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Virtuelles Magazin 2000


Arn Strohmeyer

 

 

Shlomo Sands Frontalangriff auf die Mythen des Zionismus

(Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Propyläen-Verlag Berlin 2010)

Israels Staatsnarrativ, mit dem es seine Existenz rechtfertigt, ist das Alte Testament der Bibel, das auch ein abendländisches Narrativ ist, weil das Christentum neben dem Neuen Testament auch auf diesem Buch aufbaut. Kritik von Historikern, Theologen und Philologen an diesen Texten gibt es in Europa seit der Aufklärung. Israel ist ein noch junger Staat, dessen Zukunft durch seine Politik der Selbstisolierung in einer kulturell andersartigen Region auf Dauer noch keineswegs gesichert ist. Dieser Staat, so liberal und tolerant er auf der einen Seite ist, besitzt auf der anderen Seite ein klar vorgegebenes Staatsdogma: eben den Zionismus. Diese Ideologie beruht auf dem vor allem aus dem Alten Testament abgeleiteten Geschichtsverständnis, das wiederum ein fundamentales Wesenselement dieses Staates ist, weil es den Anspruch auf das Territorium begründet, das Israel sich von einem anderen Volk zum größten Teil mit Gewalt genommen hat.

Der israelische Historiker Shlomo Sand, der an der Universität Tel Aviv neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt Westeuropa lehrt, hat es sich in seinem Buch "Die Erfindung des jüdischen Volkes" zum Ziel gesetzt, das israelische Staatsnarrativ als eine willkürliche Konstruktion und als Mythos zu dekuvrieren. Das Weltbild dieser Ideologie beruht für Sand auf "Mythohistorie", von der bei näherer wissenschaftlicher Analyse an geschichtlicher Realität nicht viel übrig bleibe. Wenn Sands Forschungsergebnisse stimmen - dafür spricht vieles, weil er sie sehr gründlich belegt - hätte das noch nicht absehbare politische Folgen. Vielleicht könnte dieser Historiker sogar eine Kopernikanische Wende für das Judentum und den Zionismus einleiten. Sand selbst bleibt bescheiden, auch wenn viele Rezensenten sein Buch als "kulturelle Bombe" bezeichnet haben. "Bücher können die Welt nicht umkrempeln" sagt er, "sie können nur Veränderungen, die ohnehin im Gang sind, unterstützen und fördern."

Worin bestehen die Hauptaussagen der zionistischen Geschichtsdarstellung, der Sand "Geschichtsklitterei" und "lähmenden Stillstand" vorwirft, und was hält er ihr im Einzelnen an Widerlegungen entgegen? Für einen Israeli - so Sand - besteht kein Zweifel, dass es ein jüdische Volk gibt, seit es auf dem Sinai von Gott die zehn Gebote (Thora) empfing und dass er selbst dessen indirekter Nachkomme ist. Er glaubt auch, dass sich dieses Volk aus Ägypten kommend im "gelobten Land" niedergelassen hat, wo dann das ruhmvolle Königreich Salomons und Davids entstand, das sich später in die Reiche Judäa und Israel teilte. Und jeder Israeli weiß, dass das jüdische Volk zwei Mal vertrieben wurde - im 6. Jhd. v .Chr. nach der Zerstörung des Ersten Tempels durch die Babylonier (babylonische Gefangenschaft) und erneut im Jahr 70 n. Chr. durch die Römer nach der Zerstörung des Zweiten Tempels. Darauf folgten knapp 2000 Jahre des Umherirrens in alle Himmelsrichtungen, das Exil oder die Diaspora. Doch gelang es dem jüdischen Volk stets, die "Blutbande" und das Bewusstsein, ein "Volk" zu sein, zwischen seinen versprengten Gemeinden zu bewahren.

Ende des 19. Jahrhunderts reiften dann die Bedingungen für seine Rückkehr in die alte Heimat heran. Unberührt lag Palästina da und wartete auf sein ursprüngliches Volk, auf dass es sein Land wieder zum Erblühen brächte. Denn es gehörte ihm, nicht dieser geschichtslosen Minderheit (die Palästinenser), die der Zufall dorthin verschlagen hatte. Die Kriege, die das verstreute Volk führte, um sein Land wieder in Besitz zu nehmen, waren gerecht. Kriminell war dagegen der gewaltsame Widerstand der Palästinenser. Ohne den Völkermord der Nazis an den Juden (Shoa oder Holocaust) hätten Millionen Juden nach und nach und in aller Selbstverständlichkeit Eretz Israel - das "Heilige Land", die geografische Region Israel - wieder besiedelt und damit ihren Traum erfüllt, den sie Jahrhunderte lang in der Ferne geträumt hatten. Das vertriebene Volk kehrte trotz aller Widrigkeiten aus dem Exil oder der Diaspora zurück und erlebte in seiner ursprünglichen Heimat seine "Wiedergeburt".

