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Virtuelles Magazin 2000

 


Arn Strohmeyer

Wo Medizin und Psychotherapie ihren Anfang nahmen:
 
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Inkubation und moderne Psychotherapie
 
Wenn es in den Asklepios-Heiligtümern wirklich Heilerfolge gegeben hat, stellen sich mehrere Fragen, denn nach dem modernen Verständnis von Medizin und Psychotherapie grenzen sie an Wunder. Erstens: Wie waren diese Heilerfolge möglich - gibt es für sie eine Erklärung? Zweitens: Wie weit können Psychotherapeuten heute noch an die Priestermedizin des Asklepios anknüpfen? Oder anders gefragt: Hatten diese Heilungen einen rationalen Kern, mit dem sich heute noch arbeiten lässt? Gibt es also von dem heilenden Gott der Antike eine kontinuierliche Traditionslinie zur heutigen Psychotherapie? Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Es sind eher die Außenseiter, die Irrationalisten, Esoteriker und Heiler, die heute noch diese Traditionslinie pflegen. Dennoch sind ihre Argumentationen interessant.
Da ist zuerst der Schriftsteller, Philosoph und Seelenarzt Hans Blüher (1880 - 1955), ein politisch sehr weit rechts stehender „Magier“, der die Weimarer Republik bekämpfte und einem elitären Menschentum huldigte. Er sah in dem „Abfall“ des Hippokrates vom Asklepios-Kult den großen „Sündenfall“ und ging davon aus, dass nur das sogenannte „priesterliche Urwissen“ zur Heilung von Kranken führen kann. Die moderne Medizin bezeichnet er dagegen als „Unwissen“.
Das „priesterliche „Urwissen“ beschreibt er so: „Die Krankheiten stammen von den Göttern (und zwar von verletzten Göttern); ihre Heilung kann deshalb ausschließlich geschehen durch Versöhnung der Götter. Wenn es gelingt, die Brücke zu schlagen (pontifex) und die verlorene Verbindung mit den Göttern wieder herzustellen (religio), so ist Krankheit unmöglich. Der rigorose priesterliche Standpunkt den Krankheiten gegenüber muss also der sein, dass jeder Eingriff in ihren Verlauf außer dem des Brückenschlages Pfuscherei, verstärkte Sünde und neuer Frevel ist. Niemals kann auf einem anderen Wege wirkliche „Heilung“ erfolgen als auf dem der Religion. Wunden flicken ist nicht Wunden heilen.“
Weiter schreibt er: „Hinter dieser, auf die menschliche Medizin gemünzten priesterlichen Anschauung steht natürlich das ganze übrige Weltbild der Religion. Hiernach ist die gesamte irdische Welt verwundeter Gott. Das Heilen, das heißt, der Inhalt der Religion, ist auf allen Stufen immer eines und dasselbe: ob der eitrige Finger heilt oder die kranke Seele, oder ob die gesamte geschaffene Kreatur zum Schöpfer zurückgeatmet wird: das sind verschiedene Schauplätze, aber derselbe Vorgang. Und dieser Vorgang ist der ausschließliche Vorgang der Religion. Diese aber wird dadurch selbst zum Vorgang und hört auf, bloße Glaubensüberzeugung zu sein. Dieses priesterliche Urwissen, dessen philosophische Formulierung hier kurz versucht wurde, ist gänzlich unabhängig von jeder Historie; es ist zu allen Zeiten gleich und war bei der Gründung der Asklepieien genauso frisch und unmittelbar, wie es heute im Kopf eines klarsichtigen Europäers ist. Dagegen sind die Formen des Brückenschlagens außerordentlich verschieden. Sie sind immer von kultischer Art und bestehen in Opfer, Liturgie, Gesang, Weiheformeln, und sie kreisen im wesentlichen um den Akt der Konsekration, welcher bedeutet: die unmittelbare Anwesenheit des Gottes zu erwirken durch einen einzelnen priesterlichen Akt zum Heile der Gläubigen.“
Blüher hält also unverbrüchlich an der Asklepios-Tradition fest. Besonders die Anhänger des Psychotherapeuten Carl Gustav Jung (1875 - 1961) berufen sich in ihrem Verständnis von Heilung heute noch auf den antiken Gott und seinen Kult, auch wenn sie nach Siegmund Freud ihre Auffassung vom Traum einer moderneren Sicht angepasst haben. Er wird natürlich nicht mehr als direkte Antwort des Asklepios angesehen, sondern als verständlich gewordener Ausdruck der unbewussten Tendenzen der Psyche. Der Psychotherapeut Alphonse Maeder, der auch Jung nahe stand, definiert den Traum so: „Träume sind sinnvolle Gebilde - ein Ausdruck der zweckmäßigen Tätigkeit des Unbewussten. Sie sind Bilder der Vorbereitung und Verarbeitung der Affekte und Strebungen, welche unter der Schwelle des Bewussten stattfinden. Dadurch eignet er sich vorzüglich als Werkzeug der psychologischen Tiefenforschung, aber auch zur psychotherapeutischen Behandlung der Neurosen.“
Maeder nimmt die Heilungen des Asklepios‘ sehr ernst und erklärt sie sich folgendermaßen: „Das Erscheinen des Asklepios, der heiligen Schlange, die im Traum vollzogene Handlung (z.B. das Lecken der Wunde durch die Schlange oder eine Heilhandlung des Asklepios selbst) haben die Bedeutung einer Wendung im Krankheitsprozess. Vom Innern, von einer überindividuellen Seite her, durch Lichtgestalten sichtbar gemacht, strömt eine Kraft ins Bewusstsein, die eine Umstimmung bewirkt (das Aufleuchten eines urtümlichen Bildes aus dem Kollektivunbewussten). Ein dynamischer Faktor - im griechischen Glauben als Epiphanie des Heilgottes aufgefasst - setzt ein, der die ‚Heilwendung‘ (nach dem trefflichen Ausdruck Kerénys ) herbeiführt.“
