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Virtuelles Magazin 2000


Arn Strohmeyer
 
 
„Aus Sicht der Armee gibt es kein ethisches Problem“
 
Was israelische Soldaten der Menschenrechtsorganisation „Breaking the Silence“ über ihren Einsatz in den besetzten Gebieten berichten / Neuerscheinung bei Econ
 
Wer den berühmten Satz von Kurt Tucholsky „Soldaten sind Mörder“ für eine heillose Übertreibung von Pazifisten hält, sollte das Buch der israelischen Menschenrechtsorganisation „Breaking the Silence“ lesen, das gerade im Econ-Verlag unter demselben Titel erschienen ist. Diese Organisation hat der orthodoxe Jude Jehuda Shaul gegründet, weil sich bei ihm nach seiner eigenen Militärzeit in den besetzten Gebieten (vor allem in Hebron) das Gewissen zu Wort meldete. Zum Verfasser dieser Zeilen sagte er in einem Interview 2010 in Bremen: „Für das, was ich dort getan habe, müsste ich eigentlich für den Rest meines Lebens ins Gefängnis.“ Shaul beschloss, das brutale Vorgehen der israelischen Armee (Zahal) im Westjordanland und im Gazastreifen öffentlich zu machen. Er fand genug ehemalige Soldaten, die bereit waren, über ihre (Un)Taten und Erlebnisse zu berichten. In Ausstellungen (wie jetzt in Berlin), mit Broschüren, Büchern und Videos publiziert die Organisation seitdem ihre Recherchen - sehr zum Unmut des israelischen Establishments, wie man sich denken kann. Man versucht inzwischen mit allen Mitteln, „Breaking the Silence“ mundtot zu machen.
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Jehuda Shaul, Gründer der Organisation „Breaking the Silence“
Foto: Arn Strohmeyer

Das jetzt erschienene Buch mit Berichten von Soldaten gehört zu den Büchern, die man eigentlich nach wenigen Seiten der Lektüre aus der Hand legen möchte, so heftig stoßen einem Widerwillen und Ekel auf. Man hält es einfach nicht für möglich, was die „moralischste Armee“ der Welt (so israelische Politiker) da so alles anstellt und für ganz „normalen Standard“ hält. Möglich ist das Vorgehen der Zahal nur, aus drei Gründen: 1. sind nach israelischer Mehrheitsauffassung Palästinenser keine Menschen oder wenn doch, dann zumindest Angehörige einer niederen Menschenart - Kolonialherren haben die von ihnen Eroberten und Unterdrückten seit jeher so behandelt; 2. stehen alle Palästinenser unter dem Verdacht, eine Bedrohung für Israels Sicherheit zu sein, weshalb sie alle als Terroristen anzusehen sind. Daraus folgt 3., dass den Staatsorganen - also Armee, Polizei und Geheimdiensten - alles erlaubt ist, gegen die „Terroristen“ vorzugehen.
 
Rücksichten auf Recht und Gesetze (etwa das humanitäre Völkerrecht, Haager Konvention und UN-Menschenrechtscharta) brauchen nicht genommen zu werden. Die politisch und militärisch Verantwortlichen für die Operationen gegen den „Feind“ sind der festen Ansicht: „Aus der Sicht der Armee gibt es kein ethisches Problem. Man beschmutzt nicht die Reinheit der Waffen.“ Mit letzterem ist wohl so eine Art Ehrenkodex der Zahal gemeint. Es geht ausschließlich um die „Heiligkeit der Mission“ und die rechtfertigt jedes Mittel.
 
Was „Breaking the Silence“ da auflistet, ist so haarsträubend, dass man sich fragt, wie so etwas in einem zivilisierten Staat möglich ist. Vermutlich hat der Verlag für dieses Buch noch die eher harmlosen Fälle von Unmenschlichkeiten ausgewählt, denn in früheren Broschüren der Organisation konnte man noch Schlimmeres lesen. Dass die Angaben aber ihre Richtigkeit haben, bestätigt in einem Vorwort sogar der frühere Botschaft Israels in Deutschland, Avi Primor. Zumindest behauptet er nicht das Gegenteil. Er bescheinigt seinen israelischen Landsleuten auch, dass sie die Enthüllungen von „Breaking the Silence“ gar nicht wissen wollen, lieber wegschauen und den Kopf in den Sand stecken. Wenn Primor die Soldaten, die hier auspacken, für „junge Idealisten“ hält, die ihren Staat und seine Streitkräfte stärken wollen (...), um letzten Endes einen Beitrag dazu zu leisten, „das zionistische Ideal einer gerechten Nation zu realisieren“, muss man doch fragen, ob das skandalöse Verhalten der israelischen Armee gegenüber den Palästinensern nicht genau das Gegenteil bewirkt: ob der Staat Israel sich durch einen solchen Verlust an Menschlichkeit und Moral seiner Soldaten, der ja von der Gesellschaft ausgeht und wieder auf sie zurückwirkt, sich nicht selbst in seiner Existenz gefährdet.
 
