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Virtuelles Magazin 2000


Jürgen Meier

  
"Erkenne Dich selbst!" – "Wer bist Du?"

 
"Ich heiße Ernst, bin 53 Jahre, liebe schnelle Autos, gutes Essen und bin überzeugter Sozialist!“"Was sagt uns das über das Ich von Ernst? Er ist sich bewusst, dass jedes Ich ein Wir braucht, um sich als Ich definieren zu können. Ob Autos, Nahrung, selbst den Namen Ernst, produzierten oder erfanden andere Menschen. Deshalb rufen, brüllen, propagieren, singen viele Ichs: "Wir sind stolz, Deutsche zu sein!", "Wir sind Weltmeister!" "Wir sind Hamburg!" "Wir sind Bayern!" "Wir sind Elite", "Wir sind Leistungsträger", "Wir sind Herrenmenschen!" "Wir sind Opel!" "Wir sind Papst!" "Wir sind das Volk!" "Wir sind Kirche!" Das Ich braucht ein Wir das Orientierung darüber vermittelt, wie Ich "an sich" sein sollte. Ohne Wir kein Ich.
Das Ich ist für Marx ein "individuelles Gemeinwesen", das denkt und empfindet in Einheit mit dem gesellschaftlichen Sein. Das Ich ist das "subjektive Dasein" des Wir. Wenn das Ich, das ohne die Totalität des Gemeinwesens nicht existieren kann, da es stets an ein konkretes Sein in seinem Denken gebunden ist, das konkrete Sein in dem es lebt ablehnt, es unmenschlich, ausbeuterisch, als ständige Entfremdung empfindet und in ihm leidet, so kann es sich aus diesem Wir dennoch nicht verabschieden. Es bleibt in seinem Sein und Denken mit dem konkreten gesellschaftlichen Sein und damit mit dessen Art die Natur zu bearbeiten und wissenschaftlich zu erforschen, stets verbunden. Aber es beginnt als kritisches oder leidendes Subjekt Alternativen zu diesem gesellschaftlichen Sein zu suchen, dessen Entfremdungen ihn quälen und leiden lassen. Wenn auf die objektiven Entfremdungen der Gesellschaft mit falschem Bewusstsein reagiert wird und z.B. die eigene Arbeitslosigkeit als eigene Schuld wahrgenommen wird, so wirkt die Rebellion gegen dieses Schuldgefühl häufig zerstörerisch auf das Ich oder das Wir (Drogen, Anorexie, Suizid, Aggression). Das Ich, besonders das junge und pubertierende Ich, rebelliert, protestiert, provoziert, resigniert, randaliert, kritisiert und sucht, wenn es sich nach spontanen Rebellionen dann denkend auf den Weg macht, nach einer Theorie für das eigene Leben. Das junge Ich spürt die Ambivalenz im erwachsenen Ich, gegen die es sich spontan, also ohne wirkliche Erkenntnis dieser Ambivalenz, auflehnt.
Das erwachsene bürgerliche und staatsdienende Ich des Erziehers (Eltern, Lehrer, Politiker) schwankt zwischen Partikularismus und Individualismus. Während es Individualismus als Idee lehrend im Deutsch-, Ethik-, Religions-, Kunstunterricht oder im Parlament vermittelt, agiert es im Alltag in der Regel nicht als individualisiertes Ich, sondern als partikulares. Es verhält sich auf der Lehrerkonferenz, wie im Privatleben anders, als es die Texte von Goethe, Schiller, Brecht oder Marx von ihm verlangen würden. Diesen Bruch von Theorie und Praxis spürt aber nicht nur der Schüler oder das Parteimitglied, sondern auch der Lehrer oder Abgeordnete selbst. Er spürt seine eigene Ambivalenz, jedenfalls solange, wie er die Texte der Literatur noch für sein eigenes Ich zu interpretieren versucht. Die Partikularität, die wir natürlich bei allen Menschen vorfinden, strebt stets nach Selbsterhaltung und ordnet alles dieser Selbsterhaltung unter. Dies kann einmal bedeuten, dass man mit seiner opportunistischen Verhaltensweise nicht auffallen will, andererseits kann es bedeuten, dass man unbedingt auf sich aufmerksam machen will, um die Karriereleiter nach oben klettern zu können. Mit individueller Entwicklung des Ichs haben diese Verhaltensweisen aber nichts zu tun. Sie sind lediglich zwei Seiten des Ich-Verharrens in der Partikularität. Das Ich, ob vom Lehrer, Arbeiter, vom Ernst, Sara oder von wem auch immer, ist im spätbürgerlichen Wir, kein monolithischer Block. Es bildet stets eine Einheit von Partikularität und möglicher Individualität.
