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Virtuelles Magazin 2000


Das Künstlerdorf und der Nationalsozialismus:
 
„Kunst aus dem Urgrund deutsch-nordischen Volkstums schaffen“
 
Gedanken zu Ferdinand Krogmanns neuem Buch „Worpswede im Dritten Reich 1933 - 1945“
 
Von Arn Strohmeyer
 
Das Dorf Worpswede, das ja zugleich eine der bedeutendsten deutschen Künstlerkolonien war und in der Nähe von Bremen liegt, genießt in der Hansestadt Kultstatus. Man war mit der im Moordorf hervorgebrachten Kunst von Anfang an eng verbunden, zeigte seine Maler schon sehr früh in der Kunsthalle und in anderen Galerien. Bremer Künstler wie etwa Heinrich Vogeler, Paula Becker-Modersohn, Bernhard Hoetger und der Mäzen Ludwig Roselius spielten in Worpswede eine wichtige Rolle. Eigentlich eine schöne Symbiose, wären da nicht die zwölf Jahre des Nationalsozialismus, die auch in der Kunstszene viel braunes Engagement und Bekennertum hervorbrachten und die noch immer - auch nach mehr als 60 Jahren nach dem Ende des braunen Spuks - die schöne Eintracht stören.
Am liebsten würde man diese Zeit ausklammern, vergessen und verschweigen - bloß nicht an ihr rühren, denn man möchte sich doch die schöne Idylle vom „Weltdorf“ im Moor (so hat Fritz Mackensen Worpswede genannt) und der „weltoffenen“ Hansestadt an der Weser erhalten, koste es was es wolle! Und da gibt es ja auch noch den einträglichen Fremdenverkehr, den man mit solchen überflüssigen Diskussionen schon gar nicht belasten möchte!
Viele Jahre hat das Schweigekartell funktioniert. Autoren, die über Worpswede schrieben, machten mit ganz wenigen Ausnahmen einen großen Bogen um das, was sich vor und in der Nazi-Zeit politisch-ideologisch im Künstlerdorf ereignet hatte. Die NS-Jahre waren am Ort offenbar spurlos vorübergegangen - die Künstler, die hier gelebt und gearbeitet hatten, waren alle in der „inneren Emigration“ gewesen, so behauptet es die Legende. Um jede peinliche Auseinandersetzung zu vermeiden, wandte man nach 1945 einen Trick an: Man erklärte die Kunst, die hier entstanden war (damit ist vor allem die der ersten Malergeneration gemeint) einfach zu abgehobener, zeitloser Klassik, die mit den kulturellen und geistigen Entwicklungen und Strömungen der Zeit nichts zu tun hatte. Ein Nestbeschmutzer, wer anderes behauptete!
Dabei stand die Worpsweder Kunst von Anfang an eindeutig unter Ideologie-Verdacht. Denn die Maler der ersten Generation hier - Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Heinrich Vogeler, Hans am Ende, Fritz Overbeck und Carl Vinnen - gehören ideen- und kulturgeschichtlich zu einer Richtung, die man mit dem Begriff Kulturpessimismus umschreibt. Was der Worpswede-Mythos bis heute als großen Aufbruch in die Natur des Moordorfes schildert, was als mutige Auflehnung und couragierter Protest gegen die Akademien der damaligen Zeit verklärt wurde, war in Wirklichkeit keine so heroische Tat. Sie war vielmehr Teil eines im deutschen Bürgertum weit verbreiteten Unbehagens an den politischen und kulturellen Zuständen im Kaiserreich am Ende des 19. Jahrhunderts. Der Kulturpessimismus war ein Aufstand gegen Alles, was die Moderne und ihre Zivilisation ausmacht: Aufklärung, Vernunft, Wissenschaft, Industrie, Säkularisierung, Demokratie und Parlamentarismus, mit einem Wort gegen Alles, was Rationalismus und Intellektualismus seit der Französischen Revolution hervorgebracht hatten.
Die kulturpessimistische Bewegung hatte auch ihren Verkünder und Propheten: den völkischen Ideologen Julius Langbehn (1851 - 1907), der in seinem Bestseller „Rembrandt als Erzieher“ dargelegt hatte, worum es ihm und seinen zahlreichen Anhängern ging: Zurück in die Vergangenheit. Das „wahre“ Volk wurde da beschworen, das Langbehn vor allem in den rassereinen niederdeutschen Bauern sah, eine Menschengruppe, die noch - unbefleckt von der Zivilisation - im Boden verwurzelt ihren ursprünglichen Charakter bewahrt hätte. In seiner rückwärtsgewandten Utopie strebte er einen gesellschaftlichen Zustand an, in dem die Menschen - noch nicht von der Dekadenz der großen Städte infiziert - in „gesunden“ und „organischen“ Dorfgemeinschaften leben sollten - so wie die niederdeutschen Bauern in der norddeutschen Tiefebene, die sich für Langbehn von Dänemark bis zu den Niederlanden erstreckte. Der Idealtyp des niederdeutschen Menschen (wobei er niederdeutsch mit arisch gleichsetzte), stellte sich in dem holländischen Maler Rembrandt (1606 - 1669) dar, dieser vereinigte - so Langbehn - die edelsten Eigenschaften der niederdeutschen Rasse in sich. Ihm hat er deshalb auch sein Buch gewidmet.
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Julius Langbehn, Prophet der Heimatkunstbewegung; Fotoreproduktion Ferdinand Krogmann