Maeder begründet die Heilung mit religiösen Begriffen: „Es ist eine alte religiöse Erfahrung, dass wenn der Mensch passiv wird, Gott aktiv werden kann. Natürlich muss man dem Ausdruck ‚passiv‘ einen positiven Inhalt geben, etwa rezeptiv. Wachsamkeit ist Rezeptivität. Das ganze Vorgehen in Epidauros war bestimmt darauf angelegt, die richtige ‚Empfänglichkeit‘ des heilsuchenden Kranken zu erhöhen, wodurch die tiefsten Schichten in der Seele ihre heilenden Potenzen, ihre aufbauenden Möglichkeiten verwirklichen konnten. Im gegebenen Augenblick greift also der Heilgott ein, als ob die vernichtende Kraft, die sich in der Krankheit auswirkt, sich in eine heilende verwandeln oder von einer heilenden Kraft abgelöst würde. Die verhüllte Knabengestalt des Telesphoros und die aufleuchtende Sonnenkraft der jugendlichen Gestalt Apolls drücken diesen Übergang, die Wendung aus. Sie sind Symbole numinoser Ordnung und als solche ‚mana‘-geladen; sie bewirken den Aufgang, die Befreiung.“
Der entschiedenste Vertreter der Schule Jungs war der Schweizer Psychotherapeut C.A. Meier (1905 1995). Er bezeichnet das „asklepische Heilwunder“, das er immer wieder mit dem katholischen Lourdes vergleicht, als „Mysterium“, als geheimen Kult, der viel Ähnlichkeit mit den Vorgängen im Heiligtum von Eleusis gehabt habe. In der Situation der Epiphanie, der Erscheinung des Gottes während der Inkubation, schreibt Meier, sei man „unter vier Augen“ mit dem Gott, könne mit ihm reden, befinde sich mit ihm in einem Dialog, und ein solches persönliches Mysterium führe somit zur gnosis theou - zur Erkenntnis Gottes.
Meier misstraut bei der Behandlung von Neurosen und Psychosen der nach den Krankheitsursachen suchenden Analyse im Sinne Siegmunds Freuds, ja hält sie für unbefriedigend, weil sich aus ihr allein keine Heilung ergeben könne. Bestenfalls könne man damit die Symptome lindern. Eine Heilung könne erst eintreten, wenn es dem Patienten gelinge, ein Verhältnis zu einem Element herzustellen, das neu hinzukomme, eben das Religiöse. (Das Wort kommt von dem lateinischen Wort re-ligare, das so viel wie wieder anbinden bedeutet, hier eben an das Göttliche.) Jung - so Meier - habe als Behandlungsziel im Auge gehabt, dass der Patient den Sinn seines Lebens, Leidens und Soseins verstehe. Erst dann wäre ein religiöse Haltung erreicht und gleichzeitig würde es sich nicht nur um einen bloßen Rückgang von Krankheit handeln, sondern um eine wirkliche Heilung, die zugleich auch eine Wandlung sei. Heilung sei also mit einer tiefen religiösen Erfahrung verbunden und diese erst mache den Menschen „ganz“, d.h. stelle wieder die Verbindung (re-ligare) zum Göttlichen her. Was dadurch zum Ausdruck komme, dass dem Kranken etwas „fehle“, wer gesund sei, habe dagegen die Ganzheit, die Fülle und den Reichtum des Seins.
Ganz und heil seien also Synonyme, identische Begriffe. Wer geheilt sei, sei wieder im religiösen Sinne ganz geworden. Das religiöse Phänomen und die Heilung seien praktisch identisch und würden subjektiv als Transzendenz empfunden, d.h. als neues Element, welches nicht von Anfang an, wenn auch noch so verborgen, im System stecke. Niemand sei in der Lage, die Antwort schon vorher zu wissen. Genau an diesem Punkt sieht Meier die Übereinstimmung mit der Erfahrung der Antike, wo die Epiphanie des Gottes gleich der Heilung sei.
Meier sieht die Prinzipien des Asklepios-Kultes für die heutige Psychotherapie noch immer als gültig an: „In diesem mythologischen Bereich gibt es folglich nur eine Möglichkeit der Heilung, nämlich wenn der krankmachende oder selber kranke oder verwundete Gott persönlich eingreift. Dies ist, wie ich schon sagte, in den Asklepieien ganz eindeutig der Fall. Dabei muss betont werden, dass dort keine medizinische Behandlung betrieben wird, obschon es sich nach den vorhandenen Krankengeschichten oft auch um eindeutig organische Veränderungen handelt. Es wird also ausschließlich irrational verfahren. Kausale Therapie gibt es nicht, sondern an Stelle des Kausalitätsprinzips tritt ein Analogieprinzip, das später in der Homöopathie bekannt gewordene similia similibus curantur (Gleiches wird mit Gleichem geheilt; Gift = Heilmittel).“
Und weiter schreibt Meier: „Dieses Heilmittel ist nur dem Heilgott bekannt, und ein eventuell nötiger Eingriff wird von ihm eigenhändig vollzogen (im Traum), womit die Kur beendigt ist. Die Heilung ist eine intercessio divina, also das Auftreten eines personifizierten göttlichen Prinzips. Die Anerkennung dieser Tatsache vollzieht der Patient lediglich durch eine Weihgabe in den Tempel, z.B. des Asklepios, womit er den Schauplatz der Krankheit verlässt, aber dem Gott verbunden bleibt, als religiosus (terminus technicus). Diese alten Prinzipien sind alle noch als gültig anzunehmen im Bereich seelischer Erkrankungen oder Schwierigkeiten.“
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Gnadenkapelle in Altötting. Der Rundgang um die Kapelle ist mit Votivbildern behängt. (2005)
Dieses Bild basiert auf dem Bild
Altoetting-1-WJP.jpg aus der freien Mediendatenbank Wikimedia Commons und steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation. Der Urheber des Bildes ist W.J.Pilsak.