Dominiert die Partikularität im Ich, dann wird es von quantitativen Bedürfnissen und nicht von qualitativen (Liebe, Vernunft, Fürsorge) bestimmt. Die quantitativen Bedürfnisse sind in erster Linie ontologisch bedingt. Sie sind im Natur-Sein des Körper-Ichs angelegt und müssen von diesem befriedigt werden, wenn es nicht sterben will. Die Triebhaftigkeit (Selbsterhaltungs- und Sexualtrieb) des Körper-Ichs fordert quantitative Befriedigung. Dazu gehört Nahrung, Wärme, Wohnraum, Kleidung, Gesundheit, Schlaf, Bewegung, Sexualität. Wer an der Befriedigung seiner natürlichen Bedürfnisse gehindert wird, neigt zu verständlichen oder irrationalen Aggression, um sich das nehmen zu können, was ihm verweigert wird. Er will sein Körper-Ich erhalten und befriedigen. Diese Bedürfnisse sind quantitativ, weil sie in ausreichender Menge konsumiert werden müssen, damit das Körper-Ich ohne Schaden existieren und sich als Wir reproduzieren kann. Jeder Mensch benötigt zur Befriedigung seiner quantitativen Bedürfnisse eine andere Menge an Produkten. Doch wenn ein kleiner Teil der Menschen, die ökonomisch das Wir diktieren, über Millionen, gar Milliarden an Geldmenge verfügt, um sich irrational der Befriedigung der quantitativen Bedürfnisse hingeben zu können, während der viel größere Teil der Menschheit hungert und im Elend lebt oder Angst hat, bald ohne Arbeit zu sein, die bislang die Befriedigung der quantitativen Bedürfnisse garantierte, ist einerseits eine weltweite Reform der Vermögensverteilung notwendig, die andererseits nur zu der Erkenntnis führen kann, dass die Basis dieser Disharmonie im ökonomischen System selbst geändert werden muss.
Die Ontologie des gesellschaftlichen Seins bestimmt wer, wie, wann und in welchem Maß die Befriedigung des partikularen Ichs erfolgt. Diese Bestimmung erfolgt in der demokratisch bürgerlichen Gesellschaft nicht durch staatliches Diktat, sondern der freie Markt diktiert. Da in der bürgerlichen Gesellschaft der Bourgeois, also der Privatmensch, das normale Ich prägt, verhält sich dieses Ich, definiert durch die Gegenstände seines Eigentums, zu sich selbst wie zu einem fremden Gegenstand. Die sogenannte Verwirklichung dieses Ichs in den Gegenständen des erworbenen Eigentums (schnelles Auto, gutes Essen, Haus, Frau, Mann, Kind) führt aber in Wirklichkeit nicht zur Verwirklichung des Ichs als echtem Individuum, sondern, wie Marx schreibt, zu seiner "Entwirklichung", zu einer "fremden Wirklichkeit". Verwirklichung kann das Ich nur erleben, wenn es sich in menschlicher Bezogenheit mit all seinen Sinnen als Subjekt entwickelt und sich nicht als Inkarnation der Gegenstände seines Habens (Jahreseinkommen, Aktien, Machtstatus etc.) fühlt, die ihn von sich selbst nur entfernen. "Der Mensch eignet sich sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an, also als ein totaler Mensch. Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz, alle Organe seiner Individualität, wie die Organe, welche unmittelbar in ihrer Form als gemeinschaftliche Organe sind, sind in ihrem gegenständlichen Verhalten oder in ihrem Verhalten zum Gegenstand die Aneignung desselben. Die Aneignung der menschlichen Wirklichkeit, ihr Verhalten zum Gegenstand ist die Betätigung der menschlichen Wirklichkeit". Die Sinnesorgane des Ichs sind gemeinschaftliche Organe. Wir lernen unsere Sinnesorgane nur in Beziehung zum anderen Menschen, der uns erzieht und lehrt, was wir sehen, hören, riechen oder fühlen.
