kontaktbücher, tausende von Kontaktkopien im Format 6 x 6 und 6 x 9, versehen mit Strichen zur Ausschnittangabe, zur Nachbelichtung, mit Zahlensignaturen für den persönlichen Archivgebrauch, das ist ein Niederschlag des fotografischen Oeuvres, es sind Bilder aus Industriebetrieben. Wer stellt hier die Fragen, diese Fotografien oder ich? Gibt es Antworten irgendwo dazwischen? Ein Gefühl der Faszination stellt sich ein, vermischt mit Langeweile über Wiederholung des Immer Gleichen. Kontinuität der Industriefotografie wird sichtbar. Diese Bilder habe ich schon einmal, mehr als einmal gesehen, so ähnlich von anderen Fabrikaten, anderen Werksfotografen, in anderen Zeitschriften. Diese erstaunliche Monotonie eines ästhetisch dichten Netzes nimmt gefangen. Wie in einem Netz selbst hängen erstarrt, nicht mehr zappelnd, diese Menschen, die es einmal gegeben hat, beim Feilen, Bohren, Sortieren, in Habt-Acht-Stellung vor dem Meister, als aufmerksame Lehrlinge, als Bomben pflegende Arbeiterinnen im Hausfrauenlook.

Ein fotografisches Wachsfigurenkabinett, denke ich.

Ruth Hallensleben stellt Menschen und Sachen fest, eine Madame Tussaud der Fotografie oder eine Regisseurin von Tableaux vivants der Industrie.

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Eisengießerei Ferndorf, Siegen, 1942
(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

 

Diese "Realität" erhält die fast magische Ausstrahlung einer unwirklichen Bühnenwelt mit den Maschinen und Werkshallen, den Versatzstücken von Industrieräumen als Kulisse.

Diese Menschen dienen. Sie dienen nicht nur in der Realität. Sie dienen auch als Standfiguren in den Industriefotografien. Auf eine widersprüchliche Weise und im Gegensinn zur fotografischen und werbenden Ansicht kommt so etwas wie "Wahrheit" ins Spiel. Die Wirklichkeit der Verhältnisse, ohne die eine abbildende Fotografie nicht auskommt, spielt mit.

Wir haben es zu tun mit einer inszenierenden, inszenierten Fotografie. Menschen und Dinge sind Teil einer Art Sachfotografie.

Bedenkenswert in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass sich diese geführten Arrangements als Industriefotografien problemlos einfügen in die ebenfalls geführte, arrangierte, im Extremfall in Kolonnen und Blocks sortierte nationalsozialistische Gesellschaft. Resultate einer solchen geführten Kommandofotografie sind Bilder einer gewünschten Wirklichkeit, wie sie dem Denken, Wünschen und vielleicht auch der Illusion einer autoritären Führungsstruktur entspricht, wie sie in den Fabriken im Bereich der Chefs vorherrschen. Wenn Ruth Hallensleben mit ihrer Industriefotografie die Bildbedürfnisse der Industriewerbung und ihres Weltbildes zufriedenstellend interpretiert, ihnen zum Ausdruck verhilft, macht dieser Zusammenhang von Ästhetik und Industriewelt zugleich aufmerksam auf die "moderne" Seite des Faschismus, die jenseits von Blutmythen und völkischem Gedröhn eine auf die Gesellschaft insgesamt gewaltsam gestülpte industrielle Disziplinierung zu Wege brachte. Der funktionierende Industriearbeiter im Gleichschritt der Produktionsrhythmen wird zum Modell für den Arbeiter der Stirn, für die auf Produktion abgestillten Frauenformationen, für das maschinenhafte Funktionieren des Heeres, der gleichförmig kühl starrenden Jugend usw. Stark, sauber und besinnungslos, voller "Würde" und "Ehre", in detaillierten Verrichtungen wie ein Handwerksmeister, aber ohne Konzeptübersicht, ohne Kritikfähigkeit am Ganzen ist dieser Menschentypus, den die Foto-Designerin Ruth Hallensleben parallel und in Übereinstimmung mit den Wünschen ihrer Auftraggeber und den herrschenden Kräften ihrer Zeit herausmodelliert. Solche Bilder als gestellte Wunsch- und Auftragsbilder gehen deshalb nicht an der Realität vorbei. Sie sind nicht "reine Erfindung". Sie bringen in makabrer Klarheit die Formensprache einer Weltanschauung zum Ausdruck, die politische und später militärische Wirklichkeit geprägt hat.