Was sagen die Kritiker?
 
Der Jungianer C.A. Meier räumt ein, dass eine Heilmethode, die sich auf Asklepios beruft, von ihrer ganzen Anlage her irrational sei, das heißt: mit rational-wissenschaftlichen Mitteln nicht zu begreifen ist. Nun ist es ganz unbestreitbar, dass zu jeder wirklichen Heilung und damit zu jeder Arzt/Therapeut-Beziehung auch ein irrationales Element gehört. Aber kann der ganze Heilvorgang ohne die Ratio und die Vernunft stattfinden? An Kritik des Geschehens in den Heilzentren des Asklepios hat es denn auch nicht gefehlt, die sich dann natürlich auch gegen die Apologie des Kultes richtet - wie etwa die Lehre Jungs.
Die Jungianer verbinden das Phänomen der Heilung eng mit dem Begriff der Synchronizität. Darunter verstehen sie, dass sich zwei Geschehnisse zeitlich gleichzeitig oder kurz nacheinander ereignen, ohne dass sie die gleiche Ursache haben (Akausalität), wobei sich ein Ereignis in der Außenwelt und eins in der Psyche abspielt. Die Jungianer gehen davon aus, dass hier kein Zufall vorliegt, sondern dass der Zusammenhang zwischen beiden Geschehnissen einen Sinn oder Wert ergibt. Die synchronizistischen Ereignisse gelangen dann zu Höhepunkt, wenn sie einen Übergang vom Unbewussten zum Bewusstsein darstellen. Aus diesem Grund - so die Jungianer - stehen Synchronizitäten häufig mit Phasen der Wandlung bzw. Heilung in Zusammenhang.
Ein Beispiel für eine Synchronizität, das Jung selbst erlebt haben will: „Eine junge Patientin hatte in einem entscheidenden Moment ihrer Behandlung einen Traum, in welchem sie einen goldenen Skarabäus zum Geschenk erhielt. Ich saß, während sie mir den Traum erzählte, mit dem Rücken gegen das geschlossene Fenster. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Geräusch, wie wenn etwas leise an das Fenster klopfte. Ich drehte mich um und sah, dass ein fliegendes Insekt von außen gegen das Fenster stieß. Ich öffnete das Fenster und fing das Tier im Fluge. Es war die nächste Analogie zu einem Skarabäus, welche unsere Breiten aufzubringen vermochten, nämlich ein Scarabaeide (Blatthornkäfer), Cetonia aurata, der gemeine Rosenkäfer, der sich offenbar veranlasst gefühlt hatte, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten in ein dunkles Zimmer gerade in diesem Moment einzudringen.“
Wie kann man einen Zusammenhang zwischen Synchronizität und Heilung erklären? Ein Jungianer drückt es im Internet so aus: „Es ist, als ob quasi aus der Zeit-Dimension ein Echo, eine Art Bejahung, eine Bekräftigung erfolgt. Und damit ist man für Sekunden (oder für die Ewigkeit) eingebunden im Gleichen, also simultane Abgabe und Aufnahme von Energie. Der ganze Vorgang ist magisch in dem Sinn, dass wir (noch) nicht verstehen, wie er zustandekommt. Eine Schlussfolgerung wäre demnach, dass mit dem Beginn der Aufmerksamkeit auf synchrone Ereignisse auch ein Beginn zum magischen Bewusstsein und Handeln vorliegen kann. Man ist dann bei jedem Vorhaben mehr bereit, auf ‚Zustimmung‘ von dieser speziellen Zeitenergie zu achten und sich danach zu richten, als vorher. Der ‚magische‘ Mensch kann diese Energien irgendwann auch nutzen, indem er durch bestimmte Rituale oder Willenskraft die Voraussetzungen für synchrone Geschehnisse in seinem Sine schafft.“
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Reste des antiken Brunnenhauses auf dem Gelände des Asklepios-Heiligtums in Lentas. Foto: Arn Strohmeyer

