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Diese Olivenbäume liegen auf der israelischen Seite der Mauer. Ihre palästinensischen Besitzer werden sie nicht mehr beernten können. Foto: str |
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Vom letzten Haus dieser Wehrdörfer bis zum ersten Haus einer arabischen Gemeinde müssen mindestens 500 Meter liegen – so schreiben es die Israelis aus Sicherheitsgründen vor. Pech für viele Besitzer von Olivenbaum-Plantagen. Ihre Anwesen liegen nun hinter der Mauer und sind für ihre Eigentümer nicht mehr erreichbar. Kareem zeigt uns einen Gebäude-Komplex, der in diesem Sicherheitsbereich liegt. Es ist die kleine Farm eines palästinensischen Bauern. „Die Leute leben noch dort“, sagt der Field-Researcher, „aber sie sind völlig eingeschlossen, können sich kaum noch bewegen. Auf dem direktem Weg wären sie in wenigen Minuten in Bethlehem, aber nun müssen sie einen langen Fußmarsch zum Checkpoint machen und von dort – nach demütigenden Kontrollen – weiter ins Stadtzentrum laufen. Eine Tortur für die Menschen. Natürlich darf sie ‚aus Sicherheitsgründen’ auf ihrer Farm niemand besuchen. |
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Ein Kuriosum: Diese Wohnanlage im Vordergrund wurde vor Jahren von der griechisch-orthodoxen Kirche für bedürftige Palästinenser gebaut. Sie steht leer und darf „aus Sicherheitsgründen“ nicht bezogen werden, weil sie zu nah an der jüdischen Siedlung Har Homa liegt. Foto: str |
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Ein Haus in der jüdischen Siedlung Har Homa nahe Bethlehem – der Wehrcharakter des Gebäudes ist unverkennbar. Foto: str |
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Ein Stück weiter am Hang hat die griechisch-orthodoxe Kirche auf palästinensischem Gebiet eine große moderne Wohnsiedlung für sozial bedürftige Bewohner Bethlehms gebaut. Sie steht seit Jahren leer und darf nicht bezogen werden, weil der Abstand zur nahen Siedlung Har Homa nicht die vorgeschriebenen 500 Meter beträgt. Die Wohnanlage verrottet still vor sich hin. Kareem will nun das palästinensische Dorf Nu’man zeigen. Um zu ihm zu kommen, muss man einen Checkpoint passieren. Die Soldaten verweigern die Durchfahrt. Kareem beschwert sich, schimpft, redet auf die Soldaten ein. Die telefonieren mit ihren Vorgesetzten. Es ist wohl die Anwesenheit von Ausländern, die sie umstimmt. Wir dürfen weiter fahren. Nu’man übertrifft an Absurdität alles vorher Gesehene. Der Boden des Dorfes ist schon von den Israelis in Besitz genommen worden. Auf dem nächsten Hügel liegt bedrohlich die Siedlung Har Gillo, die offenbar bald auch diesen Ort schlucken soll. Die palästinensischen Einwohner des Dorfes haben ihr Recht, hier länger bleiben zu dürfen, verloren, sie leben illegal auf ihrem eigenen Grund und Boden. Einige Häuser hat die Armee schon zerstört. Ihre Beton- und Stahltrümmer ragen wie Menetekel in die Luft. Nur mit den „Permits“ (Passierscheinen) der israelischen Behörden, unter Inkaufnahme mühseliger Fußmärsche und langer Wartezeiten an den Checkpoints können sie ihr Dorf – natürlich nur auf den vorgeschriebenen Straßen für Palästinenser – noch verlassen. |
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Ein von den Israelis zerstörtes Haus in dem palästinensischen Dorf Nu’man, das schon enteignet ist und seinen Bewohnern nicht mehr gehört. In der Ferne die Siedlung Har Homa. Foto:str |
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Auf dem Weg zwischen Dorf und Checkpoint sprechen wir eine junge Palästinenserin an, die ganz in Schwarz gewandet, sich in der glühenden Sonne zu Fuß auf den langen Weg nach Bethlehem gemacht hat. Sie studiert dort Zahnmedizin. Nichts auf der Welt, sagt sie, könne sie davon abhalten, ihr Studium abzuschließen. Da nähme sie auch alle Schikanen in Kauf. Am Rande Jerusalems stoßen an einer Straße zwei arabische Dörfer zusammen, die eigentlich ein Ort sind: Jabel Mukaber und Sheich Said. Die Israelis haben die Siedlung geteilt. Um Sheich Said haben sie einen provisorischen Zaun gezogen, da die Mauer noch im Bau ist, und einen Checkpoint davor gesetzt. Da die Bewohner nur noch unter großen Schwierigkeiten ihr