Diese Darstellung - so Sand - ist eine Erfindung versierter Ideologen und Vergangenheitskonstrukteure. Der Autor vertritt hier Grundgedanken der modernen Nationalismusforschung, wie sie der amerikanische Politologe Benedict Anderson formuliert hat. Um ein "Wir" zu schaffen, also die Unterscheidung zwischen "uns" und "allen anderen", wurden im 19. Jahrhundert viele Nationalideen "erfunden" - etwa die französische, die sich auf die Gallier berief, die gegen die Römer kämpften, oder die deutsche, die an die Schriften des Tacitus anknüpfte und den Cheruskerfürsten Arminius zum Stammvater ihrer nationalen Idee machte. Parallel zu diesen "Konstruktionen" wurde laut Sand auch das jüdische Volk "erfunden". Über die Konstrukteure dieser Idee schreibt er: "Auch die israelischen Erinnerungslandschaften erstanden in einem alles andere als spontanen Vorgang. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden sie von begabten Neuerfindern der Vergangenheit Schicht um Schicht rekonstruiert. Diese verwendeten dabei vor allem der jüdischen und der christlichen Religion entlehnte historische Versatzstücke, die ihnen dazu dienten, mittels einer fruchtbaren Phantasie eine durchgehende Ahnenreihe bis hin zum jüdischen Volk von heute zu erfinden."

Die offizielle israelische Geschichtsschreibung, die heute als Fachbereich "Geschichte des jüdischen Volkes" an den israelischen Universitäten vertreten ist, hält an dieser linearen Sicht der jüdischen Geschichte fest und wehrt alle Erkenntnisse, die nicht in diese Geschichtskonstruktion passen, vehement ab. Auch die Frage "wer ist Jude?" beantwortet sie weiter auf die herkömmliche Weise: Jüdisch ist jeder Nachfahre des Volkes, das vor knapp 2000 Jahren vertrieben und ins Exil gezwungen wurde. Sand nennt diese traditionelle zionistische Geschichtsauffassung "apologetisches Geschwafel aus alten Vorurteilen".

Was hält der dem entgegen? Sand beruft sich bei seinem Gegenentwurf nicht nur auf seine eigenen historischen Forschungen, sondern auch auf eine Fülle von Arbeiten anderer Historiker und von Kollegen benachbarte Disziplinen. Zuerst attackiert er aber den Ausgangspunkt jeder zionistischen Geschichtsauffassung: das Alte Testament. Denn dieser Text gibt nach zionistischer Lesart die Geschichte des jüdischen Volkes wieder und wird in dieser Sicht israelischen Schulkindern bis heute gelehrt. Das Alte Testament ist das zionistische Geschichtsbuch schlechthin.

Sand konstatiert nun: So gut wie nichts von dem im Alten Testament beschriebenen historischen Ereignissen ist wirklich historisch, das hat die Forschung der letzten Jahre eindeutig ergeben. Er definiert das Alte Testament so: "Es ist kein Narrativ, das uns mehr über diese Zeit, von der es erzählt, vermitteln kann, sondern es ist ein beeindruckender theologisch-didaktischer Diskurs und zugleich ein Zeugnis der Zeit, in der es verfasst wurde." Der Zionismus habe nun den Fehler begangen, - so Sand - in diesem Text zu lesen, als handele es sich um eine "glaubwürdige Dokumentation realer Ereignisse." Das Alte Testament sei zur "unanfechtbaren Mythohistorie" erhoben worden, die ausschließlich unverrückbare Wahrheiten vermittle.