So ist solche arrangierte, werbliche Dokumentation gerade wegen ihrer Künstlichkeit oft höher am formierenden und deformierenden Kern realer Verhältnisse als manche beim Eindruckshaften stehenbleibende Life Fotografie. Die Inszenierung verpasst zwar den "entscheidenden Augenblick", den nicht immer entscheidenden, für die kalkulierende kurze Dauer eines Standbildes, einer kollektiven Pose, sie verrät aber zugleich die treibenden Gedanken und Pläne der Auftraggeber und vielleicht auch der Fotografin selbst.

Man muss gegenüber solcher Fotografie immer wieder festhalten, dass hier nicht etwa Autorenfotografie, selbstbestimmte Bildsuche, eigene Aussage über Existenz und Gesellschaft oder ein subjektiver, ästhetischer Kanon die Bildproduktion steuern und vorantreiben, sondern Aufträge.

Auch als Berufsfotografin ist Ruth Hallensleben eher den heutigen Werbefotografen vergleichbar als den Bildjournalisten, näher den inszenierenden Lichtbildnern als den Suchern mit der Kamera. Es geht ihr nicht um Fragen an die Industriewelt, nicht um Darstellung sozialer Konfliktfelder, zwischenmenschlicher Kontakte, nicht um künstlerische Reaktion auf Technik im Sinne der subjektiven Fotografie, der neuen Sachlichkeit oder der Bauhaus Fotografie, es geht um die Veranschaulichung von Industrieprozessen mit menschlichen Handlangern, um Verdeutlichung von "Tatsachen", welche im Kopf der Auftraggeber so und nicht anders sein dürfen. Diese Zielsetzung gibt den Bildern ihre ingenieurhafte Nüchternheit. Sie lässt nur selten romantischen oder propagandistischen Schwulst zu.

Die Ausstrahlung von technischer Klarheit, Distanziertheit bei gleichzeitiger unbezweifelbar funktionsfähiger Apparatewelt, in die der Mensch als eine emotionslose Puppe eingebunden ist, macht die Bilder von Ruth Hallensleben zu Klassikern der Industriefotografie. Was hier vorliegt, ist die ästhetische Methode der Medusa aus der antiken Sage, welche die Menschen, die sie anblicken, zu Steinsäulen erstarren lässt.

Als Ruth Hallensleben 1934 zu fotografieren beginnt, ist die Fotografie insgesamt längst in Dienst genommen von der alle Lebensbereiche organisierenden und formierenden Weltanschauung des Nationalsozialismus. Aber auch in der Zeit vorher deuten sich solche Entwicklungen an. Bereits 1930 stellt Kurt Tucholsky fest: "Die Berufsfotografie ... krankt daran, dass sie dem Kunden keine Vorschriften machen kann er macht ihr welche, und so sehen diese Fotografien auch aus" 1 Wenn Wolfgang Born 1929 behauptet:

"Die Kamera kann heute ihre beste Tugend, ihre Wahrhaftigkeit, ungehemmt entfalten" 2, so arbeitet er damit der Propagandawirkung dieses Mediums zu, welche auf den I Irrtum des Betrachters setzt, das fotografische Bild stelle die Wirklichkeit zur Anschauung.

Tatsächlich gestaltet der Berufsfotograf Weltanschauung. Insofern bezieht sich der Anspruch der Fotografie auf Authentizität, auf Dokumentation von dem, was ist, in erster Linie auf das, was in den Köpfen und Vorstellungen einer Zeit als Bild der Welt sich abmalt oder was sich dort festsetzen soll und was die professionelle Kamera in "Lichtbildern" gestaltet.

