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- Sind die Heilungen des Asklepios also durch simultane Abgabe und Aufnahme von Energie (was auch immer das sei) zustande gekommen? Der Psychotherapeut Alfred Ribi, der auch der Jungschen Schule angehört, beschreibt den Zusammenhang zwischen Synchronizität und Heilung so: „Es kommt selbst in der modernen Medizin auf Synchronizität an. Wenn ‚es‘ konstelliert, kann Heilung eintreten. Darum ist der griechische Heilgott Asklepios der Kabir der rechten Zeit [Gottheiten in der nördlichen Ägäis, die offenbar Diener größerer Götter waren], dem Kairós [dem rechten Augenblick], beigestellt. Die Zeit stellt den qualifizierten Moment dar, in welchem Dinge möglich sind, welche weder vorher noch nachher möglich sind. Der qualitative Aspekt der Zeit spielt bei Synchronizitäten eine entscheidende Rolle, weil sich in ihm verschiedene Faktoren ohne unser Zutun konstellieren. Der Kairós ist die für die Synchronizität notwendige singuläre Konstellation. Da liegt die Aufgabe für die künftige Parapsychologie! In den Heilberufen stellt sich nun die Frage, kann der Heiler die günstige Konstellation herbeiführen?“
- Man kann den Jungschen Therapiebegriff nicht verstehen, wenn man neben der Synchronizität nicht seine anderen Hauptbegriffe hinzuzieht: das kollektive Unbewusste und die Archetypen. Ersteres versteht Jung als eine uralte, überpersönliche Grundschicht in den Psychen, die jenseits aller individuellen Erfahrungen liegt und etwa in Träumen und Mythen zum Ausdruck kommt. Archetypen sind nach Jung „metaphysische Wesenheiten“, ein „an sich bestehendes oder vorhandenes unbewusstes Wissen“, Urbilder menschlicher Vorstellungsmuster, Strukturdominanten, die aus dem Unbewussten heraus das Bewusstsein präfigurieren und strukturieren. Die Therapie hat danach die Aufgabe, dem verschlossenen Ich den Zugang zum kollektiven Unbewussten zu eröffnen und ihm hilfreich auf dem dadurch möglich werdenden Weg der Individuation zu begleiten.
- Es ist bekannt, dass eine Psychoanalyse für den Patienten ein langer Weg ist - die Heilungen des Asklepios geschahen aber zumeist in einer Nacht. Mich überzeugen die Argumente der Jungianer nicht, wie die Heilungen des heilende Gottes zustande gekommen sein sollen. Zudem: Es hört sich in der Theorie gut an, nicht Krankheiten, sondern Kranke zu behandeln. Was für die Behandlung einer Neurose zutrifft, weil der Therapeut hier auf die Person des Patienten und sein ganz persönliches Leiden eingehen muss, wobei er natürlich immer im Hinterkopf haben muss, was eine Neurose oder Psychose eigentlich ist, kann auf die Bekämpfung einer Pest- oder Cholera-Epidemie nicht zutreffen. In einem solchen Fall muss die Krankheit bekämpft werden, eine Zuwendung zum einzelnen Patienten würde hier gar nichts bringen, schlimmstenfalls auch den Heilenden selbst noch gefährden.