Sind die Heilungen des Asklepios also durch simultane Abgabe und Aufnahme von Energie (was auch immer das sei) zustande gekommen? Der Psychotherapeut Alfred Ribi, der auch der Jungschen Schule angehört, beschreibt den Zusammenhang zwischen Synchronizität und Heilung so: „Es kommt selbst in der modernen Medizin auf Synchronizität an. Wenn ‚es‘ konstelliert, kann Heilung eintreten. Darum ist der griechische Heilgott Asklepios der Kabir der rechten Zeit [Gottheiten in der nördlichen Ägäis, die offenbar Diener größerer Götter waren], dem Kairós [dem rechten Augenblick], beigestellt. Die Zeit stellt den qualifizierten Moment dar, in welchem Dinge möglich sind, welche weder vorher noch nachher möglich sind. Der qualitative Aspekt der Zeit spielt bei Synchronizitäten eine entscheidende Rolle, weil sich in ihm verschiedene Faktoren ohne unser Zutun konstellieren. Der Kairós ist die für die Synchronizität notwendige singuläre Konstellation. Da liegt die Aufgabe für die künftige Parapsychologie! In den Heilberufen stellt sich nun die Frage, kann der Heiler die günstige Konstellation herbeiführen?“
Man kann den Jungschen Therapiebegriff nicht verstehen, wenn man neben der Synchronizität nicht seine anderen Hauptbegriffe hinzuzieht: das kollektive Unbewusste und die Archetypen. Ersteres versteht Jung als eine uralte, überpersönliche Grundschicht in den Psychen, die jenseits aller individuellen Erfahrungen liegt und etwa in Träumen und Mythen zum Ausdruck kommt. Archetypen sind nach Jung „metaphysische Wesenheiten“, ein „an sich bestehendes oder vorhandenes unbewusstes Wissen“, Urbilder menschlicher Vorstellungsmuster, Strukturdominanten, die aus dem Unbewussten heraus das Bewusstsein präfigurieren und strukturieren. Die Therapie hat danach die Aufgabe, dem verschlossenen Ich den Zugang zum kollektiven Unbewussten zu eröffnen und ihm hilfreich auf dem dadurch möglich werdenden Weg der Individuation zu begleiten.
Es ist bekannt, dass eine Psychoanalyse für den Patienten ein langer Weg ist - die Heilungen des Asklepios geschahen aber zumeist in einer Nacht. Mich überzeugen die Argumente der Jungianer nicht, wie die Heilungen des heilende Gottes zustande gekommen sein sollen. Zudem: Es hört sich in der Theorie gut an, nicht Krankheiten, sondern Kranke zu behandeln. Was für die Behandlung einer Neurose zutrifft, weil der Therapeut hier auf die Person des Patienten und sein ganz persönliches Leiden eingehen muss, wobei er natürlich immer im Hinterkopf haben muss, was eine Neurose oder Psychose eigentlich ist, kann auf die Bekämpfung einer Pest- oder Cholera-Epidemie nicht zutreffen. In einem solchen Fall muss die Krankheit bekämpft werden, eine Zuwendung zum einzelnen Patienten würde hier gar nichts bringen, schlimmstenfalls auch den Heilenden selbst noch gefährden.
Der Mythenforscher Walter F. Otto greift die Jungsche Lehre direkt an. Er schreibt: „Diese [von Jung angeführten] Traumbilder sollen den aus ältester Vergangenheit überlieferten mythischen Gestalten so ähnlich sein, dass der Gedanke an eine geheimnisvolle Wiederkehr derselben unabweisbar sei. Man nennt sie denn auch Archetypen, d.h. Urbilder, und stellt sich vor, dass sie sich, ohne Mitwissen des wachen Geistes, in dem sogenannten Unbewussten der Seele durch die Jahrtausende erhalten haben, um in Augenblicken, wo sie ihrer bedarf, als Traumerscheinungen aufzuerstehen. Um diesen absonderlichen Vorgang verständlich zu machen, wird uns die Annahme einer ‚Kollektivseele‘ [„kollektives Unbewusstes“] zugemutet, die das in grauer Vorzeit Gedachte oder Geschaute mit erstaunlicher Treue aufzubewahren vermocht hat. Wenn es so ist, dann müssen die Mythen schon bei ihrem ersten Aufkommen etwas den Seelenerlebnissen Verwandtes gewesen sein, nur dass sie damals noch dem wachen Bewusstsein gegenwärtig waren, während sie später und bis heute ins Unbewusste zurückgesunken sind, aus dem sie der Psychotherapeut in den Träumen seiner Patienten auftauchen sieht und sie ihnen ins Bewusstsein bringt.“
Otto hält die Jungsche These, dass sich im Unbewussten die Ideen der Urzeit konservieren, aus mehreren Gründen für unhaltbar: 1. Der echte Mythos entspringt keinem Traum der Seele, sondern der Wirklichkeit, die das „klare Schauen des geistigen Auges“ wahrnimmt. Der Mythos ist nicht mit dem Traum verwandt, er ist das Gegenteil von ihm, weil der Mythos eine eigene Seinswahrheit hat. 2. Es ist nicht wahr, dass die in Rede stehenden Traumbilder mit den Gestalten des Mythos vergleichbar oder identisch sind. Die tiefenpsychologische Mythendeutung bewegt sich in einem Zirkel: Sie setzt voraus, was sie nachzuweisen glaubt. Sie geht von einem vorgefassten Begriff des Mythischen aus, um ihn in Traumvisionen bestätigt zu finden. Dieser Begriff beruht auf einem Missverständnis. Das heißt: Es gibt keine Ähnlichkeit zwischen den Bildern, die die Patienten in ihren Träumen haben, mit den göttlichen Urgestalten.