Hier einige Beispiele für das Angesprochene: Dass man Palästinenser, wenn sie den schikanösen Anordnungen der Soldaten an den Checkpoints nicht gehorsam folgen, zusammenschlägt, sie fesselt, die Augen verbindet und Stunden lang - auch in glühender Hitze - warten lässt, ist schon fast alltäglicher „Standard“. Da erhalten Soldaten den Auftrag, einen Palästinenser, der unter Terrorverdacht steht, am Kontrollpunkt zu erschießen - was ohnehin schon ein schwerer Rechtsbruch ist. Die Einheit wartet auf den Mann, der in seinem Auto nichtsahnend den Checkpoint ansteuert. Nun hatte sich vor den Wagen des Gesuchten aber ein anderes Auto mit drei Insassen geschoben, die mit der Aktion gar nichts zu tun hatten. So werden bei der Liquidierungsaktion nicht nur der Verdächtige in seinem PKW erschossen, sondern auch die drei Personen in dem anderen Wagen. Der ganze Vorgang wurde anschließend vertuscht und in den Zeitungen stand am nächsten Tag: dass eine „geheime Einheit vier Terroristen getötet hat.“ Der Soldat, der den Vorfall berichtet hat, machte sich später schwere Vorwürfe, dass er einen Tötungsbefehl akzeptiert hat, ohne überhaupt zu wissen, auf wen er geschossen hat.
 
Da nehmen Soldaten in einem palästinensischen Dorf ein Haus ein und beziehen auf dem Dach Stellung. In einiger Entfernung entdeckt ein Soldat mit dem Fernglas einen Palästinenser, der sich unbewaffnet auf seinem Hausdach aufhält. Der Soldat meldet seinem Kompaniechef, was er sieht - und der befiehlt: „Erschießen Sie ihn!“, was der Scharfschütze auch umgehend tut. In Nablus erschießen die Soldaten zwei Terrorverdächtige. Als andere unbewaffnete Palästinenser kommen, um die Leichen zu bergen, erhalten die Scharfschützen den Befehl, auch diese Männer, von denen keinerlei Gefahr ausging, zu erschießen, was sie auch tun.
 
In einem palästinensischen Dorf klettert ein elfjähriger palästinensischer Junge - wohl aus Neugierde - auf einen Mannschaftswagen, er wird sofort erschossen. Dass viele Soldaten kleine Kreuze für erschossene Palästinenser auf ihr Waffen malen, belegt ihre menschenverachtende Einstellung. Als eine Einheit in ein palästinensisches Haus eindringen will und die Bewohner nicht sofort öffnen, bringen die Soldaten eine Sprengladung an der Tür an, die in dem Augenblick explodiert, als eine Frau die Tür aufmachen will. Sie wurde so in die Luft gejagt, „dass ihre Gliedmaßen an der Mauer verschmiert waren.“ Der Soldat, der die Geschichte erzählt, berichtet: „Es war lustig und alle haben sich über die Situation kaputt gelacht, als die Kinder ihre auf die Wand verteilte Mutter gesehen haben.“
 
Bei Operationen in Gaza 2002/03 lautete der Befehl, auf alle Personen zu schießen, die nachts auf der Straße herumlaufen, um sie zu töten. Es hatte vorher keine Ankündigung gegeben, dass die Bewohner ihre Häuser nicht verlassen dürften. Der Soldat berichtet: „Sie haben tatsächlich auf jeden geschossen, der sich auf der Straße aufhielt. Hinterher hieß es: „Wir haben heute sechs Terroristen erschossen! Jeder, den man auf der Straße tötete, war ein Terrorist!“ Dass es auch einen Befehl gab, auf jedes palästinensische Kind zu schießen, das mit einem Stein in der Hand angetroffen wurde, verwunder da nicht.
 