Dorf verlassen bzw. wieder in ihre Häuser zurückkommen können, ist auch die Infrastruktur zusammengebrochen. Eine Müllabfuhr gibt es offenbar nicht mehr. Der Abfall türmt sich meterhoch am Zaun und verbreitet einen penetranten Gestank. Vor dem Checkpoint steht ein Palästinenser, der völlig verzweifelt ist und jedem, der vorbeikommt, seine Geschichte erzählt. Er ist mit einem kleinen Kastenwagen hier, um Bücherregale für die Schule von Sheich Said abzuliefern. Ausgeladen stehen sie in der glühenden Sonne. Die drei Soldaten am Checkpoint haben abgewunken. Der Mann darf mit seinen Regalen nicht passieren, auch ohne Auto nicht. Er ist völlig außer sich und versteht die Welt nicht mehr. „Es sind doch nur Bücherregale für die Schule“, sagt er immer wieder. Die drei Soldaten räkeln sich gelangweilt in der Sonne und nehmen den Mann nicht mehr zur Kenntnis. |
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Der Checkpoint zwischen den arabischen Dörfern Jabel Mukaber und Sheich Said bei Jerusalem, die eigentlich ein Dorf sind. Foto: str |
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Graffitis Überall auf den grauen Betonwänden der palästinensischen Seite der Mauer haben sich inzwischen – wie einst in West-Berlin – Sprayer betätigt und ihre Botschaften hinterlassen. Ich habe folgende notiert – die meisten sind in Englisch abgefasst und von mir übersetzt: „Mit Liebe und Küssen – nichts dauert ewig“!, „Willkommen im Ghetto – Mauer der Tränen“, „Ich bin ein Berliner“ (in deutsch), „Freunde kann man nicht trennen“, „Es gibt keine gerechten und ungerechten Kriege, sondern nur dumme!“, „Ich brauche keine Mauern um mich!“ (Pink Floyd), „Die Mauer wird fallen!“, „Existieren heißt Widerstand leisten! Es lebe das freie Palästina!“, unter einer gemalten amerikanischen Flagge steht das Wort „Why?“ (warum?) und darunter: „Nur Sharon weiß es“, „Gegen die Okkupation!“, „Stoppt die Apartheid!“, „Die Welt ist zu klein für Mauern!“, „Es ist eine Schande und Du weißt es!“, „Baut keine Mauern, sondern Brücken!“ und unter dem Porträt einer palästinensischen Frau steht: „Ich bin keine Terroristin!“. |
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Ein Graffiti an der Mauer in Jerusalem, das das monströse Bauwerk mit der Umfriedung um das Warschauer Ghetto im Zweiten Weltkrieg vergleicht. Foto: str |
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Ein Graffiti an der Mauer in Jerusalem, das das monströse Bauwerk mit der Umfriedung um das Warschauer Ghetto im Zweiten Weltkrieg vergleicht. Foto: str |
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„Freunde kann man nicht trennen!“ Aufschrift an der Mauer in Jerusalem. Foto: str |
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„Nichts dauert ewig!“ – auch diese Mauer nicht. Diese Inschrift an der Mauer in Bethlehem will Hoffnung verbreiten. Foto: str |
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„Hope“ steht an diesem israelischen Wachturm in Ramallah. Gibt es wirklich Hoffnung für die Palästinenser? Foto: Harms |
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Schluss Während ich diesen Text schreibe, fällt mir eine Reuters-Meldung vom 1. Juni 2007 in die Hand, die besagt, dass Israels Regierung beschlossen habe im Gürtel um Jerusalem neue Siedlungen zu bauen bzw. alte – Pisgat Seew und Har Homa – auszubauen. Es ist erst wenige Tage her, dass US-Präsident Bush anlässlich des Staatsjubiläums in Jerusalem zu Besuch war. Da war viel von Frieden die Rede wie auf der Konferenz von Annapolis im Herbst 2007. Regierungschef Olmert war damals aber kaum wieder in Israel eingetroffen, als er schon den Bau neuer Siedlungen ankündigte. Sieht so der Frieden aus? Ich halte nach dem, was ich auf der anderen Seite der Mauer gesehen habe, für richtig, was viele Palästinenser sagen: Die Israelis wollen ein Maximum von unserem Land mit einem Minimum unserer Menschen, möglichst ganz ohne uns. Nur – Frieden bekommt man so nicht. Am Ende meiner Reise durch Israel und Palästina stand Ratlosigkeit, die totale Ratlosigkeit und Verlegenheit eines Deutschen, der sich zutiefst der Verantwortung für die im deutschen Namen begangenen Schandtaten an den Juden bewusst ist und