Weil wir die Organe unseres Ichs nur gemeinschaftlich entwickeln und bis zu höchster Kunstfähigkeit gestalten können, führt jede privatisierte Aneignung der Gegenstände, die den Fähigkeiten der Organe des Ichs entspringen, zur Entfremdung von ihrer gemeinschaftlichen Quelle. Wer eine tolle Erfindung macht, ist dazu nur in der Lage, weil er seine Organe der Individualität in der Gemeinschaft qualifizieren konnte. Die Milliardäre, die in Amerika in einer Stiftung viele Milliarden für gemeinschaftliche Zwecke spenden, tun dies sicher nicht nur, um Steuern zu sparen. Sie spüren die eigene Entfremdung ihrer Sinnesorgane, die nicht zu ihrer Verwirklichung, sondern zu ihrer menschlichen Entwirklichung führte. Auch der goldene Käfig, den großes Privateigentum mit sich bringt, mag er noch so angenehm und luxuriös erscheinen, ist auch eine Fessel für die Entwicklung des Ichs. "Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht, dass ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben, also als Kapital für uns existiert oder von uns unmittelbar besessen, gegessen, getrunken, an unsrem Leib getragen, von uns bewohnt etc., kurz, gebraucht wird. Obgleich das Privateigentum alle diese unmittelbaren Verwirklichungen des Besitzes selbst wieder nur als Lebensmittel fasst und das Leben, zu dessen Mittel sie dienen, ist das Leben des Privateigentums, Arbeit und Kapitalisierung. An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist daher die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens getreten. Auf diese absolute Armut musste das menschliche Wesen reduziert werden, damit es seinen inneren Reichtum aus sich herausgebäre." Das bürgerlich partikulare Ich zerstört daher seine eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten als Mensch zu reifen. Es strebt, um seine quantitativen Bedürfnisse frei und uneingeschränkt befriedigen zu können, nach ökonomischer und politischer Macht. Sein Ziel ist die Macht über Märkte, Menschen, Fans, Rohstoffe, Frauen, Soldaten und über sein eigenes menschlichen Fühlen und Denken. So wird er sich und anderen als Mensch aber immer fremd bleiben.
Für das wirkliche Individuum ist die Selbsterhaltung nicht mehr das unbedingte Lebensgesetz. Es will sich nicht unter allen Umständen und "wie auch immer" sein Leben, seine Karriere, sein Ansehen, sein Image erhalten. Der Alltag des wirklichen Individuums wird nicht von Werten bestimmt, die lediglich den "erreichten Lebensstandart" zur partikularen Selbsterhaltung schützen sollen, sondern ihn tragen Werte, die wichtiger sind als die Selbsterhaltung. Ein Individuum ist natürlich stets auch ein Einzelner, also ein partikularer Mensch, der allerdings ein bewusstes Verhältnis zur Gattungsmäßigkeit leben will und dementsprechend auch sein Alltagsleben auf Grund dieser bewussten Beziehung zur Gattungsmäßigkeit ordnet und gestaltet. Die Individuation des partikularen Ichs beginnt dort, wo es das "fertige Leben", die ge-und erlebten Gewohnheiten nicht einfach akzeptiert, sondern wo es eine bewusste Wechselwirkung von der Partikularität und der konkreten Gemeinschaft erzielen will. Wo wir uns mit den konkreten Fähigkeiten und Kenntnissen unseres partikularen Ichs in das "fertige Leben" der konkreten Gemeinschaft einmischen, ohne dabei die "Karriere" unserer partikularen und eitlen Selbsterhaltung im Visier zu haben. Einmischung kann aber unterschiedlich intentioniert sein. Als Einzelne können wir uns zum Zwecke unserer Karriere einmischen, wodurch wir unsere eigene Individuation verhindern. Oder wir mischen uns als Einzelne ein, um gegen den Strom der Entmenschlichung, Entrechtung, und Unterdrückung in Schule, am Arbeitsplatz, der Partei oder der Kommune zu schwimmen. Dann wachsen wir zwar als Individuum, es starten dann aber gleichzeitig Versuche uns in unserer Partikularität anzugreifen und zu diffamieren. Es werden private "Verfehlungen" gesucht (Geliebte, falsche Spesenabrechnung, sexuelle Vorlieben etc.), damit unsere Individuation keine Nachahmung findet. Die Individuation des partikularen Ichs muss diese Angriffe allerdings zu ertragen lernen. Individuation ist in einem Wir, das vom Opportunismus, partikularer Eitelkeit und elitären Leistungsstreben geprägt ist, halt schwieriger zu erreichen, als in einer Gemeinschaft, die im Alltagsleben stets vom Gedanken der einheitlichen Menschheit geprägt ist.