Auch Siegmund Freud hatte eine ganz andere Auffassung vom Traum als die Jungsche Schule. Er ging davon aus, dass Kultur und Zivilisation die primitiven und niederen Triebe des Menschen unterdrücken. Im Schlaf offenbarten sich dann die schlimmsten Regungen, weil man dort frei sei von den Zwängen der Kultur und nicht sublimieren müsse. Das Hauptmerkmal der Traumsprache war für ihn der Verhüllungs- und Entstellungsprozess der irrationalen Wünsche, der auch dafür sorge, dass man ungestört weiter schlafen könne. Träume sind voller Symbole, und Freud nahm an, dass es die Hauptfunktion des Symbols sei, den ihm zugrunde liegenden Wunsch zu verhüllen und zu entstellen. Er fasste diese Symbolsprache als eine Art Geheimcode auf und die Traumdeutung als deren Dechiffrierung.
Zwischen dem an Freud orientierten Psychoanalytiker Erich Fromm und C.G. Jung entspann sich eine Kontroverse über das Wesen des Traums, der Religion und der Heilung. Das Wesen religiöser Erlebnisse hat bei Jung den Charakter der Unterwerfung unter Mächte, die höher sind als wir. Das Unbewusste und der Traum sind bei ihm nicht ein Teil des individuellen Seelen- und Geisteslebens, sondern religiöser Natur - eine von uns unabhängige Macht, die in unser Denken einbricht. Beide sind also religiöse Phänomene, weil beide der Ausdruck des Ergriffenseins von dieser Macht außer uns sind. Das gilt auch für die Heilung: Jung sagt, dem Menschen würde nie geholfen durch das, was er denkt, sondern nur durch die Offenbarung einer Weisheit, die größer sei als die eigene.
Fromm kritisiert, aus einer solchen Einstellung müsse das Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins an übernatürliche Mächte entstehen, was aber gerade das Gegenteil von Religion sei. In der Anbetung und der Hingebung an solche Mächte entfremde sich der Mensch von seinen eigenen Kräften, die es ja gerade zu entfalten gelte. Der Mensch sei dann restlos auf die „Gnade“ dieser Gewalten außerhalb von ihm angewiesen. Das sei aber der wahre Sündenfall: die Entfremdung von sich selbst, die Unterwerfung unter fremde Mächte, die Wendung gegen sich selbst. „Gott“, schreibt Fromm, „ist nicht das Symbol der Macht über den Menschen, sondern das Sinnbild der Kraft, die der Mensch in sich spürt.“ Deshalb müsse die „wahre“ Religion gerade diese Kraft stärken, d.h. die Fähigkeit zur Vernunft und zur Liebe.
Fromm argumentiert, dass wir im Traum oft viel weiser und anständiger seien als im wachen Dasein. Was wir im Schlaf erleben und denken sei aber unser Denken und rühre nicht, nicht wie Jung behauptet, von einer transzendenten Offenbarungsquelle her. Das Ziel des „Heils“ oder der „Heilung“ bei jeder Therapie liegt für Fromm in der Verwirklichung der höchsten Lebensideale: sich eben ganz der Liebe und der Wahrheit (Vernunft) widmen zu können - oder anders gesagt: die Liebe leben und die Wahrheit denken zu können. Das sei auch das Anliegen der antiken Philosophen Sokrates, Platon und Aristoteles gewesen: dem Menschen zum Glück und zur Entfaltung seiner Seele zu verhelfen. In diesem Sinne habe auch Freud als Ziel der menschlichen Entwicklung die Erreichung folgender Ideale gesehen: Erkenntnis (Vernunft, Wahrheit, Logos), Menschenliebe, Verminderung des Leidens, Unabhängigkeit und Verantwortung. Und diese Ideale ständen in keinem Widerspruch zur Religion.
Fromm beschreibt das Ziel seiner eigenen Arbeit als Psychotherapeut so: „Nur der freie Mensch, der sich von Autorität losgemacht hat - einer drohenden und beschützenden Autorität -, kann seine Vernunftkraft anwenden und objektiv die Welt und seine eigene Rolle darin erfassen, ohne Illusion, aber mit der Fähigkeit, die ihm innewohnenden Gaben zu entwickeln und zu gebrauchen. Einzig wenn wir heranwachsen und aufhören, Kinder zu sein, die von einer Autorität abhängen und sie fürchten, können wir wagen, selbst zu denken. Das Umgekehrte ist aber ebenso wahr. Nur durch eigenes Denken vermögen wir uns von der Herrschaft der Autorität freizumachen.“
Die Psychoanalyse geht heute davon aus, dass die Behandlung psychischer Störungen durch das Bewusstmachen der unbewussten Konflikte und durch die Einsicht in die lebensgeschichtliche Bedeutung der Symptome erreicht werden muss. Durch die Methoden der freien Assoziation, der Traumanalyse, der Widerstandsanalyse und der Übertragungsanalyse soll der Zugang zum Unbewussten und damit die Heilung erreicht werden. Was für einen langen verschlungenen Weg der Wandlung hat die Auffassung von Traum und Heilung von Asklepios bis heute zurückgelegt!
Jungs Begriffswelt bleibt dagegen den „Autoritäten“ verhaftet - übernatürlichen Mächten, die „höher sind als wir“. Deshalb steht sie dem Okkultismus, Schamanismus, der Alchemie und der Parapsychologie so nahe. Diese irrationalen Elemente seiner Lehre haben ihn deshalb auch so sehr in die zustimmende Nähe zum Nationalsozialismus gebracht. Er hat nach dem Zusammenbruch des Hitler-Reiches sein Denkschema nicht revidiert und überwunden, sondern nur die Sichtweise dessen geändert, worauf das Schema angewendet wurde. (Heinz Gess)