- Der Mythenforscher Walter F. Otto greift die Jungsche Lehre direkt an. Er schreibt: „Diese [von Jung angeführten] Traumbilder sollen den aus ältester Vergangenheit überlieferten mythischen Gestalten so ähnlich sein, dass der Gedanke an eine geheimnisvolle Wiederkehr derselben unabweisbar sei. Man nennt sie denn auch Archetypen, d.h. Urbilder, und stellt sich vor, dass sie sich, ohne Mitwissen des wachen Geistes, in dem sogenannten Unbewussten der Seele durch die Jahrtausende erhalten haben, um in Augenblicken, wo sie ihrer bedarf, als Traumerscheinungen aufzuerstehen. Um diesen absonderlichen Vorgang verständlich zu machen, wird uns die Annahme einer ‚Kollektivseele‘ [„kollektives Unbewusstes“] zugemutet, die das in grauer Vorzeit Gedachte oder Geschaute mit erstaunlicher Treue aufzubewahren vermocht hat. Wenn es so ist, dann müssen die Mythen schon bei ihrem ersten Aufkommen etwas den Seelenerlebnissen Verwandtes gewesen sein, nur dass sie damals noch dem wachen Bewusstsein gegenwärtig waren, während sie später und bis heute ins Unbewusste zurückgesunken sind, aus dem sie der Psychotherapeut in den Träumen seiner Patienten auftauchen sieht und sie ihnen ins Bewusstsein bringt.“
- Otto hält die Jungsche These, dass sich im Unbewussten die Ideen der Urzeit konservieren, aus mehreren Gründen für unhaltbar: 1. Der echte Mythos entspringt keinem Traum der Seele, sondern der Wirklichkeit, die das „klare Schauen des geistigen Auges“ wahrnimmt. Der Mythos ist nicht mit dem Traum verwandt, er ist das Gegenteil von ihm, weil der Mythos eine eigene Seinswahrheit hat. 2. Es ist nicht wahr, dass die in Rede stehenden Traumbilder mit den Gestalten des Mythos vergleichbar oder identisch sind. Die tiefenpsychologische Mythendeutung bewegt sich in einem Zirkel: Sie setzt voraus, was sie nachzuweisen glaubt. Sie geht von einem vorgefassten Begriff des Mythischen aus, um ihn in Traumvisionen bestätigt zu finden. Dieser Begriff beruht auf einem Missverständnis. Das heißt: Es gibt keine Ähnlichkeit zwischen den Bildern, die die Patienten in ihren Träumen haben, mit den göttlichen Urgestalten.
- Auch Siegmund Freud hatte eine ganz andere Auffassung vom Traum als die Jungsche Schule. Er ging davon aus, dass Kultur und Zivilisation die primitiven und niederen Triebe des Menschen unterdrücken. Im Schlaf offenbarten sich dann die schlimmsten Regungen, weil man dort frei sei von den Zwängen der Kultur und nicht sublimieren müsse. Das Hauptmerkmal der Traumsprache war für ihn der Verhüllungs- und Entstellungsprozess der irrationalen Wünsche, der auch dafür sorge, dass man ungestört weiter schlafen könne. Träume sind voller Symbole, und Freud nahm an, dass es die Hauptfunktion des Symbols sei, den ihm zugrunde liegenden Wunsch zu verhüllen und zu entstellen. Er fasste diese Symbolsprache als eine Art Geheimcode auf und die Traumdeutung als deren Dechiffrierung.
- Zwischen dem an Freud orientierten Psychoanalytiker Erich Fromm und C.G. Jung entspann sich eine Kontroverse über das Wesen des Traums, der Religion und der Heilung. Das Wesen religiöser Erlebnisse hat bei Jung den Charakter der Unterwerfung unter Mächte, die höher sind als wir. Das Unbewusste und der Traum sind bei ihm nicht ein Teil des individuellen Seelen- und Geisteslebens, sondern religiöser Natur - eine von uns unabhängige Macht, die in unser Denken einbricht. Beide sind also religiöse Phänomene, weil beide der Ausdruck des Ergriffenseins von dieser Macht außer uns sind. Das gilt auch für die Heilung: Jung sagt, dem Menschen würde nie geholfen durch das, was er denkt, sondern nur durch die Offenbarung einer Weisheit, die größer sei als die eigene.
- Fromm kritisiert, aus einer solchen Einstellung müsse das Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins an übernatürliche Mächte entstehen, was aber gerade das Gegenteil von Religion sei. In der Anbetung und der Hingebung an solche Mächte entfremde sich der Mensch von seinen eigenen Kräften, die es ja gerade zu entfalten gelte. Der Mensch sei dann restlos auf die „Gnade“ dieser Gewalten außerhalb von ihm angewiesen. Das sei aber der wahre Sündenfall: die Entfremdung von sich selbst, die Unterwerfung unter fremde Mächte, die Wendung gegen sich selbst. „Gott“, schreibt Fromm, „ist nicht das Symbol der Macht über den Menschen, sondern das Sinnbild der Kraft, die der Mensch in sich spürt.“ Deshalb müsse die „wahre“ Religion gerade diese Kraft stärken, d.h. die Fähigkeit zur Vernunft und zur Liebe.