Heiner Kurzbein, Vorsitzender des "Reichsverbandes Deutscher Amateurfotografen", bringt 1933 diesen Auftrag auf den Punkt: "Das Fotobild ist Kunst, die dem Mann der Stirn und dem Mann der Faust das Leben bereichert und mithelfen muss im Kampf um die Überwindung der Klassen und Stände... Der Berufs-, Presse- und Amateurfotograf soll sich bewusst sein, dass das Bild ebenso wie das gesprochene und gedruckte Wort werben kann für die Ziele unseres Führers" 3. Die Erfüllung der "hohen Mission im Zeichen der nationalen Aufbauarbeit" zu erfüllen, dem Außenstehenden durch die Kamera zu zeigen, "was die Grundlage allen Fortschritts ist: Ehre, Arbeit und Brot", macht Josef Goebbels bei der Eröffnung der Ausstellung "Die Kamera" am 4.11.1939 den Fotografen zur Pflicht. Der "Berufsfotograf steht", wie Wilhelm Niemann meint, "mit seiner Arbeit fest, wenn er richtig im Volksganzen verankert ist, stets im Dienste einer höheren und größeren Aufgabe..." 4. Auf der gegenüberliegenden Seite des Kataloges ist das Foto zu sehen, auf dem Adolf Hitler als braver Zivilist dem militärisch dekorierten Reichspräsidenten Hindenburg die Hand gibt. Die Ausstellung selbst zeigt kaum Fotografien aus der Industrie, umso mehr "Heimatkunde, Volkstum, Raumschmuck und Bilder zu bevölkerungspolitischen und rassenpflegerischen Fragen". Das gesellschaftspolitische Umfeld der Fotografie ist markiert, Ziele, Aufgaben und Möglichkeiten in hässlicher Offenheit festgeschrieben, als Ruth Hallensleben ihre Tätigkeit als Berufsfotografin aufnimmt. Eine Frau des Widerstandes ist sie nicht, und "innere Emigration" kann einer von Foto- und Industriearbeit gleichermaßen faszinierten Person nicht in den Sinn kommen, die gerade beginnt, in die Spitzengruppe ihres Berufsstandes vorzustoßen.

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Jörg Boström beim Vortrag in Hattingen am 22.2.2013

 

"Die Berufsfotografen, gewohnt, solide Auftragsarbeit im Interesse des Auftraggebers (Staat, Industrie, Privatpersonen) auszuführen, sich ihren Wünschen und Maßgaben unterzuordnen, dokumentierten damit ihre politische Bewusstlosigkeit" 5, stellt Lothar Kräussl in einer Untersuchung über die Geschichte der (GDL) Gesellschaft deutscher Lichtbildner fest. Ich füge hinzu, dass das gegenwärtige Wissen über den hohen Grad an Übereinstimmung der Bevölkerung, gerade bei den bürgerlichen Schichten mit dem NS-Staat in einem langen Verdrängungsprozess durch die mechanisch wiederholte Beteuerung des Mitläufertums und das Vorgebens einer Zwangslage, verdunkelt ist. Die Erfüllung des Auftrages, "vorwärtsschauend dem Aufbau des Vaterlandes auf neuer Grundlage zu dienen", wie Grainer, 1. Vorsitzender der GDL, bereits 1929 programmiert, wird ohne Zwang angenommen. Der § 1 der GDL-Satzung von 1938 ist klar: "Ihr (der GDL, J.B.) ausschließlicher Zweck ist somit die Förderung der deutschen Kultur für Führer, Volk und Reich" 6. Widerstand oder heimliche Verweigerung proben diese Fotografen nicht. Sie sehen auch nicht zur Seite und nicht dahinter, nicht im hellen Licht ihrer Lampen und nicht in der roten Dämmerung ihres Labors, die zur Diskussion gestellte Fotografin auch nicht. Als sie 1936 in die GDL berufen wird, ist die "Gleichschaltung der Bilder" (Diethard Kerbs) 7 längst vollzogen.

Nach einer Phase der Auftragsfotografie in landschaftlicher und landwirtschaftlicher Idylle im Sinne der Heimatpflege sieht sie, "brüllend vor Begeisterung" 8 zum ersten Mal das Innere einer Fabrik, eine Fotowelt, die sie in immer weiteren, variierenden und sich wiederholenden Aufträgen in Szene setzt.

Ruth Hallensleben entwickelt eine fotografische Bildsprache, welche Bedeutung, Form und Rollenverteilung dieser Produktionssphäre im Sinne einer industriellen Weltanschauung formuliert, sie wird lange Zeit das Bild der Industrie entwerfen, das bis heute viele hauseigene Publikationen und Festschriften schmückt.