Um die historische Wahrheit des Alten Testaments ist es aber - so Sand weiter - schlecht bestellt. Die Archäologen hätten inzwischen klar bewiesen, dass im 13. Jhd. v. Chr. kein großer Exodus aus Ägypten stattgefunden haben könne. Auch fände sich in den Quellen der Ägypter, die alles, was in ihrem Land geschehen sei, minutiös aufgezeichnet hätten, kein Hinweis auf einen Aufstand der Juden und ihren Auszug aus dem Pharaonenreich. Und was solle es heißen, Moses haben die Juden aus Ägypten geführt? Palästina habe sich damals unter ägyptischer Herrschaft befunden - Moses könne die Juden also nur von Ägypten nach Ägypten geführt haben. Auch für eine Eroberung Kanaans gebe es keinerlei archäologische Belege.

Weiter: Von dem im Alten Testament so prachtvoll geschilderten Königreich Davids und Salomons hätten die Archäologen nicht die geringsten Überreste gefunden. Nachweisen ließen sich nur die beiden kleinen jüdischen Staaten Israel im Norden und Judäa im Süden. Die Juden seien auch im 6. Jhd. v. Chr. von den Babyloniern nicht vertrieben und ins Exil gezwungen worden, nur die kleine geistige und politische Elite hätte nach Babylon gehen müssen, was aber ein Glücksfall für das Judentum gewesen sei, denn aus der Begegnung mit der persischen Religion hätte sich der jüdische Monotheismus entwickelt.

Auch im Jahr 70 n. Chr. hat es Sand zufolge keine Vertreibung durch die Römer gegeben. Denn die Römer hätten in den von ihnen eroberten Gebieten zwar gefangengenommene Aufständische versklavt, aber sie hätten nie ein ganzes Volk vertrieben und ins Exil geschickt. Die Juden hätten weiter in ihrem Land gelebt, es hätte - wie verschiedene antike Autoren berichten - sogar noch eine Blütezeit der jüdischen Kultur gegeben. Und wenn es wegen der Vertreibung keine Juden mehr im "heiligen Land" gegeben hätte, wäre der Bar Kochba-Aufstand von 132 bis 135 n. Chr. gar nicht möglich gewesen.

Wie erklärt man sich dann die große Zahl von jüdischen Gemeinden rund um das Mittelmeer und darüber hinaus? Schon vor dem Jahr 70 v. Chr. hatte es eine beträchtliche Auswanderung gegeben, belegt ist das etwa durch den Apostel Paulus, der um das Jahr 67 n. Chr. starb, aber vorher Jahre lang die jüdischen Gemeinden im Mittelmeerraum besucht hatte. Die große Zahl der Juden außerhalb Palästinas erklärt sich außerdem durch Bekehrung und Mission. Sand konstatiert: Vom Makkabäer-Aufstand im 2. Jhd. v. Chr. bis zum Bar Kochba-Erhebung war das Judentum die erste Bekehrungsreligion. Viele Völker wurden zwangsbekehrt - etwa die Idumäer und Iruträer im jüdisch-hellenistischen Reich. Im heutigen Kurdistan entstand das jüdische Reich Adiabene. Der jüdische Bekehrungseifer lässt erst nach 380 n. Chr. deutlich nach, als das Christentum im Römischen Reich Staatsreligion wurde, und verlagerte sich nun an die Ränder des christlichen Kulturraumes.

So entstand im 5. Jhd. v. Chr. im Gebiet des Jemen durch Bekehrung und Mission das jüdische Königreich von Himjar, dessen Nachkommen auch nach dem Sieg des Islam bis heute an ihrem Glauben festhalten. Arabische Chronisten berichten auch von Berberstämmen, die im 7. Jhd n. Chr. zum Judentum übertraten. Judaisierte Berber beteiligten sich an der Eroberung der iberischen Halbinsel. Es war der Beginn der jüdisch-muslimischen Symbiose, die sich in Spaniens maurischer Kulturgeschichte widerspiegelt.

Die bedeutsamste Massenbekehrung ereignete sich im 8. Jhd. n. Chr. in der Region zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer. Die Chasaren - ein großes Reich dort - traten geschlossen zur jüdischen Religion über. Die Ausbreitung des Judentums vom Kaukasus bis zur heutigen Ukraine ließ zahlreiche Gemeinden entstehen, die erst die Mongolen im 13. Jahrhundert nach Osteuropa abdrängten. Dort bildeten sie gemeinsam mit den aus südslawischen Regionen und dem heutigen Deutschland zugewanderten Juden das Fundament der großen jiddischen Kultur.

