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Virtuelles Magazin 2000

 


Annette Bültmann
Der röhrende oder auch nicht röhrende Hirsch
Der röhrende Hirsch, als Wandbild in der Malerei heutzutage eher ein Anlass zu Spott, stammt vielleicht als Motiv nicht erst aus der akademischen Malerei des 19. Jahrhunderts, sondern verdankt vielleicht seine immer wiederkehrende Präsenz auf Bildern der Nähe zu alten Gottheiten und Symbolen.
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Hirsch, Wildwald Vosswinkel, Fotos: Helga Bültmann

Das Interesse für Hirschdarstellungen hat möglicherweise mythologische Wurzeln. Der Hirschgott Cernunnos oder Cernunnus war bekannt bei den Kelten, z.B. im nördlichen und östlichen Teil Galliens, er trägt normalerweise ein Hirschgeweih, und wird manchmal begleitet von einer Schlange mit Widderkopf, oder hält eine gehörnte Schlange in der Hand, wie auf dem Silberkessel von Gundestrup, und ist umgeben von anderen Tieren. Deshalb wird er auch verglichen mit dem indischen Gott Pashupati, einer Erscheinungsform Shivas, als Herr der Tiere, "Beschützer von Kühen, Pferden, Menschen, Ziegen und Schafen".
Bazon Brock erwähnt in dem Text "Der röhrende Hirsch" von 1974 außerdem die Hirschkuh der Artemis, die wohl in diesem Fall mit Geweih dargestellt wird.
Für die Göttin Artemis wird auch bei Homer der Ausdruck "Potnia Theron" benutzt, Herrin der Tiere. Das Hirschmotiv scheint also, trotz der naheliegenden Assoziation vom männlichen Platzhirschen, erstaunlicherweise nicht auf ein Geschlecht beschränkt zu sein.

Hirschdarstellungen tauchen in der menschlichen Kultur schon sehr früh auf.
Eine bekannte Hirschdarstellung stammt aus der Höhle Trois Frères und wird mit dem frühen Schamanismus in Verbindung gebracht, vermutlich steht das Bild des Hirschmenschen, auch Zauberer genannt, in Verbindung mit der Kultur der Steinzeit und ihrer Religion, über die man bisher nur Vermutungen anstellen kann. So ist wohl bisher nicht geklärt, ob der Hirschmensch einen gehörnten Gott oder einen tanzenden Schamanen bei einem Ritual darstellt.
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Zauberer, Hirschmensch, Gehörnter Gott? Darstellung aus der Höhle Trois Frères, nach der Zeichnung von Henri Breuil, abgemalt und digital bearbeitet von Annette Bültmann

Im norditalienischen Tal Val Camonica gibt es Felszeichnungen aus de Jungsteinzeit, ca. 6000 vor Christus, davon einige mit Hirschen. Auch einen großen Hirschgott gibt es dort, dargestellt mit Schlange und Reif, wie später der keltische Gott Cernunnos .
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Auch in der christlichen Bilderwelt tauchen Hirsche auf, wie auf Darstellungen der Bekehrung des heiligen Hubertus, dem ein Kruzifix im Geweih eines Hirsches erschien, und der sich daraufhin von seinen weltlichen Ämtern und Gütern abwandte, um Priester zu werden.
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Die Bekehrung des heiligen Hubertus vom Meister des Marienlebens von Werden, um 1463-1480, Quelle: Wikipedia

Eine erstaunliche Parallele ist die Legende vom heiligen Eustachius, der ebenfalls durch ein Kruzifix im Geweih eines Hirsches bekehrt worden sein soll.
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Der heilige Eustachius, Albrecht Dürer, etwa 1501, Quelle: Wikipedia

Eine mittelalterliche Schrift namens "Physiologus" berichtet, der Hirsch könne Drachen bekämpfen, indem an einer Quelle seinen Mund mit Wasser füllt, dieses dann in einem Schwall ausspuckt, um damit den Drachen aus der Höhle zu treiben. Dies wird verglichen mit Jesus Christus, der mit der Quelle göttlicher Weisheit Drachen vertreiben könne.