Dass dies vor dem Hintergrund einer Gesellschaft geschieht, in welcher der Faschismus aufgehoben ist wie das Wasser im Schwamm, macht über die fotografische Ästhetik ihrer Bilder hinaus den "modernen", an technischer Organisation, an Führungs- und Produktionsstruktur der Industrie orientierten Anteil der nationalsozialistischen Heilslehre deutlich, der neben der mythischen Sagen- und Volksdoktrin, dem Heiden und Totenkult ihr den verhängnisvollen Erfolg ermöglicht. "Die nationalsozialistische Bewegung ist heute die politische Kirche des deutschen Volkes", sagt Goebbels auf dem Gau-Kulturtag der Danziger NSDAP am 9. Mai 1937 9.

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Maschinenfabrik Meer, Mönchengladbach, 1941
(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

 

Die Industrie als fotografisches Thema ist längst von den Arbeiterfotografen entdeckt, deren für die Lage der Arbeiter engagierte Kamera von der Betriebsleitung gefürchtet und von den Nationalsozialisten 1933 zertreten wird. Bereits 1927 werden in der "Deutschen Arbeitgeberzeitung" die Arbeiterfotografie‾ als "Hilfstruppen des kämpfenden Proletariats" ausgemacht. Es wird vorgeschlagen, dass man "... die nötigen Konsequenzen ziehen möge, wenn ein Arbeiter irr Betriebe mit einer fotografischen Kamera herumschleicht..., denn auf ein wenig mehr oder weniger Betriebsspionage kommt es diesen Schwarzkünstlern.

den Arbeiterfotografen, bekanntlich nicht an" 10. Unter dem Vorwand der Betriebsspionage, aber zuerst noch wegen der Forderungen einer Image Werbung, werden bis heute Industriereportagen erschwert. Bis heute ist die kritische, realistische Kamera auf dem Werksgelände nicht gern gesehen. Der Arbeiterfotografie wird die Industriefotografie gegenübergestellt mit ihren klaren, weltanschaulichen Normen und Direktiven. In diesem Feld entfaltet der Berufsfotograf als Auftragnehmer seine Technik und sein Talent. Dr. Kurt Wehlau wird in seiner Abhandlung über "das Lichtbild in den Werkzeitschriften" deutlich genug: "Vor allem gilt es.dem Arbeiter Freude an der Arbeit zu geben...

Mit dem Bild kann auch die Achtung voreinander in der Werksgemeinschaft gehoben werden - und somit erst die richtige Werksgemeinschaft entstehen" .

Das Amt "Schönheit der Arbeit" in der "Deutscher Arbeitsfront" liefert über die einzelnen Werks Aufträge hinaus den ideologischen Rahmen, die Zielvorgabe, das "Briefing", wie es heute abgekürzt in der Werbesprache heißt. Damit ist der Punkt erreicht, von dem aus die Industriefotografie allgemein und im Besonderen Falle auch die der Ruth Hallensleben zu betrachten ist: als Form der Werbefotografie.

Es geht um eine Inszenierung der Produktion, es geht um Inszenierung der gesellschaftlichen Macht, es geht um Inszenierung des sozialen Gefüges, es geht um Inszenierung des Menschenbildes. Sachlichkeit des Stils als Suggestion "Objektivität", Detailtreue als Stilmerkmal und die Anmutung der Exaktheit, Nüchternheit, die fotografische Fertigung mit industrieller Fertigung verbinden, geben diesen Fotografien ihre geschlossene ästhetische Gestalt. Der Industriearbeiter wird als Handwerker gewürdigt. Das "Werkstück" erscheint nicht als Ergebnis maschineller Produktion, sondern als „Werk“ des Arbeiters, das Werk selbst, die Fabrik, als gemeinsamer Schaffensraum der Arbeiter der Stirn und der Faust. Ruth Hallensleben misslingen pathetische Darstellungen. Ihre handwerklich exakte Arbeitsweise lassen "visionäre" Gestaltungen nicht zu. So entgeht sie, bis auf wenige, misslungene Versuche, dem Nazikitsch der die blühende Körper Seligkeit der Bilder etwa von Leni Riefenstahl kennzeichnet. "Die Ausschaltung der freien Meinungsäußerung und Manipulation, was gesagt, gedruckt, getan und gedacht werden durfte, führte zu einer sogenannten 'Inszenierung des öffentlichen Lebens", schreibt Annette IIlenberg in einer Magister Arbeit über die Propagandamittel im Dritter Reich(1985) 12.