Die Maler der ersten Generation In Worpswede waren begeisterte Anhänger dieses völkischen Propheten, sie bekannten sich so gut wie alle zu Langbehn. Fritz Mackensen hat bekannt, wie sehr ihn dessen Buch beeinflusst hat: „Langbehns Buch ‚Rembrandt als Erzieher‘ haben wir sozusagen verschlungen. Wir lebten in dem Gedanken, dass Rembrandt auf derselben geographischen Linie geboren ist und gelebt hat, auf der Worpswede liegt.“ Auch Otto Modersohn lehnte sich eng an Langbehn an, er leitete aus dessen Rembrandt-Buch sein eigenes Kunst-Ideal ab. Nachzulesen in seinen Tagebüchern.
Neben dem Bekenntnis gibt es noch einen anderen Entwicklungsstrang, der aufzeigt, warum die Worpsweder Kunst in so bedenkliches politisches Fahrwasser geriet. Das ist die niedersächsische Heimatbewegung, zu der sich die Maler der ersten Generation auch bekannten. Auch sie verfolgte - und Langbehn darin sehr ähnlich - eine rückwärtsgewandte Utopie. Sie wollte den vorindustriellen Zustand einer bäuerlichen und ständischen, organischen Gesellschaft wiederherstellen. Die industrielle Revolution galt diesen Gruppen als „undeutsch“ und „zersetzend“, man wollte vor allem die Tradition und Lebensweise der Bauern auf dem Land konservieren, weil sich darin der wahre „Volksgeist“ oder die wirkliche „Volksseele“ ausdrücke. Der Historiker Jost Hermand hat über diese Bewegung geschrieben: „Wenn es überhaupt eine Bewegung zwischen 1890 und 1933 gegeben hat, die dem Faschismus den Weg bereitete, dann die stammesbetonte, regionalistische und völkische Heimatschutz- und Heimatkunstbewegung um 1900.“
Viele Historiker haben den engen Zusammenhang von Kulturpessimismus und Nationalsozialismus konstatiert. Fritz Stern hat ein Buch darüber geschrieben („Kulturpessimismus als politische Gefahr“). Sein Kollege Nobert Frey schrieb: „Der Kulturpessimismus ist ein völkisch-nationaler Irrationalismus, der nicht zufällig im ‚Dritten Reich’ gemündet und gestrandet ist.“ Und der Soziologe Ralf Dahrendorf hat ihn als „pathologisches Syndrom“ bezeichnet, „das älter als der Nationalsozialismus ist und diesen zugleich überlebt hat.“
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Der Grabstein von Fritz Mackensen (1866-1953) auf dem Worpsweder Friedhof; Foto Ferdinand Krogmann