Die rebellierende Jugend wehrt sich spontan gegen ein opportunistisches Wir, das Anpassung, Harmonie, Ruhe fordert, um so den Partikularismus zu stabilisieren. Dieser prägt spontan immer unser Ich-Bewusstsein. Weshalb wir auf die Frage, "Wer bist Du?" zunächst mit unserem Namen antworten. Dieses Ich-Bewusstsein ist jedem einzelnen Menschen gegeben. Es sorgt für das Eigenwohl im Reigen und in den konkurrierenden Kräften des Wir. Dieses partikular begrenzte Ich-Bewusstsein wird in den Schulen, Universitäten, Medien und Familien allerdings als freiheitliches und individuelles Bewusstsein gehuldigt. Das partikulare Ich-Bewusstsein, solange es keine Synthese mit der Allgemeinheit der Gattungsmäßigkeit eingeht, ist aber kein individuelles Bewusstsein und schon gar nicht ist es mit einem Selbstbewusstsein des Ichs zu verwechseln. Die echte Individualität denkt und handelt gattungsmäßig mit den Eigenschaften und Fähigkeiten die ihm angeboren sind und zu denen sie eine Neigung verspürt "Das Selbstbewusstsein ist das vom Bewusstsein der Gattungsmäßigkeit vermittelte Ich-Bewusstsein. Wer Selbstbewusstsein hat, identifiziert sich nicht spontan mit sich selbst, er hat Distanz zu sich selbst." Wer sich also selbst erkennen will, sollte zunächst sein frech lautes und engagiertes Auftreten für die Interessen seines partikularen Ichs, das gern als Selbstbewusstsein bezeichnet wird, nicht mit wirklichem Selbstbewusstsein verwechseln.
Die spontane Rebellion der Jugend gegen den Opportunismus des erwachsenen Ichs, ist daher oft nicht mehr als die exaltierte Kehrseite eines partikularen Ichs, das kiffend, rockend, sexy, cool, getattoot, gepierct, gestylt das eigene Ich wenigstens als Körper-Ich spüren will, was das partikulare Ich der erwachsenen Welt längst in wiederkehrender Langeweile ertränkt hat. Mit Individuation ist dieser Weg zum Körper-Ich nicht zu verwechseln. Er ist wie die Maschinenstürmerei, ein erster Schritt zur Selbstsuche nach dem, was sich in dem partikularen Ich verbirgt und was erst erblüht, wenn es sich gattungsmäßig individualisiert. Musik, Kunst, Theater, Literatur, Philosophie waren und sind noch immer die nächsten Schritte, die für einige Jugendliche nach der spontanen Rebellion des Körper-Ichs folgen, um Individuum zu werden. Viele der Rebellen werden jedoch in die faden und langweiligen Spuren jener treten, gegen die sie als Jugendliche rebellierten. Bleibt die Frage: "Wer bin ich?" "Wer bist Du?" 
Jürgen Meier
Auszug aus dem Buch: "Amokläufe zum Ich....oder Individuation". Erscheint im Frühjahr 2011 im "Neuen Impulse Verlag" erscheinen. 
MEW Bd. 40, S. 540
Agnes Heller, "Das Alltagsleben", Frankfurt/M., 1981, S. 58