Was kann man zugunsten des Asklepios und seines Kults in einem zumindest differenzierendem Urteil vorbringen? Der irische Altphilologe Erec Robertson Dodds (1893 - 1979) hat versucht, dem Phänomen des heilenden Gottes in seinem Buch „Die Griechen und das Irrationale“ näherzukommen. Er ist nicht der Meinung, dass die Heilungsberichte aus den Asklepieien als Priesterfälschungen abzutun seien. Er glaubt auch nicht, dass die Patienten unter dem Einfluss von Medikamenten oder unter Hypnose standen oder sonstwie Schlafen oder Wachen verwechselten und einen Priester im Phantasiekostüm als den göttlichen Heiler ansahen. Natürlich muss man in Erwägung ziehen, so Dodds, dass die Berichte mit den Heilungsangaben von den Priestern überarbeitet und erweitert worden sind.
Dodds nimmt aber an, dass die Träume oder Visionen in den Schlafräumen der Asklepios-Heiligtümer durch das Kultur-pattern (Muster) bestimmt worden seien. Erfahrungen dieser Art wiesen auf ein Glaubensmuster hin, das nicht nur von den Träumenden akzeptiert worden sei, sondern von so gut wie allen Menschen in der damaligen Gesellschaft. Er schreibt: „Die Form der Erfahrung wird vom Glauben bestimmt und stärkt ihrerseits wieder den Glauben. Es ist ein Cirulus vituosus: Was der Träumer glaubt, sieht er deswegen, und was er sieht, glaubt er deshalb.“ Dodds hält es für möglich, dass die Patienten in einen Zustand der selbst induzierten Trance verfielen - wie oben im Fall des Aristidis geschildert -, bei welcher sie wirklich ein starkes inneres Empfinden der göttlichen Gegenwart hatten und schließlich die göttliche Stimmen nur zum Teil von außen kommend vernahmen. In einem solchen Geisteszustand hätten die Patienten auch die genauen Vorschriften des Gottes entgegennehmen können, eher als in einem Traum. Die Vorschriften des Gottes waren ja oft von magischer Art. So sollten die Patienten Schlangengift oder Asche vom Opferaltar zu sich nehmen. Oder Asklepios bestrich ihre Augen mit dem Blut eines weißen Hahns.
Gab es viele Heilungen und waren sie von Dauer? Dodds zitiert den Philosophen Diogenes, der einmal skeptisch bemerkte: „Wenn alle, die nicht geheilt wurden, auch Berichte auf Votivtafeln geschrieben hätten, gäbe es viel mehr von ihnen.“ Aber die Fehlschläge spielten eben keine Rolle außer für die davon Betroffenen. Alles hing von der Gnade des Gottes ab. Auch dürfe man sich - so Dodds - nicht auf die Endgültigkeit der Heilungen versteifen. Von den Menschen, die Rückfälle erlitten, sei nichts überliefert. Auch müssten die Heilungen nicht sehr zahlreich gewesen sein, der Ruf der Heilstätte von Lourdes etwa berufe sich auch nur auf sehr wenige Heilungen, die es gegeben haben soll. Jede solche Heilung habe sich - auch wenn sie nur ein Gerücht gewesen sei - in den Asklepieien sicher wie ein Lauffeuer verbreitet und habe den noch verzweifelt dort Wartenden neue Hoffnung gegeben.
Aber die Träume bei der Inkubation in den Tempeln - so Dodds - entsprachen eben den überlieferten kulturellen Mustern, an die die Menschen gewohnt waren. Die Erscheinung eines Gottes oder das Hören einer göttlichen Stimme sei ein geläufiger Typus eines solchen Musters im antiken Griechenland gewesen, das die Ausübung gewisser Handlungen gebiete bzw. untersage. Ein solches „spectaculum“ sei gar nichts Besonderes gewesen. Selbst der rationale Denker Sokrates habe seinen daimon (Dämonen) gehabt, auf dessen Simme er gehört habe.
Dodds räumt auch ein, dass die Befolgung solcher Träume durchaus ein vorübergehendes Verschwinden neurotischer Symptome hätte bewirken können. Aber sein Resümee fällt eher kritisch aus: „Auf längere Sicht lässt sich schlechterdings wenig zugunsten eines Systems sagen, das den Patienten seinen eigenen unbewussten Impulsen ausliefert, die sich als göttliche Mahnungen ausgeben. Man kann das nüchterne Urteil des Cicero [römischer Staatsmann und Schriftsteller 106 - 43 v.u.Z.] getrost akzeptieren, dass weniger Patienten ihr Leben dem Asklepios verdanken als dem Hippokrates.“
Letzte Gewissheit über das, was in den Heiligtümern des Asklepios geschah und ob und wie der Gott den Menschen geholfen hat, gibt es nicht. Der Asklepios-Kult war eben ein Mysterienkult. Wir müssen das Auftreten dieses milden und gütigen Gottes als Mythos so stehen lassen und uns bewusst sein, dass Mythen heute wie damals von großer Kraft und Wirkung sein können. Wir sollten uns aber auch davor hüten, den heilenden Gott der Griechen und seine Religion als Projektionsfläche zu benutzen, in die wir alles Mögliche hineindeuten, was mit ihm selbst gar nichts zu tun hat. Damit werden wir ihm und seinem Kult nicht gerecht. Unsere Zeit verlangt andere Antworten auf die Fragen, die der Gott den Menschen damals gegeben hat.
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Säulenkapitell eines antiken Gebäudes auf dem Tempel-Bezirk. Foto: Arn Strohmeyer