Über das kriminelle Verhalten der Siedler gegenüber den Palästinensern ist viel geschrieben worden. Das Buch von „Breaking the Silence“ liefert viele Beispiele für die völlig chaotischen und rechtlosen Zustände in den besetzten Gebieten. Armee und Polizei schauen dem gewaltsamen Treiben der Siedler tatenlos zu, sie sind deren enge Verbündete und haben allein die Aufgabe, sie zu beschützen. Die Siedler schicken oft ihre Kinder vor, um Gewalttaten zu begehen - etwa in Hebron. Ein Soldat berichtet: „Sie dringen in ein palästinensisches Haus ein, schlagen alle Fenster ein, machen kaputt, was man kaputt machen kann, zerstören alles und erklären dann, dass es ihr Haus sei, dass man in Hebron ein weiteres Haus für die Siedlergemeinde hinzugewonnen hätte. Ihre Benehmen ist unfassbar.“ Auf die Frage, was mit Palästinensern passieren würde, wenn sie dasselbe täten, sagt der Soldat: „Man würde über ihren Köpfen das Haus mit einem Bulldozer einreißen.“ Es gibt eben zweierlei Recht im Apartheidstaat Israel.
 
Aber nicht alle Soldaten reißen Witze und haben Spaß an dem, was sie da tun. Viele Soldaten sind zutiefst verunsichert, und im Laufe der Militärzeit beginnen die Zweifel bei ihnen zu wachsen. Manche können die Widersprüche, denen sie ausgesetzt sind, nicht aushalten. Wie sollten sie auch: Siedler für ihre permanente Randale beschützen zu müssen und zugleich Palästinensern für ganz geringe Anlässe oder gar keine „schreckliche Dinge“ antun zu müssen. Eine Soldatin bekennt denn auch, „dass man irgendwann nicht mehr weiß, auf welcher Seite man steht. Ich beginne zu denken, dass die Juden nicht in Ordnung sind. Also warte ich, ich muss in meinem Gehirn den Schalter umlegen, damit ich weiterhin Araber hassen und rechtfertigen kann, was die Juden machen.“
 
Viele Soldaten ziehen sogar den schlimmsten Vergleich heran, den ein israelischer Jude anführen kann: Sie vergleichen die Untaten der Soldaten mit denen der Nazis. So sagt ein Soldat: „Jedes Mal, wenn Leute erschossen werden, kommt mir dieses Bild in den Sinn, ich muss das in einem Film gesehen haben, wie Nazis Juden an Gruben erschießen, und Offiziere stehen daneben und lachen. Es ist nicht das Gleiche, und es gibt keinen Zusammenhang, aber Leute werden zusammengeschlagen, da ist Blut, und sie [die Unteroffiziere und Offiziere] knabbern Sonnenblumenkerne, und ich sage: ‚Was seid ihr für böse Menschen.‘ Ich schaue sie an, und sie sagen: ‚Schaut euch an, was der Kerl [ein Palästinenser] gerade für einen Schlag abgekriegt hat.“
 
Ein anderer Soldat, der die Schikanen gegen Palästinenser am Kontrollpunkt in Jericho mitbekommt, sagt: „Zuerst denkt man, man wäre ein Nazisoldat, man fühlt sich wie eine Art Nazisoldat, und irgendwann gibt man diese Idee auf, denn wie lange kann man sich fühlen, als wäre man ein Nazi? Also tut man einfach, was man tun soll. Aber das raubt einem den Verstand. Echt. Jeder Soldat, der nicht durchgedreht ist, mit dem stimmt etwas nicht, glaube ich. Oder er hat sich innerlich vollkommen abgekapselt.“
 
Es ist aber wohl nur eine Minderheit, der Zweifel und Bedenken kommen - und oft auch erst nach Monaten und Jahren des gehorsamen Mitmachens. Die einen gehen nach ihrer Militärzeit zu „Breaking the Silence“ und entlasten dort ihr Gewissen, andere fliegen nach Goa und ertränken ihre nicht eingestandene Schuld mit Drogen. Traumatisiert sind sie in der einen oder anderen Form offenbar alle - und tragen diesen seelischen Ballast in eine Gesellschaft, die davon nichts wissen will, für die es hinter der Mauer gar keine Probleme gibt. Wie lange kann Israel das aushalten, von seinen jungen Generationen eine solche Barbarei zu verlangen?
 
Wer immer noch nicht glauben kann, was im „Heiligen Land“ wirklich geschieht, sollte dieses Buch lesen. Es wird ihn kurieren.
 
Breaking the Silence: Israelische Soldaten berichten von ihrem Einsatz in den besetzten Gebieten, Econ Verlag Berlin, 19,90 Euro, ISBN 978-3-430-20147-6