daran als Journalist und Autor nie einen Zweifel gelassen hat. Aber ich habe keine Argumente mehr, Israels Politik zu verteidigen. Die Israelis bestrafen mit ihrer rücksichtslosen Landnahme und brutalen Unterdrückung ein Volk, das mit den Verbrechen der Nazis nichts zu tun hat. Die große Mehrheit der Palästinenser, davon bin ich tief überzeugt, hat nur den Wunsch, in dem Land, in dem sie Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende lang gelebt haben, eine freie, unabhängige und selbständige Existenz neben Israel zu führen. Aber genau dieses Ziel kollidiert mit Israels Land-Interessen. Auch viele Israelis – nicht nur die Vertreter der Menschenrechtsgruppen – sind der Meinung, dass Israel mit seiner Politik gegenüber den Palästinensern seine Existenz viel mehr gefährdet als alle vermeintlichen Bedrohungen von arabischer Seite es könnten. Israel ist die viertstärkste Militärmacht der Welt. Wer sollte diesen Staat in Gefahr bringen? Gerade erst hat Bush Israel für 30 Milliarden Dollar neue Waffenlieferungen zugesagt und zwar das Modernste, das die Amerikaner gerade erst entwickelt haben. Aber Kreuzritterstaaten haben sich in der Geschichte nie lange halten können. Auch im 60. Jahr seiner Existenz ist Israel in der Region noch nicht angekommen. Der schon Jahrzehnte andauernde Krieg mit den Palästinensern und die Mauer sind der eindeutige Beleg dafür. Der Holocaust (oder die Shoa, wie die Israelis sagen) ist für die Israelis ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Teil ihres Selbst- und Staatsverständnisses geworden. Aber legen sie dieses Verbrechen an ihrem Volk – im exklusiven ethnischen Sinne – nicht sehr einseitig nur für sich selbst aus? Ich kann die Schlussfolgerung aus dem Holocaust nur universalistisch verstehen – so wie es der Israeli Uri Avnery so wunderbar formuliert hat: „Das Konzept der Ausschließlichkeit des Holocaust kann zu verachtenswerten Perversionen führen. Viele unter uns behaupten, dass es für uns keine moralischen Beschränkungen gibt, weil – ‚nach dem, was man uns angetan hat – keiner das Recht hat, uns zu sagen, was für uns erlaubt oder nicht erlaubt ist. Nach der Shoah haben wir nur eine Pflicht, alles zu tun, um jüdisches Leben zu retten, auch durch schändliche Mittel’... Ich möchte behaupten, dass es jetzt, 60 Jahre nach dem Ende des Holocaust, an der Zeit ist, all dies hinter uns zu lassen. Die Zeit ist gekommen, das Gedenken des Holocaust von einem exklusiv jüdischen zu einer weltweiten menschlichen Angelegenheit zu machen. Das Trauern, die Angst und die Scham müssen in eine universale Botschaft gegen alle Formen des Völkermordes gewandelt werden. Der Kampf gegen den Antisemitismus muss ein Teil des weltweiten Kampfes gegen alle Arten von Rassismus, gegen Muslime in Europa, gegen Schwarze in Amerika, gegen Kurden in der Türkei oder Palästinenser in Israel oder gegen Fremdarbeiter überall sein. Die lange Geschichte der Juden als Opfer mörderischer Verfolgung sollte uns nicht dahin bringen, uns in einen Kult des Selbstmitleids einzuhüllen, sondern im Gegenteil uns dazu ermutigen, die Führung im weltweiten Kampf gegen Rassismus, Vorurteile und Stereotypen zu übernehmen, die mit Hetze von gemeinen Demagogen beginnen und beim Völkermord enden kann.“ Wenn die Mehrheit der Israelis den Holocaust auch so verstehen würde wie Uri Avnery, wäre der Nahe Osten einem Frieden sehr viel näher und Israels Existenz in dieser Region wäre für die Zukunft gesichert. |
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Yehuda Shaul
Treffen mit Yehuda Shaul von „Breaking the Silence“ in Jerusalem. Ich war Yehuda schon einmal in Bremen bei einem Workshop begegnet, und das erneute Zusammentreffen mit ihm bestätigte meinen ersten Eindruck von diesem couragierten Mann: Er ist eine sehr bemerkenswerte Persönlichkeit. Wenn es mehr Menschen seines Schlages gäbe, wäre es um diese Welt vermutlich besser bestellt. Yehuda, ein stämmiger Mann mit schwarzem Haar und einem üppigen Vollbart, ist ein frommer Jude, der stets seine Kippa trägt. Seine Eltern wanderten 1973 – dem Jahr des Jom Kippur-Krieges – nach Israel ein. Der Vater hatte bis dahin in Amerika gelebt, die Mutter stammt aus Kanada.