Die Nähe der Worpsweder Malerei der ersten Generation zum Nationalsozialismus liegt also klar auf der Hand und zwar nicht nur, weil sie - wie etwa später Fritz Mackensen - klare weltanschauliche Bekenntnisse zu dieser Ideologie und ihrem politischen System ablegten und auch NS-Organisationen angehörten, sondern weil sie kultur- und geistesgeschichtlich aus einer Richtung kamen, die den Nationalsozialismus vorbereitet und zugearbeitet hat - schon Jahrzehnte vor der „Machtergreifung“ von 1933. Es verwundert deshalb auch nicht, dass Langbehn im Dritten Reich hoch geschätzt wurde und zu den geistigen Vorläufern des Hitler-Staates gerechnet wurde.
Von nationalsozialistischer Seite ist die enge Verbindung der Worpsweder Kunst mit den eigenen Kunstvorstellungen immer wieder aufgegriffen worden. So schrieb der NS-Kunstberichterstatter Rolf Hetsch über Otto Modersohn: „Er ist Niederdeutscher von Geblüt, mit allen Fasern seines Herzens im heimischen Boden wurzelnd.“ Und über Fritz Mackensen schrieb derselbe NS-Kulturfunktionär anlässlich von dessen 75. Geburtstag in der Zeitschrift „Kunst im Dritten Reich“: „Er hat als erster Künstler unseren Blick auf die einzigartige Schönheit eines vor ihm unbekannt gebliebenen Stücks unseres Heimatbodens gelenkt, das unsere bewundernde Liebe für immer verdient. Und mit der Schönheit der Scholle hat er den auf ihr gewachsenen, in hartem Lebenskampf fest in ihr wurzelnden Volksstamm nicht allein künstlerisch entdeckt, sondern ihn auch als die in ihrer unbeugsamen Haltung und ihrer erdverbundenen Herkunft ewige Idee des nordischen Menschentums uns nahe gebracht.“
Am 4. November 1938 stellte Gaukulturwart Esser auf einem Kameradschaftsabend in Worpswede fest: „Die Umwälzung des Nationalsozialismus bedeutet auch Wiedergeburt der deutschen Volkskultur. Sie kann nicht geschehen ohne Beachtung der Vergangenheit. Von diesem Standpunkt aus muss auch Worpswede gewertet werden. Deutscher Geist und völkisches Empfinden, wie sie die ersten Worpsweder offenbarten, sind noch nicht gestorben.“ Die Traditionslinie war also klar und eindeutig. Die Worpsweder Maler der ersten Generation mussten im „Dritten Reich“ gar keine spektakulären Blut- und Bodenbilder malen. Sie waren auf Grund ihrer „niederdeutschen“ Herkunft Vorzeigekünstler der neuen Herrscher. Stilistisch eckten sie ohnehin nicht an, ganz im Gegenteil.
Sie wurden mit Ausstellungsmöglichkeiten und Preisen überschüttet. Mackensen wurde in die Liste der „gottbegnadeten“ Künstler aufgenommen, diese Gottbegnadeten-Liste“ (auch „Führerliste“ genannt) hatte Propagandaminister Josef Goebbels erstellt, sie enthielt die Namen der Künstler, die Hitler am meisten schätzte. Mackensen bekam von Goebbels zudem für sein Schaffen die höchste kulturelle Auszeichnung des Hitlerstaates – die Goethe-Medaille verliehen. Sein Kollege Otto Modersohn erhielt zum 75. Geburtstag dieselbe hohe Ehrung und obendrein von Hitler persönlich noch den Professoren-Titel. Über mangelnde Ehrungen von Seiten des NS-Staates konnten sich die beiden bedeutendsten Maler der ersten Generation der Worpsweder Künstlerkolonie also nicht beklagen.
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Der von Hitler zum Professor ernannte Otto Modersohn wurde in Lüneburg vom Gauleiter Telschow empfangen, Wümme-Zeitung vom 7.2. 1942, Foto; Reproduktion F. Krogmann