Inszenierung bestimmt auch die Fotografie von Ruth Hallenleben. Sie hat eine technische, eine ästhetische und eine ideologische Begründung. Präzise Durchzeichnung von Maschinen und Räumen verlangt bei schwach empfindlichem Filmmaterial Stativ Arbeit, kleine Blende und lange Belichtungszeit, ebenso eine sorgfältig kalkulierte Bildkomposition, insbesondere, wenn die Fotografin auf Blitzlicht und den übermäßigen Einsatz künstlicher Lichtquellen verzichtet. Entsprechend ihrer Vorstellung von wirklichkeitsnaher Wiedergabe bevorzugt sie das "natürliche" Licht, welches in einzelnen Fällen durch Lampen unterstützt wird. Die Notwendigkeit, Menschen im Arbeitsprozess entsprechend der Forderung nach Würde und "Schönheit der Arbeit" zu zeigen, bedingt eine studiohafte, aber möglichst getreue Inszenierung ihrer Haltungen, stillgelegten Bewegungen, ihrer Zuordnung zu Maschine und Mensch in sorgfältiger Abstimmung von Gestik und Raum.

Die Ernsthaftigkeit des Ausdrucks, die für ihre Bilder typische Versunkenheit in den Handgriff, in die "schaffende Geste", erklärt sich auch aus der Notwendigkeit, diese Pose bewusst und geführt einzunehmen und über mehrere Sekunden, wie an einzelnen Negativserien erkennbar, auch mehrere wiederholte Aufnahmen festzuhalten. Der Arbeiter, die Arbeiterin, sie werden zu Modellen. Insofern wird die ganze Inszenierung zum Modell der gedachten Wirklichkeit des Industriebetriebes. Was die Industriebilder von Ruth Hallensleben auszeichnet, ist die künstliche, rekonstruierte Wirklichkeit in stehenden Bildern. Fotografien könnten eine Verräter Rolle übernehmen. Sie dienen nicht nur den Fotografen und Auftraggebern, sie hintergehen auch, kolportieren, tratschen, weisen auf Fakten hin, die sich wie Kassiber aus dem Knast der kontrollierten Gestaltung schmuggeln. Was verraten die Bilder von Ruth Hallensleben?

Ihre Rekonstruktionen von technischer Umwelt geben nicht Auskunft von natürlich gesehener Arbeitswelt, sind nicht behutsame Beobachtung von Produktions- und Kommunikationsprozessen, nicht die Darstellung der Arbeitswelt als Lebensraum und der Arbeiter und Arbeiterinnen als Individuen. Sie kommen jedoch den strukturellen Verhältnissen einer Fabrik umso näher. Nichts an dieser Produktionswelt ist "natürlich". Sie ist ein Ingenieur Konstrukt. Ihr entspricht eine Fotografie, die in berechneten Kompositionen gebaute Umwelt ins Bild bringt, die Menschen in die ihnen bereits von der Produktionsseite abverlangten Posen und Positionen durch Bildregie erneut in die Fotofläche und damit ins Bewusstsein des Betrachters rückt. Im Zeitabstand bekommen diese Bilder eine eigenartige trockene Magie, die Selbstverständlichkeit er überall gegenwärtigen Atmosphäre von Herrschaft und Unterwerfung. Es ist diese für Industriefotografie auch allgemein charakteristische Aussage, die in der Zeit des Nationalsozialismus durch die allgegenwärtige Inszenierung und Dekoration mit Symbolen Parteien und Bildern ihres Führers eine makabre Zuspitzung erfährt.

Ruth Hallensleben leistet sich und für uns gelegentlich einzelnen Fotografien eine Akzentuierung dieses historischen Tatbestandes, der in ihrer kalten formalen Überspitzung an die Unwirklichkeit einer Erinnerungsinszenierung des Films heranreicht und - sicher ungewollt - das Groteske der Situation herausstellt.

hitlerpause

Bremme-Bräu, Wuppertal, 1942
(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

 

Die Sachlichkeit der Darstellung von faschistischer Allgegenwart kippt um in heute zum Teil surreal anmutende Kommando Präsenzen des "Führers" (Abb. S. 26).