Mit 18 Jahren wurde Yehuda wie alle jungen Israelis zur Armee eingezogen. Er tat Dienst in Hebron. Was er dort erlebte, gab seinem Leben die entscheidende Wende. „Es war wie eine Erleuchtung“, sagt er heute, „ich sah das, was um mich herum geschah, nicht mehr mit den Augen eines Soldaten, sondern mit denen eines Zivilisten. Ich sah alles plötzlich sozusagen von außen. Ich blickte auf das zurück, was ich in den letzten Monaten in den besetzten Gebieten als Soldat getan hatte und war völlig schockiert über mich selbst. Ich wünschte mir, dass ich meinen eigenen Erinnerungen entfliehen könnte, aber es ging nicht. Es handelte sich wirklich um mich. Ich war es, der das getan und erlebt hatte! Und dann stellte ich fest, dass viele meiner Kameraden dasselbe empfanden, aber wir hatten nicht den Mut, darüber zu sprechen. „Wir fühlten alle, dass um uns herum etwas völlig verkehrt läuft und wir beschlossen, das Schweigen zu brechen.“
Das war im März 2004 die Geburtsstunde der Menschenrechtsorganisation „Breaking the silence“ (BTS), die es sich zum Ziel setzte, die von Soldaten in den besetzten Gebieten begangenen Menschenrechtsverletzungen an die israelische und internationale Öffentlichkeit zu bringen – mit Pressearbeit, Produktion von DVD’s und dem Ausrichten von Fotoausstellungen. „Was in den besetzten Gebieten geschieht“, sagt Yehuda, „ist das größte Geheimnis der israelischen Gesellschaft. Es ist ein totales Tabu. Niemand spricht darüber. Es ist wie etwas, das sich im Hinterhof abspielt. Es ist der Schmutz des Hinterhofes, den niemand vor seinem Haus haben möchte!“
Yehuda will offenbar mit seiner Aktivität das Trauma seiner Militärzeit bewältigen und das wiedergutmachen, was er und seine Kameraden als Soldaten auf Befehl tun mussten – aber auch „freiwillig“ taten, denn „nach einigen Monaten wird man zum willigen Automaten, der nicht mehr hinterfragt, was er da anstellt. Mit der Zeit sind die Palästinenser keine Menschen mehr, sondern nur noch Objekte.“ Yehuda erzählt: „Man bricht in Häuser ein, um sie zu durchsuchen, zerstört das Inventar und schließt die Bewohner so lange in einem Zimmer ein. Man verhaftet jede Nacht Personen, die dann – an den Händen gefesselt und mit verbundenen Augen – dem Geheimdienst für die Verhöre übergeben werden. Man schnappt sich einen Mann, der aus der Schlange am Checkpoint ausgebrochen ist oder vielleicht Unmut geäußert oder gelacht hat, nimmt ihn beiseite und lässt ihn – auch gefesselt und mit Augenbinde versehen – mit erhobenen Armen an einer Wand stehend sechs bis sieben Stunden warten Wir müssen sie ja ‚erziehen’.“
Yehuda nennt ein anderes Beispiel: „Man schießt mit dem Maschinenengewehr oder dem Granatwerfer auf bewohnte Gebiete. Einfach so. Nachdem du das einen Monat lang gemacht hast, wird es langweilig. Du sitzt zusammen mit einem Scharfschützen und das Spiel beginnt: ‚Dieses Auto da. 500 Meter entfernt. Meinst Du, du kannst das Hinterrad treffen? Wir wetten, es wird ein Spiel. Es macht Spaß. Du solltest es einmal probieren, es ist ein großer Spaß!“
Yehuda beschreibt seine schizophrene Situation als Soldat: „Nach 21 oder 24 Tagen, die Du in Hebron Dienst gemacht hast, bekommst Du ein Wochenende frei. Du steigst in den Bus und fährst nach Jerusalem. Es ist, als ob du eine Sicherheitsvorkehrung unter Deinem Sitz hast, in der du deine Person wegschließt. In Jerusalem gehst du dann ins nächste Café, gibst deiner Freundin einen Kuss, gehst nach Hause und nimmst Mami und Pappi in die Arme: ‚Hey, Leute, ich bin ein ganz normaler Mensch!’ Dann kommt der Sonntag, du ziehst deine Uniform an, überquerst die grüne Linie [die Staatsgrenze Israels bis 1967] und wirst wieder zum Monster.“