Den Anfang einer kritischen Worpswede-Literatur hatte in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts Hans-Christian Kirsch mit seiner Monographie „Worpswede. Geschichte einer Künstlerkolonie“ gemacht. Sie stellte zum ersten Mal die Verbindung von Julius Langbehn zu der ersten Künstlergeneration und ihre spätere Nähe zum Nationalsozialismus her. Kirsch beließ es aber bei wenigen Seiten zu diesem Thema, das ein ganzes Buch wert gewesen wäre. Dass die Reaktionen im Ort auf das Werk überaus feindlich waren, versteht sich von selbst.
Im Jahr 2000 unternahm der Verfasser dieser Zeilen zusammen mit dem Kunsthistoriker Dr. Kai Artinger und dem Geschichtslehrer Ferdinand Krogmann den erneuten Versuch, die geistigen und kulturellen Wurzeln der frühen Worpsweder Kunst aufzudecken. Ihr Buch „Landschaft, Licht und niederdeutscher Mythos. Die Worpsweder Kunst und der Nationalsozialismus“, das in einem sehr renommierten Kunstbuch-Verlag in Weimar erschien, fand außerhalb des Ortes große Anerkennung, stieß im Dorf selbst aber auf eisige Ablehnung oder totales Unverständnis - nach dem Motto „Das war doch Alles ganz anders, wer das nicht selbst miterlebt hat, kann das gar nicht beurteilen!“ Worauf sich nur erwidern lässt: Wie kann man dann überhaupt Geschichte als Wissenschaft betreiben? Wer war schon überall dabei und hat die Großen der Geschichte noch persönlich gekannt? Ein Argument, das sich durch seine Absurdität selbst straft. Knapp und eindeutig fiel die Antwort in den Worpsweder Buchläden aus, wenn man nach diesem Werk fragte: „Das führen wir nicht!“
Eine ernstzunehmende Reaktion oder Kritik auf ihre Ausführungen bekamen die Autoren aber von niemandem aus der Szene der Verteidiger des Künstlerdorfes..
Auf ganz andere Weise näherte sich 2010 der Schriftsteller Moritz Rinke diesem Thema. In seinem Roman „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“ gerät die NS-Vergangenheit der Künstlerkolonie und des Dorfes zum - im wahrsten Sinne - „braunen Sumpf“. Denn als der Held dieser satirischen Tragikkomödie das Haus seines bildhauernden Großvaters, das am Rande des Teufelsmoors liegt, mit dem Graben einer Drenage vor dem Absinken in den morastigen Untergrund retten will, entdeckt er zu seiner Verblüffung einige überlebensgroße Statuen von Nazi-Größen, die der Großvater geschaffen und 1945 dann eilends verbuddelt hatte. Und auch noch einiges Andere aus der braunen Zeit kommt ans Licht ...