Er stemmt den Ellenbogen heraus im Ölbild, das über den Kantinenessern schwebt. Er hämmert in riesigen Frakturzeilen seine Sprüche auf die zwischen die Maschinen geduckten Arbeiter hinunter (Abb.2). Er tönt sein Wort zum Alltag aus dem Volksempfänger. Brav feilt der sorgfältig gekämmte Lehrling seinen Modellkopf eines Soldaten.

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Sanitaswerke, Berlin, 1939
(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

 

In Werkssportveranstaltungen "schweben" stämmige Mädchen eine Treppe hinunter, auf den Schatten der Fotografin zu, mit Hakenkreuz Zahnrademblemen der Deutschen Arbeitsfront auf den Brüsten (Abb. S. 20).

Den meisten Mädchen misslingt auf anrührend plumpe Weise diese "Schönheit der Arbeit", sie möchten gerne anmutig sein, mit zurückgeworfenem Kopf und ausgebreiteten Armen lächelnd dem Licht entgegen, für das Werk, für den Führer und die Fotografin.

Man muss sich vorstellen, wie diese Girls Truppe immer wieder die Treppe hinaufgescheucht wurde, um auf Pfiff hin den erneuten Abgang zu versuchen. Am oberen Bildrand, jenseits der Treppe, sieht man drei Mantelzivilisten als kleine dunkle Silhouetten. Die Fotoaktion wird auch von außen kontrolliert.

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(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

Eine groteske Gymnastikszene in einer Turnhalle zeigt ein weiteres Bild, in der die Riegen posieren in Reih und Glied, als Handstand Truppe, auf dem Kopf, an der Kletterwand, auf Reck und Pferd (Abb.3).

Man hört förmlich die Pfiffe des Turnmeisters und die inzwischen aus ihrer Biografie bekannte Pfeife der Fotografin selbst, mit der sie ihre Statisten steuert: fotografisches Vorturnen als Zeitbild.

Ob die Autorin das Groteske der Situation durch Überspitzung herausarbeiten wollte, oder ob es ihr als korrekter Fotohandwerkerin in der Zusammenschau fotografischer Komposition und propagandistischer Raumdekoration unterlaufen ist, muss offenbleiben.

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Siegener Maschinenbau A.G., Siegen, 1944
(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

 

Über Papiere gebeugt sieht man eine Gruppe der Werksleitung in einer nach vorne offenen Halbkreis Komposition (Abb. S. 28).

Die Männer beugen den Nacken unter dem Bronze Führerkopf, der den geduckten Halbkreis zu einer Pyramiden Komposition ergänzt.

Hitler blickt uns an. Auch uns.

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Omnibusfabrik Kässbohrer, Ulm
(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

 

Nicht immer geraten die Symbole in die Bildachse. Wie nebenbei tauchen Zeichen auf, welche die Dekoration der Macht zu unterlaufen scheinen: "Ost" auf dem Rücken einer Arbeiterin (Abb.S.29), der Wortfetzen "Ordner" auf dem Gewölbe Bogen einer Kellerarchitektur, Kopftücher, die nicht mehr "deutsch" sind.

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(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

Die Vielzahl von Arbeiterinnen in der Schwerindustrie würde als emanzipatorisches Zeichen missverstanden werden und signalisiert in dieser Zeit viel mehr noch Kriegswirtschaft, weibliche "Reservearmee", Dienerinnen an der "Heimatfront". Sitzgruppen im Luftschutzbunker einer Fabrik, sauber ausgeleuchtet, tiefenscharf, im Hochformat, zeigen Enge und ergebenes Warten auf die Bombe (Abb. S. 29).

Solche Bilder sind bei aller Künstlichkeit auch Dokumente ihrer Zeit im Zeitstil gekämmter, gesäuberter Sachlichkeit, hinter welcher der Schrecken spürbar ist für den, der sie heute betrachtet.

Ihre symbolische Vollendung findet die Arbeit dieser selbstbewusst dienenden Gebrauchsfotografin in den Dokumentationen unterirdischer Fabrikanlagen (Abb.4), welche die Kriegsrüstung vor der britischen Luftüberlegenheit und Spionage bauen ließ und in welchen KZ- und "Fremdarbeiter" die Felsen sprengten und das Geröll transportierten für eine erhoffte V-Waffenproduktion. Sie sei, erzählt sie, in verschlossenem Wagen und mit verbundenen Augen dorthin geschafft worden.

maschine

König & Bauer, Schnellpressen-Fabrik, 1941
(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

 

Ein realer Foto Agentenkrimi, der sie nur vor Ort die Augen öffnen ließ, um die Kamera zu bedienen. Etwas wirklich gesehen hat sie nicht von diesen "Tod durch Arbeit"-Aktionen, gesehen auch nicht die Signatur von Wahnsinn und Verbrechen. Das Film- und Bildmaterial, nicht nur diese makabre Welt, wurde es vollständig gegen Ende des Krieges vernichtet?

