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Virtuelles Magazin 2000


Arn Strohmeyer
 
 
Daniel Barenboim:„Nur ein Psychiater kann da noch helfen!“
 
Der israelische Dirigent ist nicht der erste, der therapeutische Hilfe bei der Lösung des Nahost-Problems fordert
 
 
Die Hilfe eines Psychiaters hat der israelische Dirigent Daniel Barenboim mit Blick auf die Politik Israels für die Lösung des Nahost-Problems gefordert. Wörtlich sagte er in einem Interview mit dem SPIEGEL: „Wir brauchen kein Nahost-Quartett aus UNO, Russen, Europäern und Amerikanern. Wir brauchen einen Psychiater. Ich bin sicher, dass es viele Israelis gibt, die davon träumen, dass sie eines Tages aufwachen und die Palästinenser sind weg. Und viele Palästinenser träumen davon, dass sie abends ins Bett gehen und am Morgen sind die Israelis weg.“ Der Gedanke, dass nur noch ein Psychotherapeut das offensichtlich unlösbare Knäuel des Nahostkonflikts entwirren kann, ist nicht neu. Ein anderer Israeli, der Psychoanalytiker Ofer Grosbard, hatte schon 2001 in seinem Buch „Israel auf der Couch. Zur Psychologie des Nahostkonflikts“ Ähnliches gefordert und mit seinem Text eine glänzende tiefenpsychologische Analyse des Problems vorgelegt. Sein Buch hat seitdem nichts von seiner Aktualität verloren.
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Daniel Barenboim dirigiert in Sevilla, 2005

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Zunächst aber: Wer hat die psychotherapeutische Hilfe nötiger: Der Erober, Besatzer, Landbesetzer, Unterdrücker und Zerstörer einen ganzen uralten Kultur und Gesellschaft oder der Besetzte, Vertriebene und Unterdrückte? Auf diese Frage geht Barenboim leider nicht ein, obwohl er keineswegs die wegen ihrer Asymmetrie völlig verfehlte Zweiseitentheorie vertritt. Er weiß sehr wohl, zwischen Tätern und Opfern im Palästina-Konflikt zu unterscheiden und konstatiert in dem Interview auch mehrmals, dass es keine Verbindung zwischen dem europäischen Antisemitismus - und damit natürlich auch dem Holocaust - und dem Palästina-Problem gibt.
 
Der Holocaust ist auch in Grosbards Analyse der Ausgangspunkt. Als Grundbefindlichkeit der Israelis (auch und gerade ihrer Politiker) konstatiert er eine tief sitzende Angst, die bis zur Paranoia geht. Dass sie aus politischen Gründen auch künstlich geschürt und manipuliert, also instrumentalisiert wird und ein Teil der zionistischen Ideologie geworden ist, erkennt Grosbard durchaus an. Angst führt aber beim Individuum und beim Kollektiv dazu, dass die Realität verzerrt wahrgenommen wird, weil man die eigene Erinnerung ständig in die äußere Realität hineinprojiziert. Grosbard schreibt: „Die Angst macht es schwer, zwischen einer realen, die Existenz bedrohenden Gefahr und unserer verzerrten Wahrnehmung unterscheiden zu können. Wir weigern uns, Dinge in einem anderen Licht zu sehen als in dem unserer Vergangenheit.“ Mit anderen Worten: Die Angst betrachtet alles durch die Brille der Bedrohung, auch wenn diese gar nicht existiert.
 
Die alles bestimmende Angst als Lebenshaltung hat für Grosbard gravierende Folgen: Die paranoide Einstellung ist extrem egoistischer und narzistischer Natur mit Überheblichkeit in ihrem Gefolge und macht unfähig, den „Anderen“ - in diesem Fall die Palästinenser oder Araber - als Menschen überhaupt wahrzunehmen. Die Gefühle und Bedürfnisse des „Anderen“ werden nur als Bedrohung wahrgenommen. Wenn aber Angst und Überheblichkeit Hand in Hand gehen - so Großbard - , dann verstärken sie die seelische Spaltung, was bedeutet, dass auf der einen Seite die Guten und auf der anderen die Bösen sind. Die Angst hat denn auch zur Bildung eines dicken seelischen Schutzpanzers geführt, den abzubauen sehr mühevoll ist: „Es fällt schwer, einen Schutzmechanismus aufzugeben. Es ist hart einzusehen, dass wir nichts Besonderes sind und dass nicht jeder gegen uns ist.“
 
Grosbard leitet aus der Grundbefindlichkeit der Angst auch die Unfähigkeit ab, normale Beziehungen zu dem „Anderen“ aufzunehmen. Der unter Angst Leidende befindet sich ständig in einer Abwehrhaltung. Denn auch sein ständiger vermeintlicher „Kampf ums Überleben“ setzt ihn außerstande, den “Anderen“ zu sehen und ihm einen Platz in seinem Bewusstsein einzuräumen. „Sicherheit“ ist deshalb sein Zauberwort, das über allem steht. Der Angstbestimmte kann aber so viel Sicherheit anstreben wie er will, er wird sich niemals sicher fühlen. Es gibt keine letzte Sicherheit für ihn. Grosbard: „Er wird bei seiner Umgebung stets das Gegenteil provozieren. Das ist ein grausames Paradox der menschlichen Existenz.“
 