Das passt zur Funktion der Checkpoints. Yehuda erklärt sie so: „Für mich war es ein Moment der Erkenntnis, als ich begriff, dass die Checkpoints nicht nur dazu da sind, die Palästinenser daran zu hindern, nach Israel zu kommen. Diese Kontrollposten sollen auch verhindern, dass die Realität in den besetzten Gebieten nach Israel dringt. Die Checkpoints sollen also verhindern, dass unsere Persönlichkeit als Besatzer nach Israel gelangt.“
Es ist kein Wunder, dass dieser Mann mit seinen Mitstreitern von „Breaking the silence“ bei den Vertretern des politischen und militärischen Establishments nicht gerade auf viel Verständnis stößt. Ich frage ihn, wie das offizielle Israel auf seine Arbeit reagiert. Yehuda sagt: „Natürlich sind sie nicht begeistert. Zur Zeit versuchen sie, uns mit Prozessen zu überziehen. Sie wollen uns offenbar kaputt machen.“
Und Hebron? Hier hält sich Yehuda die meiste Zeit auf, beobachtet das Geschehen, macht Führungen, um auswärtigen Besuchern die Situation der Stadt zu erklären, in der er vor Jahren Dienst tat. Außerdem versucht er, zwischen Juden und Palästinensern zu vermitteln. Bei letzteren ist er außerordentlich beliebt. Die Siedler mögen ihn verständlicherweise weniger. Um mit ihnen nicht verwechselt zu werden, hat Yehuda während seiner Militärzeit hier seine Kippa abgenommen. Vermittlung ist aber unter den gegebenen Umständen schwer. Die dauernden Beschränkungen (in zwei Jahren gab es für die Palästinenser 500 Tage Ausgangssperre), die exklusiv jüdischen Straßen und die dauernden Angriffe der Siedler machen der arabischen Bevölkerung das Leben zur Hölle. Wie groß der Hass bei den Siedlern auf die Araber ist, machen Graffiti auf den Mauern deutlich, die auf die Nazi-Zeit anspielen: „Araber in die Gaskammern!“
Die Situation ist völlig absurd: Armee und Polizei halten das Willkür-System aufrecht, 500 jüdische Siedler, die erst wenige Jahre hier sind, vor 150 000 Arabern zu schützen. Yehuda nennt ein Beispiel, wie das Zusammenleben beider Völker hier aussieht: „Das Haus des Palästinensers Hani ist auch mit einem engmaschigen Drahtgitter versehen wie so viele Häuser hier, nur so kann er sich und seine Familie vor den Steinwürfen der Siedler schützen. Die Attacken finden statt, sobald ein Familienmitglied das Haus verlässt. Hani kann keine Freunde und Verwandten zu sich einladen, um mit ihnen einen Kaffee zu trinken. So etwas muss vorher mit dem Militär abgesprochen werden. Die Familie muss für einen solchen Besuch Ein- und Ausreisepapiere beantragen. Als Hanis Vater starb, musste die Familie den Toten auf dem Rücken über die Felder zum Checkpoint tragen, weil sie ja die ‚jüdische Straße’ nicht benutzen darf. Dort wartete der palästinensische Leichenwagen.“
Und was ist das Ziel der Siedler? „Die ganz Stadt in ihren Besitz bringen – Haus für Haus. Sie schicken ihre Steine werfenden Kinder vor, die die Palästinenser zermürben sollen, bis sie aufgeben und abhauen. Jüdische Kinder darf das Militär nicht verhaften.“ Das ist die tägliche Realität in Hebron nun schon seit vielen Jahren.