Die Botschaft der antiken Griechen
 
Ich sitze wieder auf den Stufen des Tempels in Lentas, blicke auf den Ort hinunter - wie mag er damals ausgesehen haben? Nur der Löwenberg hat sich nicht verändert im Wechsel der Zeiten, dieser Riese liegt noch so da wie ehedem. Und das Meer, das ihn von drei Seiten umgibt, brandet noch immer im selben Rhythmus gegen den Strand und die Felsen. Kontinuität auch hier. Nur der Tempel des Asklepios durfte nicht überleben, er fiel mutwilliger Zerstörung zum Opfer, obwohl er so viel Weisheit und Schönheit barg, den Rest besorgte die Natur. Dieser milde und helfende Gott musste anderen Mächten weichen. Ob sie besser und freundlicher zu den Menschen waren? Zweifel sind angebracht.
Auch wenn wir den heilenden Gott der Griechen heute mit rationaleren und aufgeklärteren Augen sehen, er bleibt eine mythische Wahrheit, die die Menschen über viele Jahrhunderte hin zutiefst angesprochen hat. Vielen Leidenden wird er - wie auch immer - geholfen haben. Asklepios war neben den anderen Göttern eine der genialen mythischen Erfindungen des griechischen Geistes, der die innere und die äußere Wirklichkeit des Menschen in der Welt so wunderbar eingefangen hat. Beruhte die Kraft dieses Geistes am Anfang auf Magie, gründete sie sich später auf das Sein der Natur. Von hier aus eroberte der griechische Geist auch die Künste und die Wissenschaften. Er tat das so gründlich, dass ein Philosoph noch im 20, Jahrhundert schreiben konnte: „Ob es uns gefällt oder nicht, der Untergrund der geistigen Landschaft der westlichen Welt wurde uns in Griechenland bereitet. Die Griechen zeichneten die Landschaft unserer Begriffswelt und formulierten die Grundelemente unserer Betrachtungsweisen.“ Es ist und bleibt ein faszinierendes Rätsel, wie dieses Volk auf seinem kargen Boden, der überall von Gebirgen und Meer umgeben ist, in einer so kurzen Zeitspanne so viel Genialität hervorbringen konnte.
Wenn ich an den göttlichen Asklepios denke und ihn mir leibhaftig vorstelle, dann muss ich an einen anderen, aber sterblichen Griechen denken, der auch einen Begriff vom „Heilen“ und vom „Heil“ hatte, der aber viel mehr mit dem hellen Licht der Wissenschaft zu tun hatte als der Mysterienkult des Asklepios. Ich meine Pythagoras (570 - 510 v.u.Z.). Er stand dem heilenden Gott - obwohl selbst Naturwissenschaftler - sehr nah, weil er sich selbst den Beinamen „Apoll“ gab, also des Vaters von Asklepios.
Das hat folgende Bewandtnis. Pythagoras machte eine revolutionäre Entdeckung, die mit Musik, dem ureigenen Gebiet des Apoll, zu tun hat. Er entwickelte ein Instrument, das er Monochord nannte: einen länglichen Holzkasten, über den er eine Saite spannte. Mit einem Steg teilte er unter der Saite unterschiedliche Längen ab. Je nachdem, wo der Steg steht, erklingen beim Anschlagen unterschiedliche Töne. Pythagoras entdeckte, dass dabei eine Gesetzmäßigkeit herrscht. Denn wenn man den Steg der Saite in einem bestimmten Verhältnis teilt, erklingen Intervalle (immer zwei Töne, also ein Zahlenpaar): 1:2 Oktave, 2:3 Quinte, 3:4 Quarte, 4:5 große Tertz, 5:6 kleine Tertz.
Pythagoras entdeckte so als erster, dass einfache mathematische Zahlenverhältnisse und unsere gehörten Intervallerlebnisse untrennbar miteinander zusammenhängen. Man kann also Zahlen als Sinnesqualitäten psychisch erleben (hören). Die Pythagoreer entdeckten - und die moderne Naturwissenschaft hat das später vielfach bestätigt -, dass es in der Natur eine Fülle solcher Zahlenpaare (Proportionen) gibt, die als Intervalle psychisch gehört werden können.
Ein Bespiel: Der Astronom Johannes Kepler (1571 - 1630) wies nach, dass die Bahnen der Planeten Zahlenverhältnisse ergeben - und zwar solche, wie sie den Intervallverhältnissen zu Grunde liegen. Dabei handelt es sich um uns vertraute Intervalle, um Konsonanzen, aus denen Dreiklänge bestehen. Man kann die Musik der Planetenbahnen also hören, nach Noten auf dem Klavier spielen! Die antiken Griechen wandten diese Gesetze in ihrer Baukunst an. Sie bauten ihre Tempel nach Intervall-Proportionen, sodass Goethe über den griechischen Tempel von Paestum in Süditalien schreiben konnte: „Der Säulenschaft, auch die Triglyphe klingt. Ich glaube gar, der ganze Tempel singt.“ (Faust II)
In den vergangenen Jahren hat der Physiker Brian Green solche Intervall-Phänomene bei den kleinsten Teilchen der Materie nachgewiesen. Die Wissenschaft der harmonikalen Grundlagenforschung findet immer neue Belege für diesen Tatbestand, indem sie nach Intervallgesetzen in der Natur sucht. Die Intervalle, die gefunden werden, sind in der Mehrzahl für das menschliche Ohr wohllautende Konsonanzen. Die Pythagoreer hatten also herausgefunden, dass die ganze Natur nach bestimmten Gesetzen klingt! Musikgesetze, so formuliert es der Musikforscher Rudolf Haase, sind maßgeblich am Aufbau der Welt beteiligt!
Das bedeutet auch, dass die modernen Naturwissenschaften sehr einseitig ausgerichtet sind, weil sie sich für diesen Aspekt der Realität nicht interessieren, sondern nur ein Teilbild erstellen, eben ein nur auf Kausalität und Quantität ausgerichtetes, unterschlagen aber, dass es in der Natur auch musikalische Proportionen gibt. Im Denken der Naturwissenschaft erfahren also die Materie und die Kausalität eine Überbewertung. Das kann zu verhängnisvollen weltanschaulichen Fehlschlüssen führen - zu einseitigem Materialismus usw. Denn wenn die Natur auch nach musikalischen Gesetzen abläuft, liegt es nahe, darüber nachzudenken, ob es einen Plan gibt, nach dem die Wirklichkeit so gestaltet ist - und damit auch einen Erdenker dieses Plans. Damit ist man bei den letzten philosophischen, metaphysischen und religiösen Fragen angekommen, die aber die antiken Griechen schon gestellt haben.
Sie haben aber daraus ganz andere Schlussfolgerungen gezogen als die Moderne. Sie erforschten die Natur nicht, um über sie zu herrschen und sie auszubeuten, wie es die heutige Naturwissenschaft seit der Renaissance tut, sondern ihnen ging es darum, bei der Erforschung der Natur letztlich göttliche Gesetze zu entdecken. Deswegen war ihre Erkenntnis der Natur für sie ein „Heilswissen“ - im Gegensatz zu dem Wissen über die Natur in der Moderne, das ein „Herrschaftswissen“ über die Natur ist. Wie anders sähe die Welt heute aus, wenn die Menschheit diesen Weg des Heilswissens nie verlassen hätte oder wenn das Wissen um ein solches Heil auch den Gang der Dinge heute lenken würde!
Und weil die Welt Klang und Musik ist, hatte der Mythos Apoll mit Recht zum Gott der Musik gemacht, die die Grundlage für alles ist. Und sein Sohn Asklepios hatte dieses Wissen natürlich von seinem Vater übernommen. Die harmonikale Forschung bietet eine Hypothese an, warum die Musik auch heilende Kräfte hat: Weil da eine Art Resonanzvorgang stattfindet. Auch der menschliche Körper besteht wie die ganze Wirklichkeit der Natur aus musikalischen Gesetzen (Intervallproportionen) und deshalb reagiert er auf Musik, wenn sie in der entsprechenden Form dargeboten wird. Er vermag sich dann zu regulieren, wobei auch die Seele sich neu ordnen kann. Wie es über Apoll hieß: Er führte mit dem Spiel seiner Leier das Chaos zur Ordnung und brachte die Widersprüche zu einer harmonischen Einheit... Und weil Pythagoras die Gesetze für diese Beschaffenheit im Kosmos als erster entdeckte, gab er sich den Beinamen „Apoll“.
An all das muss ich denken, wenn ich auf den Stufen des Tempels des heilenden Gottes in Lentas sitze...
 