Der Angst, dem Streben nach Schutzmechanismen und Sicherheit sowie dem Bauen von seelischen Mauern (die dann zu realen Mauern aus Beton werden) - allen diesen seelischen Abwehrmaßnahmen liegen als Ursache unterdrückte Schuldgefühle zu Grunde. Sie hindern die Israelis daran, die Tiefe des anhaltenden Leids der Palästinenser wahrzunehmen, das sie selbst verursacht haben. Eine Trauer kann nicht stattfinden. Grosbard: „Es ist nicht einfach, den Palästinensern in die Augen zu schauen, dazu müssen wir erst sie und ihren Schmerz anerkennen ... Es fällt nicht leicht , ihre Erfahrung zu verstehen, dass wir sie aus ihren Häusern getrieben haben und jetzt dort glücklich leben, während sie zuschauen müssen, wie wir ihr Land bebauen.“
 
Bekanntlich tut Israel in der politischen Praxis genau das Gegenteil eines solchen „Mitempfindens“, indem es das offizielle Gedenken der Palästinenser an ihre Katastrophe von 1948/49 (Nakba) unter Strafe stellt - also Verdrängung und Verleugnung als offizielle Politik des Staates. Aber Grosbard weist immer wieder auf die Notwendigkeit der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit hin: „Wir haben die Pflicht, uns Gedanken zu machen, was den Palästinensern zugestoßen ist, die von hier geflohen sind. Es ist eine Reise zu den eigenen Wurzeln. Denn nur, wenn wir uns mit dem Schicksal der Palästinenser befassen, die einst hier gelebt haben, werden wir in der Lage sein, unser Trauma zu verarbeiten, was wir ihnen angetan haben.“
 
Die Folge der Angst, der ständigen Abwehrhaltung und des Strebens nach totaler Sicherheit ist aber auch die ständige Bereitschaft zur Gewaltausübung. „Angst und Gewalt sind zwei Seiten einer Medaille und wir ignorieren beide“, schreibt Grosbard. Und an anderer Stelle: „Wir verstehen nur die Sprache der Gewalt, weil wir - auf Grund der Angst - die Sprache des Friedens nicht verstehen.“ Gewalt ist auch das - natürlich völlig falsche - Mittel, die Angst zu verdrängen: „In uns hat sich die Überzeugung festgesetzt, dass wir nur durch ständigen Kampf und die Anwendung von Gewalt überleben können. Wir haben wirklich Angst davor, wieder ein kleines Land zu werden. Das ist das schwere psychische Problem eines Landes, das sich klein und schwach fühlt, wenn es nicht kämpft. Die Suche nach Konfrontation und das Spielenlassen der Muskeln sind ein wohlbekanntes Mittel, um tiefe Ängste abzumildern - ein ungeeignetes natürlich. Wenn wir kämpfen, dann spüren wir die Angst nicht so sehr.“. Die endlose Kette von Kriegen, die Israel seit seiner Gründung geführt hat und die ihm keineswegs von außen aufgezwungen wurden, sind der Beweis für diese Feststellung.
 
Aus dieser Sicht heraus kommt Grosbard zu einer ganz anderen Einschätzung des palästinensischen Terrorismus ( den es ja ganz offensichtlich seit einiger Zeit nicht mehr gibt). Auch hier sieht der Autor eine „gestörte Wahrnehmung der Realität“ am Werk. Israel nehme den Terrorismus der Palästinenser losgelöst von seinen Wurzeln, ihren Leiden, wahr. Man betrachte immer nur das Phänomen, aber nicht seine Ursachen, man behandle mit Gewalt die Symptome und nicht die Krankheit - und müsse deshalb scheitern.
 
Nach dieser Analyse verwundert es nicht, wenn Grosbard Israel und seine Zukunft in höchster Gefahr sieht. Er schreibt: „Was ist es also, dass wir so stark verdrängen? Wir unterdrücken, dass unsere gesamte Existenz nur ein Schwindel ist, dass wir von geborgter Zeit leben, dass unser Traum mit uns verschwinden wird, dass unsere eigentliche Schwäche ans Tageslicht kommt und dass das unser Ende sein wird.“
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Berlin, 1990, v.l.n.r.: Dr. Peter Kirchner, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin (Ost), Richard von Weizäcker, Dirigent Daniel Barenboim

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Wie kann Israel diesem Schicksal entgehen? Grosbard sieht nur einen Weg, wie Israel sein Überleben sichern kann: „Es gibt keinen anderen Weg, wir müssen uns unserer Ängste bewusst werden, und auch der großen Macht, die sie über uns haben. Nur dieses Bewusstsein kann unserem Lebensweg eine andere Richtung geben: hin zu einer friedliebenden Nation, die mit ihren Nachbarn in Eintracht leben kann. Es gibt noch eine andere Sache, die einem Paranoiden schwerfällt und fast unmöglich ist: dem anderen gegenüber Verständnis zeigen. Wie kann man für jemanden Verständnis haben, den er als Bedrohung für seine Existenz ansieht? Das ist ein Paradox. Wenn er es aber vermag, werden sich alle seine Beziehungen mit der Welt vollständig verändern. Die Frage ist: Sind wir dazu wirklich nicht in der Lage?“
 
Die Analyse Grosbards hat eine großen Nähe zur Wirklichkeit, die israelische Politik liefert dafür täglich die Belege. Grundlage dieser Politik wäre dann eine vollständig auf Angst aufgebaute Ideologie. Die Frage, die dann gerade die deutsche Politik anginge, müsste lauten: Warum steht sie so rückhaltlos hinter einer so „neurotischen“, fragilen und nicht überlebensfähigen Politik, ohne dabei zu sehen, wie gefährlich diese Politik für Israel selbst und seine Zukunft ist? Auch das ist ein sehr denkwürdiges Paradox.
 
Ofer Grosbard: Israel auf der Couch. Zur Psychologie des Nahostkonfliktes. Mit einem Geleitwort von Yoram Kaniuk, Patmos-Verlag Düsseldorf 2001, 24,90 Euro