Der Schock des Scheiterns sitzt nicht sehr tief, der Schrecken des Verbrechens ist herausgefiltert, nicht nur im öffentlichen Bewusstsein, auch in der Fotografie.

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(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

 

Die psychische Erkaltung, die im "Dritten Reich" vorbereitet wurde erhält in der Aufbauwut der 50er Jahre Schutzfunktion. Auch die Kamera der Hallensleben wird immer kälter. Das Handwerkerideal der Industriearbeit gerät zur surrealen Montage von Mensch und skurrilem Massenprodukt, aus Bomben werden Gummipuppen (Abb.5).

Die Fabrikideologie kippt. In den Fotografien der 50er Jahre artikuliert sich - wieder gegen die Intention des Auftraggebers und der Gebrauchsfotografin - Entfremdung. Was Ruth Hallensleben jetzt in Szene setzt, ist eine Form der Dingmagie, welche auf die Menschen übergreift. Immer weniger treten sie, dienend oder nicht, in die Bildmitte, immer mehr überwuchert, verselbständigt sich die Sach- und Maschinenwelt. Unverändert ist die auf handwerkliche Qualität bedachte äußere Bildgestaltung, die anscheinend unbeabsichtigt das Denken und Handeln ihrer Zeit mit transportiert. Die Tatsache, dass in der Fotografie die Ästhetik des "Dritten Reiches" vielfach bruchlos in die Bildwelt der Bundesrepublik hineingepflanzt werden kann 13, ist nicht mehr als ein Symptom für die wenig veränderte Bewusstseinslage einer Nation, welche das Übermaß an Schuld durch ein Übermaß an Verdrängung und "Arbeitstherapie" zu kompensieren sucht. Die Kälte der 50er Jahre ist eine Reaktion auch auf die "Unfähigkeit zu trauern" 14, die das Psychologenpaar Mitscherlich analysiert. Als Wärmflasche dieser Vereisung dient der Kitsch. Die Fotografin ist ihm nicht mehr verfallen. Sie fällt nicht zurück in die Land- und Heimatidylle ihrer vorindustriellen Berufslaufbahn, die ja auch in den 50er Jahren boomt, sie zieht sich zurück auf die Sachlichkeit des weiter perfektionierten Handwerks und schafft Bilder der Beziehungslosigkeit und Fremdheit des Alltags. Noch stehen ihr die Bildtypen der Industriefotografie zur Verfügung und die dem wirtschaftlichen Aufbau entsprechenden Aufträge. Die Gebrauchsfotografin wird wieder gebraucht. Die bisher entweder ins "mannhafte" gestylte Weiblichkeit der Schweißerinnen, Dreherinnen, Nieterinnen aus den 30er und 40er Jahren auf der einen oder die in eine Hausfrauenerotik aufgeweichte Idyllisierung der dienenden Arbeiterin auf der anderen Seite, beide Grundtypen tauchen nicht wieder aus den Entwicklerbädern auf. Auch eine handwerksmäßige, stolz-stämmige Arbeiterfigur mit dem verordneten Selbstbewusstsein des "Volksgenossen" ist nicht mehr zu beobachten.

Statt dessen Distanziertheit, Fremdheit, Kälte. Darsteller, Modelle, Statisten waren die Menschen immer auf den Hallensleben-Fotos, aber in einem anderen Stück.

Wenn die entsprechenden Fotografien mit fast den jeweils ähnlichen Mitteln einen solchen Bruch unter der Oberfläche zur Ansicht bringen können, kommt etwas ins Spiel, das über den Beruf, die Professionalität, den Auftrag, die "gute Fotografie" hinausgeht: Ausdruck der Zeit, für den man sonst ein Zauberwort benutzt: Kunst.