Diese von Sand gut belegten Fakten waren auch zionistischen Historikern gut bekannt. Aber da sie nicht in das Narrativ des Staates Israel passten, wurden sie ganz bewusst an den Rand gedrängt, bis sie ganz aus dem Bewusstsein verschwunden waren. Man kann die Angst der israelischen Historiker verstehen, denn es geht hier um die Fundamente des israelischen Selbstverständnisses. Sand formuliert es so: "Im Jahr 1967 konnten die Eroberer der Stadt Davids [Jerusalems] natürlich nichts anderes sein als direkte Nachfahren seines mythischen Königreiches und nicht etwa, Gott bewahre, die Abkömmlinge von Berberkriegern oder chasarischen Reitern." Die Neusiedler, die die Stadtbevölkerung des modernen Israel ausmachen, haben danach mit den antiken Israeliten nichts zu tun. Diese Menschen sind, wenn Sand Recht hat, Nachfahren der jüdisch bekehrten Völker.

Sand konstatiert noch ein anderes Faktum, das sich zwar nicht bis ins letzte Detail nachweisen lässt, aber einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit besitzt: Dass die heutigen Palästinenser Nachkommen der bodenständigen jüdischen Bauern sind, die erst im 6. oder 7. Jahrhundert n. Chr. zum Islam übergetreten sind. Diese These ist im übrigen keine spekulative Annahme Sands, sondern ist lange Zeit auch von prominenten Zionisten vertreten worden. So etwa von David Ben Gurion und Izchak Ben Zwi, die später die Ämter des ersten Ministerpräsidenten bzw. des ersten Präsidenten in Israel bekleideten. Die beiden verfassten zu diesem Thema 1918 in New York ein Buch, in dem sie die These zu belegen versuchten: Die palästinensischen Fellachen stammen nicht von den arabischen Eroberern ab, sondern von den jüdischen Bauern, die die arabischen Eroberer bei ihrer Ankunft vorgefunden hatten. Die beiden Zionisten glaubten fest daran, dass sie selbst sich als jüdische Zuwanderer mit diesen Menschen "gemeinsamen Ursprungs" verbinden könnten, weil diese "niedrige und primitive orientalische Kultur sich leicht assimilieren lasse".

Aber der Aufstieg eines arabisch-palästinensischen Nationalismus und der Aufstand der Palästinenser 1936 gegen die britische Vorherrschaft und die zunehmende jüdische Einwanderung in Palästina schob einer solchen Umarmungsstrategie einen Riegel vor. Sand schreibt: "Schlagartig wurden aus den palästinensischen Fellachen der Gegenwart in den Augen der offiziellen Bevollmächtigten für das kollektive Gedächtnis [Israels] arabische Migranten, die im 19. Jahrhundert in das beinahe leere Land geströmt waren. Und noch im 20. Jahrhundert ließen sie sich nicht aufhalten und kamen wegen der Entwicklung des zionistischen Handels, der dem Mythos zufolge Tausende nichtjüdische Arbeitskräfte anzog." Das ist die alte zionistische These, dass Palästina ursprünglich leer gewesen sei und nur darauf gewartet hätte, von Juden wieder besiedelt zu werden.

Aus seinen Forschungsergebnissen und denen vieler anderer Experten zieht Sand einige höchst wichtige Schlussfolgerungen, die für die zionistische Ideologie und den Staat Israel sehr unangenehm sein müssen, weil sie sein Grundverständnis in Frage stellen. So stehen die Vertreibung der Juden und ihre Rückkehr in "ihr" Land als "Fakten" in der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel von 1948, die die Verfassung ersetzt, denn Israel hat bis heute keine Verfassung, weil dieser Staat seine Grenzen noch nicht festgelegt hat. Die Vertreibung galt - so Sand - im Zionismus als eine "in Stein gemeißelte Wahrheit".

Sand hält dagegen: Es hat keine jüdische Vertreibung und damit auch kein jüdisches Exil gegeben und auch keine ruhelose Wanderung durch Länder und Zeiten. Genauso wenig hat es eine gemeinsame ethnographische und säkulare Basis der jüdischen Gläubigen in Asien, Afrika und Europa gegeben. Sand: "Das Judentum war schon immer eine bedeutende, sich aus verschiedenen Strömungen zusammensetzende religiöse Kultur, aber keine wandernde und fremde Nation." Und eben auch kein Volk oder Nation im modernen Sinn, denn das, was gemeinhin so bezeichnet wird, ist ein "aus vielfältigen Relikten und Erinnerungen des Judentums zusammengefügtes Konstrukt des 'Volkes'."