Nun hat Ferdinand Krogmann ein neues Buch zum Thema vorgelegt: „Worpswede im Dritten Reich 1933 - 1945“. Der Autor hatte sich zuvor schon in einem Buch mit dem Worpsweder Schriftsteller Waldemar Augustiny (1897 - 1979) auseinandergesetzt. Krogmann belegt darin, wie nahe dieser Autor, der seit Anfang der 30er Jahre in Worpswede lebte, der niederdeutschen Heimatkunstbewegung stand, die - wie oben erwähnt - mit ihrem Rekurs auf Rasse, Heimat und Verwurzelung in Boden und Landschaft zu denjenigen Strömungen gehörte, aus denen der Nationalsozialismus ursprünglich schöpfte.
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Augustiny war durch den rassistischen Roman „Die große Flut“ bekannt geworden. In diesem Werk schildert er den Untergang der friesischen Insel Strand durch eine Sturmflut im Jahr 1634. Die Flut ist aber nur ein Symbol für eine Überschwemmung ganz anderer Art: Das Eindringen von Fremden in die heile und abgeschlossene Welt der Friesen. Die Botschaft des Romans lautet: Dringt eine große Flut von Fremden in ein Volk ein und vermischen sich diese mit den ursprünglich dort lebenden Bewohnern, dann droht eben diesem Volk nicht nur der Untergang, es geht dann wirklich unter. Rassentrennung und Reinhaltung der Rasse sind also die obersten Gebote der Stunde.
Dass ausgerechnet dieser Autor nach 1945 zum Vorsitzenden des Entnazifizierungsausschusses in Osterholz-Scharmbeck berufen wurde und nun anderen belasteten NS-Schriftsteller-Kollegen „Persilscheine“ ausstellen konnte, dann auch in die SPD eintrat und für diese Partei zwölf Jahre im Worpsweder Gemeinderat saß, ist wohl ein besonders anschauliches Beispiel für die Wendehalsmentalität dieser Generation und die Sinnlosigkeit der ganzen Entnazifizierungsprozeduren. Krogmann war zu diesem Buch durch einen Prozess ermuntert worden, den der Sohn des Schriftstellers gegen ihn angestrengt hatte - wegen angeblicher Verleumdung seines Vaters. Krogmann hatte vorher schon über Augustiny und dessen NS-Verstrickungen geschrieben. Das Landgericht Verden wies die Klage aber ab. Krogmanns „Rache“ war dann das Buch, in dem er den Worpsweder Autor erst richtig „entlarvte“.
Krogmann hat als Hauptquelle für sein neues Buch neben den in Frage kommenden Archiven vor allem die damals in Lilienthal erscheinende „Wümme-Zeitung“ ausgewertet (heute gehört sie zum „Weser-Kurier“), zu deren Einzugsgebiet auch Worpswede gehört und die in der NS-Zeit genauestens über alle Geschehnisse dort berichtet hat. Diese Quelle schafft Krogmann die Gelegenheit, Fakten in solcher Fülle zu bieten, dass es dem Leser manchmal fast wehtut. Die Methode hat für den Autor aber den Vorteil, jede Polemik vermeiden zu können und nur ab und zu kommentierend eingreifen zu müssen. Am Mikrokosmos Worpswede kann er beispielhaft darstellen, wie die braune Herrschaft von einem kleinen Ort vollständig Besitz ergriffen hat und sie auch bis zum bitteren Ende dort behielt.
TitelderWummeZeitungvom18August1934