Die Büros der Radium-Gummiwerke sind gläserne Ställe, in denen weit von uns und voneinander entfernt Figuren ihre Köpfe über irgendwas beugen. Aufblasbare Gummiwölfe bilden einen Wall (Abb.5), hinter dem die Zeichnerin Markierungen vornimmt, die sich im eigenen Gesicht widerspiegeln: ihre Nase in einer fallenden Schrägen - so die des Gummitieres, ihre Stirne gerunzelt - die Wolfsstirn gerunzelt, sie muffig in den Mundwinkeln - das Pustevieh dagegen grinst. Die Kontrolle der Gummihandschuhe, Hände verdoppelt, vervielfacht - Kunsthände erscheinen wirklicher als die lebenden (Abb.6).

Der Aufenthaltsraum der Firma Rheinpreussen, voll besetzt mit strickenden, lesenden, zum Teil verschämt grinsenden Frauen, die das Gespräch unterbrechen und auf das Klicken der Kamera warten, es fluchtet nicht mehr auf ein Führerbild, sondern in eine Waldlandschaft (Abb.7).

pausewald

Rheinpreußen. Aufenthaltsraum.
(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

 

Alpenveilchentöpfe, Gummibäume, sparsame Firmenarrangements schieben sich ins Bild, eher kahl und mager als üppig. Sie verbreiten dennoch die Atmosphäre eines Operationssaales. Immer wieder sieht man Arbeiterinnen in den Raum eingepasst, beim Sortieren von Metallringen, beim Abfüllen von Silberzwiebeln, beim Verteilen von Schrauben und Karteikarten, beim Testen von Schreibmaschinen. Sie verdienen Geld, wollen kürzere Arbeitszeit und am liebsten nach Hause.

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Stahlbau Liesegang, Köln, 1957
(Ruth Hallensleben/Fotoarchiv Ruhr Museum)

 

Die Bewährung der Frau an der Arbeitsfront mit dem Männlichkeits- und Weiblichkeitswahn ist der kühlen Darstellung von Handlangerfunktionen der Leichtlohngruppen gewichen. Ein sozialpolitisches Thema ist nicht gemeint, wird aber mitgeliefert. Wieder scheint durch diese Bilder, durch die Haut der äußeren Fotoschicht Realität wie der Fuß durch ein Loch im Strumpf.

Diese neu formulierte Fremdheit, Distanziertheit der Bilder kommt den tatsächlichen Bildnissen einer fabrikmäßigen Fertigung näher, als die frühen "gestalterischen" Versuche, eine handwerkliche Zuwendung, eine Identifikation mit der Arbeit fotografisch zu feiern. Der "Langeweile" dieser Bilder, die sich in immer wiederkehrenden geringfügigen Varianten zu hunderten vor dem Betrachter aufblättern, entspricht die reale Monotonie einer Arbeitswelt im Gleichtakt der Maschinen und Bürozeiten. Die Reduktion der Menschen auf ihre Handlanger Rolle im Bild korrespondiert mit ihrer Reduktion auf Arbeitskraft. Industriearbeit in diesem Sinne ist langweilig, der Mensch instrumentalisiert sich durch die Maschine, den Produktionsablauf und die Fotografin sich selbst durch den Auftrag. Nur die "Rolle" als Glied der Produktions- und Distributionskette ist gefragt. Auf der wirklichen Bühne bewegen sich in dieser Zeit Schauspieler in Stücken des "absurden Theaters". Heute erscheinen mir diese Szenenbilder moderner als die gleichzeitig entstehenden, erfolgreicheren, dramatisierten Formspiele der subjektiven Fotografen, die eher einen Rückgriff darstellen auf eine strikt formalisierte Sachlichkeit, die eher eine Konservenbüchse ins All montieren, als einen einzigen Zusammenhang aufzeichnen kann, in dem sie auftritt, wie Walter Benjamin formulierte 15, oder die Romantisierung der Industrie in Produktionsopern, wie Richard Hiepe kritisiert 16. Die emotionale und formale Kälte, welche Hallenslebens Schwäche im Fotogeschäft der 60er Jahre ausmacht, ist zugleich ihre Stärke im Ausdruck wachsender Entfremdung der Industriewelt, der fortschreitenden vermeintlichen Ohnmacht des Menschen und der dem Anschein nach unvermeidlich sich aufbauenden Übermacht der Dinge.

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