Yehuda zeigt bei unserem Zusammentreffen in Jerusalem einen Film, den „Breaking the silence“ gerade erst fertig gestellt hat. Junge Israelinnen, die gerade ihren Wehrdienst abgeleistet haben, berichten über ihre Zeit als Soldatinnen in den besetzten Gebieten. Diese sehr attraktiven jungen Frauen treten mit unverhülltem Gesicht und unverstellter Stimme vor die Kameras und berichten ganz offen über die tägliche militärische Arbeit, an der sie teilgenommen haben: Jagd auf Steine werfende Jungen, die dann – festgenommen – folterähnlichen Verhören unterzogen werden. Außerdem Häuserzerstörungen mit gewaltigen Explosionen, gewaltsame Wohnungsdurchsuchungen mit Zerstörung des Inventars, nächtliche Verhaftungen, Erniedrigungen und Demütigungen an den Checkpoints, Erschießung von Männern, die die Armee für Terroristen hielt. Ein Junge wird getötet. Auch ein Baby kommt ums Leben. Die Frauen erzählen das Alles, als seien sie immer noch traumatisiert, von dem, was sie selbst getan, mit angesehen oder miterlebt haben. Mit ihrer Schuld fertig geworden war offenbar keine. Jede geht auf ihre Art mit dem Trauma vor der Kamera um: Die eine erzählt ihre Geschichte mit ausgreifenden hastigen Gesten und kreischend lauter Stimme, als wolle sie Alles um sich herum übertönen, eine andere bringt ihren Bericht lachend vor, aber dieses Lachen wirkt seltsam deplaciert, weil es in diesen schrecklichen Zusammenhängen gar nichts zu lachen gibt. Die dritte muss ihren Wortfluss immer wieder abbrechen, stockt, das Gesicht verzieht sich zu schmerzlichen Grimassen. Die Bilder der Vergangenheit holen sie offenbar immer wieder ein.
Tiefes betroffenes Schweigen unter den Anwesenden im Saal nach dem Ende der Films. Einigen laufen Tränen über die Wangen, niemand kann etwas sagen. Bis Yehuda nach längerem Schweigen das Wort ergreift und fragt, ob jemand sich zu dem Gesehenen äußern möchte oder ob eine Diskussion gewünscht werde. Nein, niemand fühlt sich in der Lage, nach diesen Bildern etwas zu sagen. Niemand bringt ein Wort heraus – und doch sind Alle voller Bewunderung für diese mutigen Frauen, die das Schweigen gebrochen haben.
Arn Strohmeyer
Volk ohne Hoffnung
Eine Reise zu den Palästinensern
hinter der Mauer
Teil 5
An der Mauer
Der Field-Researcher Kareem von B’tselem erläutert bei einer Rundfahrt den Verlauf der Mauer im Großraum Jerusalem. „Die Israelis haben nur ein Ziel“, sagt er, „sie wollen das Land, aber ohne die Menschen, die darauf seit Jahrhunderten leben.“ Er erklärt das an mehreren Beispielen. Wir fahren in die israelische Siedlung Har Homa bei Bethlehem, das heißt, der Fahrer versucht es, mit seinem Wagen dort hineinzukommen. Ein Soldat an einer Straßensperre hält den Wagen an und erklärt in martialischem Ton, dass der Zugang zur Siedlung aus Sicherheitsgründen gesperrt sei. Der Fahrer nimmt einen anderen Weg, und wir sind ohne Kontrolle mitten in der Siedlung Har Homa. Sie ist wie alle Siedlungen eine Retortenstadt, die auf dem Reißbrett entworfen wurde. Ihre modernen Häuser sind wie festungsartige Burgen in den Hang des Berges hinein gebaut – mit wehrhaften, fast drohenden Mauern nach Bethlehem hin. Alle Fenster der unteren Stockwerke sind mit Eisengittern verrammelt. Die Siedlung ist völlig tot, ohne jedes Leben, niemand zeigt sich auf den Straßen. Gibt es überhaupt Menschen, die hier einziehen wollen? Dass die Bauarbeiten an diesen Siedlungen wie auch an der Mauer zumeist von Palästinensern erledigt werden, muss für sie eine zusätzliche Demütigung sein. Aber angesichts der hohen Arbeitslosigkeit haben sie keine andere Wahl.