Titel der Wümme-Zeitung vom 18. August 1934

Aber Worpswede ist eben nicht nur ein Dorf wie viele andere, sondern auch eine Künstlerkolonie mit einer weiten Ausstrahlung über die Dorfgrenzen hinaus. Diese Kombination von beidem macht die Besonderheit des „Weltdorfes“ aus. Krogmann gelingt es vorzüglich darzustellen, wie so gut wie alle Bewohner des Ortes - „einfache“ Menschen wie die Künstlerschaft - dem „Führer“ und seinen Vorgaben folgten. Spuren von Opposition oder Widerstand hat der Autor nicht ausmachen können. Die Übereinstimmung von NS-Staat und Worpsweder Bürgern war offenbar fast total, was sich auch im Wahlergebnis von 1933 niederschlug: Die NSDAP und die DNVP (Deutsch-Nationale Volkspartei, die mit den Nazis im Reich eine Koalition einging) erreichten zusammen 66,35 Prozent - höher als der Reichsdurchschnitt.
WorpswederBackerbeimUmzugzumTagdes1MaiFotoBeritBohme

Worpsweder Bäcker beim Umzug zum Tag des 1. Mai, Foto Berit Böhme

Von dem Zeitpunkt an, als alle Vereine, Gruppen und Berufsstände in NS-Organisationen gleichgeschaltet waren - „Stahlhelm“, Schützen, Reiter, Frauenverbände, Sänger Feuerwehr, Polizei, Bauern, Lehrer, Handwerker, Händler, Gastwirte sowie selbst die Schweine- und Kleintierzüchter - da wurden permanent Hakenkreuzfahnen geschwenkt, dem „Führer“ gehuldigt und ihm immer wieder bedingungslos Treue geschworen. Da gab es bei jeder sich bietenden Gelegenheit Aufmärsche, Spalierstehen, Gedenkfeiern, Fackelzüge, feierliche Reden zum Lob der neuen Ordnung und auf dem Weyerberg jährlich das große Freuden- und Sonnenwendfeuer, an dem immer so gut wie alle Worpsweder teilnahmen. Auch die Pastoren hielten sich nicht abseits, sie legten ständig Glaubensbekenntnisse für den „Führer“ ab. NSDAP-Kreisleiter Paul Lange wies genau wie der Hauptlehrer Adolf Steinhörster permanent darauf hin, dass die Juden an allem vergangenem und gegenwärtigen Unglück Deutschlands schuld seien. Und die „Wümme-Zeitung“ stimmte in die Hetze ein, indem sie etwa schrieb: Der Jude sei das „Geschwür“, das nun ein Volk nach dem anderen bei sich auszubrennen beginnt ... „Der Jude wird als Schmarotzer ausgeschieden und nie wieder Wirtsvölker in Europa finden.“
In einem solchen vergifteten Klima schien sich auch die Künstlerschaft einrichten zu können. Dem Aufruf von Gauleiter Otto Telschow, eine „gesunde, an die niederdeutsche Heimat gebundene, volkstümliche Kunst zu schaffen“, kamen die meisten Künstler gern nach. Denn damit folgten sie ja ohnehin nur den geistigen Wurzeln des Ortes, erfüllten aber auch das Ziel der Nationalsozialisten, Worpswede zu einem „Zentrum deutsch-völkischer Kultur, zum Inbegriff nordisch-niederdeutscher Kunst“ zu machen. Dass das Ziel erreicht wurde, davon legte der „Erste niederdeutsche Malertag“ 1938 im Ort beredtes Zeugnis ab. In der „Wümme-Zeitung“ hieß es: „Worpswede, das von