- Fromm argumentiert, dass wir im Traum oft viel weiser und anständiger seien als im wachen Dasein. Was wir im Schlaf erleben und denken sei aber unser Denken und rühre nicht, nicht wie Jung behauptet, von einer transzendenten Offenbarungsquelle her. Das Ziel des „Heils“ oder der „Heilung“ bei jeder Therapie liegt für Fromm in der Verwirklichung der höchsten Lebensideale: sich eben ganz der Liebe und der Wahrheit (Vernunft) widmen zu können - oder anders gesagt: die Liebe leben und die Wahrheit denken zu können. Das sei auch das Anliegen der antiken Philosophen Sokrates, Platon und Aristoteles gewesen: dem Menschen zum Glück und zur Entfaltung seiner Seele zu verhelfen. In diesem Sinne habe auch Freud als Ziel der menschlichen Entwicklung die Erreichung folgender Ideale gesehen: Erkenntnis (Vernunft, Wahrheit, Logos), Menschenliebe, Verminderung des Leidens, Unabhängigkeit und Verantwortung. Und diese Ideale ständen in keinem Widerspruch zur Religion.
- Fromm beschreibt das Ziel seiner eigenen Arbeit als Psychotherapeut so: „Nur der freie Mensch, der sich von Autorität losgemacht hat - einer drohenden und beschützenden Autorität -, kann seine Vernunftkraft anwenden und objektiv die Welt und seine eigene Rolle darin erfassen, ohne Illusion, aber mit der Fähigkeit, die ihm innewohnenden Gaben zu entwickeln und zu gebrauchen. Einzig wenn wir heranwachsen und aufhören, Kinder zu sein, die von einer Autorität abhängen und sie fürchten, können wir wagen, selbst zu denken. Das Umgekehrte ist aber ebenso wahr. Nur durch eigenes Denken vermögen wir uns von der Herrschaft der Autorität freizumachen.“
- Die Psychoanalyse geht heute davon aus, dass die Behandlung psychischer Störungen durch das Bewusstmachen der unbewussten Konflikte und durch die Einsicht in die lebensgeschichtliche Bedeutung der Symptome erreicht werden muss. Durch die Methoden der freien Assoziation, der Traumanalyse, der Widerstandsanalyse und der Übertragungsanalyse soll der Zugang zum Unbewussten und damit die Heilung erreicht werden. Was für einen langen verschlungenen Weg der Wandlung hat die Auffassung von Traum und Heilung von Asklepios bis heute zurückgelegt!
- Jungs Begriffswelt bleibt dagegen den „Autoritäten“ verhaftet - übernatürlichen Mächten, die „höher sind als wir“. Deshalb steht sie dem Okkultismus, Schamanismus, der Alchemie und der Parapsychologie so nahe. Diese irrationalen Elemente seiner Lehre haben ihn deshalb auch so sehr in die zustimmende Nähe zum Nationalsozialismus gebracht. Er hat nach dem Zusammenbruch des Hitler-Reiches sein Denkschema nicht revidiert und überwunden, sondern nur die Sichtweise dessen geändert, worauf das Schema angewendet wurde. (Heinz Gess)
- Was kann man zugunsten des Asklepios und seines Kults in einem zumindest differenzierendem Urteil vorbringen? Der irische Altphilologe Erec Robertson Dodds (1893 - 1979) hat versucht, dem Phänomen des heilenden Gottes in seinem Buch „Die Griechen und das Irrationale“ näherzukommen. Er ist nicht der Meinung, dass die Heilungsberichte aus den Asklepieien als Priesterfälschungen abzutun seien. Er glaubt auch nicht, dass die Patienten unter dem Einfluss von Medikamenten oder unter Hypnose standen oder sonstwie Schlafen oder Wachen verwechselten und einen Priester im Phantasiekostüm als den göttlichen Heiler ansahen. Natürlich muss man in Erwägung ziehen, so Dodds, dass die Berichte mit den Heilungsangaben von den Priestern überarbeitet und erweitert worden sind.