Wenn das alles so ist, dann kann es aber auch keine ununterbrochene Stammesgeschichte der Juden aus einem gemeinsamen Ursprung (von den biblischen Erzvätern) bis heute geben. Der Nachweis, dass der Mythos ohne historische Faktizität ist, bringt noch eine andere gravierende Schlussfolgerung mit sich: Der Anspruch auf das Land, die "alte Heimat", wird nicht nur höchst fraglich, es gibt ihn nicht. Völkerrechtlich existierte er ohnehin nicht, denn nach 2000 Jahren kann es kein Anrecht auf ein Territorium mehr geben. Wenn es so wäre, herrschte das allergrößte Chaos in der Welt. Israel ist als Staat einzig und allein völkerrechtlich legitimiert durch den UNO-Teilungsbeschluss vom November 1947, allerdings in ganz anderen Grenzen als die, die der Staat heute hat. Außerdem hatte die UNO Israel Bedingungen auferlegt - etwa die Regelung der Flüchtlingsfrage - , die es nie erfüllt hat.

Wenn der Mythos keine Legitimation mehr für den Anspruch auf das Land verschafft, dann musste ein anderer Weg gegangen werden, um ihn abzusichern. Die Zionisten fanden ihn in der Biologie. Wenn es der Molekulargenetik (speziell der "Genetik der Juden") gelänge, eine "jüdische Rasse" zu identifizieren, ein "jüdisches Gen" zu finden, dann könnte die zionistische Geschichtsauffassung und der Anspruch auf das Land doch noch biologisch gerechtfertigt werden. In Israel wird an diesem Projekt, auf diese Weise die "jüdische Einzigartigkeit" zu beweisen, intensiv gearbeitet - wenn auch bisher ohne Erfolg. Sand steht solchen Bestrebungen äußerst skeptisch gegenüber und weist warnend auf Parallelen zu Bemühungen der Nazis hin, den "arischen Erbfaktor" zu finden.

Der Mythos kann zu gewissen Zeiten durchaus eine Funktion erfüllen. Wie in den europäischen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts hatte er später in Israel vor allem die Aufgabe, kollektiven Zusammenhalt zu schaffen, eine einheitliche Ethnie aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen - eine Metaidentität, weil nur so eine erfolgreiche Errichtung des israelischen Staates möglich war. Aber die Tatsache, dass die zionistische Ideologie sich mangels Alternativen die meisten seiner Gestalten und Symbole aus der Religion (dem Alten Testament) geholt hat, an die sie bis heute gebunden blieb, und ihre jetzige Entmythologisierung (oder "Dekonstruktion", wie Sand schreibt) lassen den israelischen Nationalismus unsicher und schwach erscheinen. Für ihn sieht Sand keine Zukunft mehr. Israel ist, da er nicht der Staat aller seiner Bürger ist und sein will, weil er als "jüdischer Staat" ein Fünftel seiner Bürger aus biologisch-religiösen Gründen per Gesetz ausgrenzt, für Sand keine Demokratie mehr, sondern eine "jüdische Ethnokratie" mit liberalen Zügen, was auch dadurch belegt werde, dass Israel 2,5 Millionen Palästinenser in den besetzten Gebieten keinerlei Mitspracherecht einräume.

Sand zieht - das ist die Schlussfolgerung aus seiner Entmythologisierung - Israels Zukunft sehr pessimistisch, nicht wegen einer Bedrohung von außen (die existiert für ihn gar nicht, weil Israel die vierstärkste Armee der Welt hat und die Weltmacht Amerika hinter ihm steht), sondern durch das falsche Selbstverständnis Israels als "Staat des jüdischen Volkes". Das sei eine "imaginierte Ethnie", wenn Israel den Juden der ganzen Welt die Rückkehr und die Staatsbürgerschaft zugestehe, ein Fünftel seiner Einwohner aber diskriminiere. Er sieht Israels Überleben nur gesichert, wenn es einen "grundlegenden Transformationsprozess", eine "mentale Revolution" vollzieht. Dazu würde gehören: Beendigung der Ausgrenzung und Benachteiligung der nicht-jüdischen Bevölkerung (Palästinenser und andere), was eine Universalisierung der im "jüdischen Staat" vorherrschenden Identität bedeuten würde. Außerdem: Anerkennung der Nakba, der palästinensischen Katastrophe von 1948, Ende der Besatzung, Rückzug auf die Grenzen von 1967 und Bildung eines palästinensischen Staates, der mit Israel eine Konföderation bilden und später mit ihm zu einem binationalen Staat zusammenwachsen könnte.