früher her weltbekannte Dorf der Künstler ist wieder zu Leben und Geltung erweckt worden, und sein Stern soll wieder strahlen wie einst in den guten Tagen nach Begründung der Künstlerkolonie. Der Nationalsozialismus wirkt auch hier als Wegbereiter des Guten, Wahren und Schönen. Nachdem das Erleben der neuen Zeit auch im künstlerischen Schaffen Worpswedes seinen Niederschlag gefunden hat und von den ‚ersten‘ zu den ‚späteren“ eine Brücke gezogen war, die auch über die Kluft der Entartungserscheinungen der Niedergangszeit hinwegging, konnte es keinen schöneren Tag für Worpswede geben als den, da die offiziellen Vertreter der NSDAP des Gaus Ost-Hannover mit dem Gauleiter an der Spitze, dazu erste Männer des Staates, der Wehrmacht und des Reichsarbeitsdienstes im Rahmen des ‚Niederdeutschen Malertages“ in der Gaukulturwoche das Künstlerdorf besuchten.“
Wenn im Dorf in der NS-Zeit das politische Motto lautete: „Möge es immer in Worpswede heißen: Hier ist eine Stätte des Nationalsozialismus geschaffen, die nur ein Ziel kennt: Deutschland und Adolf Hitler!“, so NSDAP-Kreisleiter Lange, als Worpswede in den Rang einer NSDAP-Ortsgruppe aufgestiegen war, gab es von den Künstlern ähnliche Treuebekenntnisse zum Führer in großer Zahl. Zwei sollen hier angeführt werden. Fritz Mackensen formulierte als erster Direktor der „Nordischen Kunsthochschule“ in Bremen die ideologischen Ziele der Akademie und seine persönliche Kunstauffassung so: „Die Nordische Kunsthochschule ist eine staatliche Einrichtung der Freien Hansestadt Bremen. Sie soll schöpfend aus dem Urgrund deutsch-nordischen Volkstums mitarbeiten am Aufbau arteigener Kultur im Sinne Adolf Hitlers. Sie soll aus Blut und Boden heraus zu dem Erlebnis führen, dass die tiefste Wahrheit der sichtbaren Natur zugleich das tiefste Geheimnis birgt.“
Seine Vorstellung von „Heimatkunst“, die die meisten seiner Kollegen sicher teilten, definierte er in seiner Antrittsrede an der neuen Akademie so: „Alles schien verschüttet [in der Weimarer Republik, d.Verf.], da kam der Durchbruch der Deutschgläubigkeit Adolf Hitlers und nun werden alle Kräfte frei, die in zäher Arbeit es unternehmen müssen, aus diesem Sumpf der geistigen Erkrankung herauszukommen. Es liegt nichts näher, als das herbe niedersächsische Volkstum in niedersächsischer Landschaft mit vor Hitlers Wagen zu spannen, in allen Dingen, so auch in der bildenden Kunst.“
Ein andere Worpsweder Künstler, Carl Emil Uphoff, Maler und Schriftsteller, NSDAP-Mitglied, aktiv im nationalsozialistischen „Kampfbund für deutsche Kultur“, Ortswart der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“, Vertreter der Reichsschrifttumskammer im Ort, Mitglied der „Deutschen Arbeitsfront“ (DAF) sowie Ratmann in der „Nordischen Gesellschaft“ (der fast alle führenden Nazis des Reiches angehörten) dichtete für seinen „Führer“:
 