 
 
 
 
 
 
 
(Dieser Text mit Fotos ist auch als Broschüre erschienen und kann vom Verfasser bezogen werden: arn.strohmeyer@web.de)
 
Literatur
 
Asklepios. Heilgott und Heilkult. Ausstellung des Instituts für Geschichte der Medizin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, (Katalog) Erlangen 1990 (mit einem Aufsatz über Asklepios von Thomas Schnalke)
 
Blüher Hans: Traktat über die Heilkunde, Stuttgart o.J.
 
Burkert, Walter: Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion, München 1998
 
Dodds, Erec Robertson: Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970
 
Fromm, Erich: Märchen, Mythen, Träume, Reinbek 2004
 
ders.: Psychoanalyse und Religion, München 1966
 
Gallas, Klaus: Kreta. Von den Anfängen Europas bis zur kreto-venezianischen Kunst, Köln 1985
 
Gess, Heinz: Vom Faschismus zum Neuen Denken. C.G. Jungs Theorie im Wandel der Zeit, Lüneburg 1994
 
Haase, Rudolf: Der messbare Einklang. Grundlagen einer empirischen Weltharmonik, Stuttgart 1976
 
Jung, Carl Gustav: Psychologie und Religion. Die Terry-Lecture 1937 gehalten an der Yale-Universität, Zürich-Stuttgart 1962
 
Kazantzakis, Nikos: Einsame Freiheit. Biographie aus Briefen und Aufzeichnungen des Dichters von Eleni N. Kazantzaki, Berlin 1991
 
Kerény, Karl: Der göttliche Arzt. Studien über Asklepios und seine Kultstätten, Darmstadt 1964
 
Krug, Antje: Heilkunst und Heilkult. Medizin in der Antike, München 1984
 
Lauffer, Siegfried: Griechenland. Lexikon der historischen Stätten. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1989
 
Leven, Karl-Heinz (Hrsg.): Antike Medizin. Ein Lexikon, München 2005
 
Lexikon der Alten Welt, 3 Bde., Zürich-München 1990
 
Maeder, Alphonse: Sendung und Aufgabe des Arztes. Ausblick eines Psychotherapeuten, Zürich 1952
 
Meier, C.A.: Antike Inkubation und moderne Psychotherapie, Zürich 1948
 
ders.: Der Traum als Medizin. Antike Inkubation und moderne Psychotherapie, Zürich 1985
 
Otto, Walter F.: Die Götter Griechenlands. Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes, Bonn 1929
 
ders.: Theophania. Der Geist der altgriechischen Religion, Frankfurt/Main 1979
 
Ribi, Alfred: Ein Leben im Dienst der Seele. Gesammelte Aufsätze und Vorträge/ Teil 2, Bern 2007
 
Spratt, Thomas Abel Brimage: Travels and Researches in Crete, 2. Bde., London, 1865
 
Tripp, Edward: Lexikon der antiken Mythologie, Frankfurt/Main- Wien, 1990
 
Vernant, Jean-Pierre: Der Mensch der griechischen Antike, Frankfurt/Main 1996
 
Ziegler, Konrat/ Sontheimer, Walter/ Gärtner, Hans (Hrsg.): Der kleine Pauly. Lexikon der Antike, 5. Bde., München 1979