Israels Zukunft hängt für Sand von der Antwort auf die Frage ab: "Inwieweit ist die jüdisch-israelische Gesellschaft bereit, sich von der alten Vorstellung zu verabschieden, die sie zum 'auserwählten Volk' macht, und aufzuhören sich selbst abzugrenzen und andere aus ihrer Mitte auszustoßen, gleichgültig ob das aus fragwürdigen historischen Gründen oder mittels einer dubiosen Biologie geschieht. Die israelische Republik der Zukunft kann für Sand nur ein laizistischer und wirklich demokratischer Staat sein.

Sands Buch und die Ergebnisse seiner Recherchen sind nicht nur für Israelis, sondern auch für deutsche Leser eine brisante Lektüre. Da kommt wegen der harten Kritik an Israel, seiner Politik und seiner Staatsideologie (dem Zionismus), schnell der Vorwurf des "Antisemitismus" auf. Ist Sand ein "jüdischer Antisemit" oder "selbsthassender Jude"? Das mögen Juden und Israelis unter sich ausmachen, das ist ein Streit, der Nicht-Juden nichts angeht. Wie sinnlos und abgenutzt der Antisemitismus-Vorwurf aber inzwischen ist, wenn er bei jeder auch noch so unpassenden Gelegenheit hervorgeholt wird, belegen ein paar Tatsachen aus Israel selbst. Sands Buch hat dort neunzehn Wochen an der Spitze der Bestsellerlisten gestanden. Und außerdem steht er mit seiner entmythologisierenden Kritik keineswegs allein, sondern er hat eine ganze Reihe von Mitkämpfern unter den sogenannten Postzionisten, die genau so wie er entmythologisieren und entideologisieren: Politiker, Politologen, Publizisten, Soziologen, Orientalisten, Linguisten, Geographen und Literaturwissenschaftler. Um ein paar Namen zu nennen: Abraham Burg, Uri Avnery, Ilan Pappe, Simcha Flappan, Tom Segev, John Rose, Tanja Reinhard, Yeshajahu Leibowitz, Moshe Zuckermann, Idith Zertal, Ran HaCohen, Israel Finkelstein und Neil A. Silbermann. Diese bedeutenden Gelehrten und Intellektuellen stehen für so etwas wie eine "jüdische Aufklärung", ihre Liste ließe sich noch um viele Namen erweitern.

Sie alle haben längst wie Shlomo Sand das auf Mythos und Exklusivität aufgebaute Israel verlassen und sich dem neuen, künftigen zugewandt. Da ergeht es Israel nicht anders als den europäischen Nationalstaaten, die diesen Prozess schon lange hinter sich haben. Israel hat ihn noch vor sich. Shlomo Sand hat ein auch für uns Deutsche wichtiges Buch geschrieben. Es lehrt uns, dass man nicht blind an die Dogmen des Zionismus glauben und sie mit Judentum gleichsetzen muss - und jede Abweichung von der reinen zionistischen Lehre gleich Antisemitismus ist. Wie alles auf dieser Welt - will uns Sand sagen - darf, ja muss auch der Zionismus kritisch hinterfragt werden. Und wenn man das tut, kommt man oftmals zu ganz anderen Ergebnissen, als gläubige Zionisten uns das mit ihrem immer alles platt machenden Antisemitismus-Vorwurf weismachen wollen. Und die Weltsicht eines Shlomo Sand oder seiner Mitstreiter ist zudem viel humaner und Frieden verheißender als die täglich zu erlebende Politik des real existierenden Zionismus.

In einem Interview hat Sand noch einmal bekräftigt, was er mit seinem Buch aussagen will. Er würde in einem "idealen Schulunterricht" in Israel den Kindern folgendes sagen: "Wir alle wissen, dass die Juden kein Volk sind, sondern eine Religionsgemeinschaft. Europa hat uns im Zuge des Zweiten Weltkrieges ausgespuckt. Weil wir sonst nirgends hinkonnten, haben wir uns das Land anderer genommen, ohne sie zu fragen. Deshalb hassen uns die Araber. Wir sind kein Volk, wir hatten kein Recht auf dieses Land." Und er fügt hinzu: "Wenn das an unseren Schulen gelehrt wird, wird es Frieden geben. Und ich brauche dann keine Bücher mehr zu schreiben."