Der Führer spricht! Die Rede wird zum Werke,
dem Wort, das gestern noch Ohnmachtsgeschwätz -
Da wird das Wort Gesetz.
 
Krogmann weist in unendlicher und fast schon quälender Fülle nach. wie sehr die Künstlerschaft des Ortes dem Nationalsozialismus erlag und wie sie und ihre Verteidiger Mythen und Legenden schaffen mussten, um sich zu rechtfertigen, als der braune Spuk vorbei war. Natürlich unterstützten Systemschreiber wie Uphoff auch Hitlers Eroberungs- und Raubkrieg. Er schrieb:
 
Ihr Lichtgeborenen aus des Nordens Weiten,
die durch ihr Tun das Erdenrund erhellen:
Wohlan, erobert neue Ewigkeiten
für Eure Söhne, für die ganze Welt!
 
Und Uphoff wirbt auch um Opfer für den „Führer“:
 
Und dein Leben, deinen Glauben,
um dein Herz und deine Hand,
dass auch du dich opfernd weihest,
deinem Volk und deinem Land!
 
Als das „tausendjährige Reich“ schon nach zwölf Jahren vorbei war, Europa zerstört darniederlag, 52 Millionen Kriegstote und sechs Millionen ermordete Juden zu beklagen waren, da wollte es auch in Worpswede niemand gewesen sein. Niemand wollte irgendetwas bemerkt haben. Die Erbärmlichkeit der Rechtfertigungen war ungeheuerlich. Fritz Mackensen behauptete nun, in der NS-Zeit einen Kampf für die Freiheit und Völkerverbindung der Kunst geführt zu haben! NSDAP-Mitglied sei er geworden, um nachhaltig für die von der Partei zurückgesetzten Künstler eintreten zu können - womöglich noch für die „Entarteten“! Carl Emil Uphoff bekannte sich nun plötzlich zur Demokratie und wollte von all den Verbrechen des NS-Regimes nichts bemerkt haben! Er fühlte sich getäuscht und hintergangen! „Persilscheine“ unbelasteter Personen, die bestätigen sollten, dass man ja eigentlich immer „dagegen“ gewesen war, hatten auch in Worpswede Hochkonjunktur. Eine andere Möglichkeit war, zu behaupten, man sei in der „inneren Emigration“ gewesen wie Manfred Hausmann. Aber wie passt diese Rechtfertigung zu den Lesereisen, die er für NS-Organisationen gemacht hat, dass er als Propagandajournalist bei den Olympischen Spielen 1936 tätig war (zum Dank für diese Arbeit gab es einen Empfang bei Goebbels), dass er kriegerische Reden auf dem NS-Dichtertreffen in Weimar hielt und im Krieg zu Herzen gehende Geschichten aus der Heimat für alle Frontzeitungen schrieb, die die Moral der Soldaten heben sollten?
Einer blieb sich aber treu. So behauptete der Schriftsteller Waldemar Augustiny, dass durch den Zustrom der deutschen Flüchtlinge aus dem Osten die „niedersächsische Rasse“ untergehen werde. Er schrieb ganz ernsthaft: „Die niedersächsische Rasse ist durch den Zustrom der Flüchtlinge dem Untergang preisgegeben. Hier jedenfalls sind die Heiraten zwischen Fremden und Einheimischen schon blühend im Schwang.“ Augustiny behauptete auch, dass Worpswede in der NS-Zeit eine Insel gewesen sei - gegen was, fragt man da: der Opposition und des Widerstandes? Das Gegenteil ist richtig, wie Krogmann schreibt: Der Ort sei nach den Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik in der NS-Zeit zu seinem Ursprung als Insel gegen die Moderne zurückgekehrt.
Die unfreundlichen und kritischen Reaktionen auf Krogmanns Buch machen deutlich, wie groß im Ort und auch in Bremen die Widerstände gegen eine Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit immer noch sind. Man will mit seinen Lebenslügen weiter leben. Der Bremer „Weser-Kurier“ (die Monopolzeitung der Stadt) wirft Krogmann „unwissenschaftliche Polemiken und Mutmaßungen“ vor. Das Gegenteil ist der Fall, der Autor erschlägt seine Leser geradezu mit Fakten. Polemik hat er gar nicht nötig, so viel Tatsachen und Fakten kann er bieten.
Es ist die alte Geschichte: Wenn man Aufklärung betreibt, d.h. also Licht in eine bisher dunkle Sache bringt, dann wird meistens auch viel Dreck sichtbar, der bisher verborgen war. Genau das hat Krogmann getan. Er stellt mit seinem Buch den Ort bloß, reißt ihm die Maske vom Gesicht, mit der er sich in den Jahrzehnten nach dem Krieg zu schützen suchte. Der Zorn und die Wut der Demaskierten ist verständlich, man fühlt sich ertappt und überführt. Die Idylle droht zu kollabieren. Gegen Fakten und Tatsachen, seien sie auch noch so gut belegt, wird man im Moordorf weiter resistent sein, daran wird auch Krogmanns Buch nichts ändern. Aber wenn man Realitäten partout nicht anerkennen will, muss man nach den psychischen Ursachen einer solchen Resistenz fragen. Man kann sie gut erforscht nachlesen in Harlad Welzers Buch „Opa war kein Nazi“. Das Ergebnis seiner empirischen Untersuchungen zu diesem Thema war: In Deutschland hat es der jüngeren Generation von heute zufolge wundersamer Weise gar keine Nazis gegeben. Ihre Väter und Großväter waren nach diesem Glauben so gut wie alle in der Opposition und im Widerstand!
Die unbelehrbare Uneinsichtigkeit im Künstlerdorf selbst, aber auch bei den Verteidigern des Ortes, die oftmals sogar aus der Wissenschaft kommen, ändert nichts daran, dass Krogmann ein wichtiges Buch geschrieben hat, das einen Markstein setzt, an dem auch künftige Forschungen zum Thema nicht vorbei gehen können. Der Blick hinter die Maske der gespielten Unschuld war unbedingt nötig.
 
Ferdinand Krogmann: Worpswede im Dritten Reich 1933 - 1945, Donat-Verlag Bremen 2011, ISBN 978-3-938275-89-4, 19,80 Euro