Bei William Shakespeare schlägt die Göttin Venus dem Adonis folgendes vor:
"Ich will der Park, du sollst der Hirsch drin sein;
Von meinen Lippen trink’; wenn sie versiegen,
Geh’ weiter, wo die schönen Quellen liegen.
Da giebt es süßes, hohes Gras voll Frische;
Wie schön, wie reizend dort die Eb’nen sind!
Und runde Hügel, dunkele Gebüsche,
Die schützen dich vor Regen und vor Wind.
Sei du mein Hirsch, der Park soll dir gehören,
Kein Hund, – ob tausend bellen, – soll dich stören."
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Hirsch, Wildwald Vosswinkel, Fotos: Helga Bültmann

In der irischen und schottischen Mythologie gibt es einen Krieger namens Fionn mac Cumhaill, dessen ursprünglicher Geburtsname Demne Hirschkalb bedeutet. Seine Frau Sadhbh war der Sage nach von einem Druiden in eine Hirschkuh verwandelt worden, weil sie sich geweigert hatte, ihn zu heiraten. Als sie sich auf Fionn mac Cumhaills Land befand, konnte sie sich in eine Frau zurückverwandeln. Ähnlich wie der germanische Held Siegfried hatte Fionn eine Tarnkappe, die ihn wahlweise in einen Menschen, Hirsch oder Hund verwandeln konnte. 
In der ungarischen Sagenwelt ist die Geschichte des Wunderhirschs überliefert. Die Magyaren sind die Einwohner des heutigen Ungarn, und sie bewohnen auch einen Teil Siebenbürgens in Rumänien. Sie kamen vermutlich aus der Umgebung des Uralgebirges und wanderten über die südliche Ukraine in das heutige Ungarn ein.
Zur Zeit der Völkerwanderung bewohnten auch Hunnen das heutige Ungarn, die aus dem europäischen Teil Russlands nach Westen vordrangen, bis sie von den Römern gestoppt wurden.
Der Sage nach stammen die Hunnen allerdings vom Prinzen Hunor ab, der zusammen mit seinem Bruder Magor zu Pferde einem besonders schönen Hirsch folgte, der die beiden Prinzen in ein neues Siedlungsgebiet führte. Nachdem der Hirsch plötzlich verschwunden war, fanden sie zwei Frauen, mit denen sie sich in dem Gebiet niederließen, und ihre Nachfahren waren die Hunnen und die Magyaren.
Der Wunderhirsch wird auch in anderen überlieferten Geschichten erwähnt, z.B. zeigt er Ladislaus dem Heiligen, wo er einen Dom errichten soll. Er wird manchmal beschrieben als Fabelwesen mit tausend Hörnern, mit tausend brennenden Kerzen an deren Spitzen, ursprünglich aber wohl als weißer Hirsch bezeichnet. Auch in den Legenden und der Literatur anderer Kulturen tauchen weiße Hirsche auf, bis in die neuere Zeit, z.B. in der Fantasyromanserie "Die Chroniken von Narnia", die zwischen 1939 und 1954 geschrieben wurde und ab 2005 als Filmreihe ins Kino kam, mit bisher drei Teilen, wobei ein vierter Teil in Planung ist.
Weißes Rotwild wird in mehreren Wildparks wegen seiner Schönheit gezüchtet, so im nördlich von Hamburg gelegenen Eekholt und in Žleby in Tschechien.
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Weißes Rotwild im Wildpark Žleby, Tschechien
Dieses Bild basiert auf dem Bild White deer at Deer Park Žleby.jpg aus der freien Mediendatenbank Wikimedia Commons und steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation. Der Urheber des Bildes ist Cheva.

Die Installation "Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch" von Joseph Beuys, zum ersten Mal im Jahr 1982 im Martin-Gropius-Bau in Berlin zu sehen, wurde im Jahr 2010 bei der Düsseldorfer Quadriennale erneut ausgestellt, mit einigem Aufwand, da sie aus 39 Teilen besteht, mit einem Bronzegewicht von 945 Kilogramm.

Hirsche sind in der heutigen Kunst natürlich auch jetzt noch gelegentlich zu finden, so z.B. zur Zeit in einer Ausstellung im Mongolei Kultur Zentrum ZURAG in Berlin, wo Arbeiten von Beatrice Bues-Bohl ausgestellt sind. In der Ausstellung "Goldene Zeiten" gibt es neben Berggipfeln und einem goldenen Buch, menschlichen Figuren, Tieren, und vielen rätselhaften Formen und mit Gold kombinierten Farben, auch einige Hirsche zu sehen.

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Hirsch von Beatrice Bues-Bohl, aus der Ausstellung "Goldene Zeiten" im Mongolei Kultur Zentrum Zurag in Berlin

Auch auf diversen Briefmarken der vergangenen Jahrzehnte sind immer wieder Hirsche zu finden.

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Vielleicht lässt sich nach dem Ausflug in die ältere und jüngere Vergangenheit der Hirschdarstellungen nun auch eins der Wandbilder, wie sie in vielen Variationen die Wohnzimmerwände zieren, mit erfrischten Augen betrachten.

Provocation