- Dodds nimmt aber an, dass die Träume oder Visionen in den Schlafräumen der Asklepios-Heiligtümer durch das Kultur-pattern (Muster) bestimmt worden seien. Erfahrungen dieser Art wiesen auf ein Glaubensmuster hin, das nicht nur von den Träumenden akzeptiert worden sei, sondern von so gut wie allen Menschen in der damaligen Gesellschaft. Er schreibt: „Die Form der Erfahrung wird vom Glauben bestimmt und stärkt ihrerseits wieder den Glauben. Es ist ein Cirulus vituosus: Was der Träumer glaubt, sieht er deswegen, und was er sieht, glaubt er deshalb.“ Dodds hält es für möglich, dass die Patienten in einen Zustand der selbst induzierten Trance verfielen - wie oben im Fall des Aristidis geschildert -, bei welcher sie wirklich ein starkes inneres Empfinden der göttlichen Gegenwart hatten und schließlich die göttliche Stimmen nur zum Teil von außen kommend vernahmen. In einem solchen Geisteszustand hätten die Patienten auch die genauen Vorschriften des Gottes entgegennehmen können, eher als in einem Traum. Die Vorschriften des Gottes waren ja oft von magischer Art. So sollten die Patienten Schlangengift oder Asche vom Opferaltar zu sich nehmen. Oder Asklepios bestrich ihre Augen mit dem Blut eines weißen Hahns.
- Gab es viele Heilungen und waren sie von Dauer? Dodds zitiert den Philosophen Diogenes, der einmal skeptisch bemerkte: „Wenn alle, die nicht geheilt wurden, auch Berichte auf Votivtafeln geschrieben hätten, gäbe es viel mehr von ihnen.“ Aber die Fehlschläge spielten eben keine Rolle außer für die davon Betroffenen. Alles hing von der Gnade des Gottes ab. Auch dürfe man sich - so Dodds - nicht auf die Endgültigkeit der Heilungen versteifen. Von den Menschen, die Rückfälle erlitten, sei nichts überliefert. Auch müssten die Heilungen nicht sehr zahlreich gewesen sein, der Ruf der Heilstätte von Lourdes etwa berufe sich auch nur auf sehr wenige Heilungen, die es gegeben haben soll. Jede solche Heilung habe sich - auch wenn sie nur ein Gerücht gewesen sei - in den Asklepieien sicher wie ein Lauffeuer verbreitet und habe den noch verzweifelt dort Wartenden neue Hoffnung gegeben.
- Aber die Träume bei der Inkubation in den Tempeln - so Dodds - entsprachen eben den überlieferten kulturellen Mustern, an die die Menschen gewohnt waren. Die Erscheinung eines Gottes oder das Hören einer göttlichen Stimme sei ein geläufiger Typus eines solchen Musters im antiken Griechenland gewesen, das die Ausübung gewisser Handlungen gebiete bzw. untersage. Ein solches „spectaculum“ sei gar nichts Besonderes gewesen. Selbst der rationale Denker Sokrates habe seinen daimon (Dämonen) gehabt, auf dessen Simme er gehört habe.
- Dodds räumt auch ein, dass die Befolgung solcher Träume durchaus ein vorübergehendes Verschwinden neurotischer Symptome hätte bewirken können. Aber sein Resümee fällt eher kritisch aus: „Auf längere Sicht lässt sich schlechterdings wenig zugunsten eines Systems sagen, das den Patienten seinen eigenen unbewussten Impulsen ausliefert, die sich als göttliche Mahnungen ausgeben. Man kann das nüchterne Urteil des Cicero [römischer Staatsmann und Schriftsteller 106 - 43 v.u.Z.] getrost akzeptieren, dass weniger Patienten ihr Leben dem Asklepios verdanken als dem Hippokrates.“
- Letzte Gewissheit über das, was in den Heiligtümern des Asklepios geschah und ob und wie der Gott den Menschen geholfen hat, gibt es nicht. Der Asklepios-Kult war eben ein Mysterienkult. Wir müssen das Auftreten dieses milden und gütigen Gottes als Mythos so stehen lassen und uns bewusst sein, dass Mythen heute wie damals von großer Kraft und Wirkung sein können. Wir sollten uns aber auch davor hüten, den heilenden Gott der Griechen und seine Religion als Projektionsfläche zu benutzen, in die wir alles Mögliche hineindeuten, was mit ihm selbst gar nichts zu tun hat. Damit werden wir ihm und seinem Kult nicht gerecht. Unsere Zeit verlangt andere Antworten auf die Fragen, die der Gott den Menschen damals gegeben hat.
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