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Arn Strohmeyer

 

Volk ohne Hoffnung

Eine Reise zu den Palästinensern

hinter der Mauer

Teil 2

Faten Mukarker

Zum Abendessen bei Faten Mukarker in Beit Jala, einem Ortsteil von Bethlehem. Sie ist eine Frau von vielleicht fünfzig Jahren mit großen traurigen Augen, die in ihrer Jugend einmal eine Schönheit gewesen sein muss. Auch sie ist Christin und hat Deutschland-Erfahrung. Ihr Vater ging, als sie zehn Jahre alt war, als Gastarbeiter mit der Familie nach Bonn. Hier verbrachte sie entscheidende Jahre. Seitdem lebt sie im Zwiespalt zwischen deutscher und arabischer Kultur, was Vor- und Nachteile habe, sagt sie, weil man die jeweils andere Kultur mit mehr Distanz sehen könne, als wenn man ausschließlich nur in der einen lebe. Sie hat Bücher geschrieben, die auch in Deutsch erschienen sind und immer wieder kommt sie zu Vorträgen in ihre Wahlheimat.

Aber ihre erste Heimat ist und bleibt Palästina, da lässt sie keinen Zweifel, auch wenn hier die Leiden so groß sind. Die Mauer der Israelis rings um ihre Stadt empfindet sie als besonders schmerzlich. Einmal, weil sie und ihre Landsleute durch dieses Monster aus Beton hermetisch von der Außenwelt abgeschnitten werden. Für die kleinste Fahrt in die Nachbargemeinde braucht man ein „Permit“ (einen Passierschein) der Israelis und der ist schwer zu bekommen. Und die Soldaten an den Checkpoints sind auf Schikanen gedrillt, willkürlich lange Wartezeiten und rüde Abfertigungsmethoden sind an der Tagesordnung, ja die „Normalität“. Früher hätten die Juden davon geträumt, sagt sie, „nächstes Jahr in Jerusalem“ zu sein, „jetzt träumen wir davon, einmal im Jahr in diese Stadt reisen zu dürfen.“

Aber Faten Mukarker hat noch eine besondere Erfahrung mit der Mauer gemacht. Oben auf dem Berg von Beit Jala besaß sie einen großen Olivenhain mit hunderten von Bäumen, der seit Jahrhunderten im Besitz ihrer Familie war. Dann teilten die israelischen Behörden ihr mit, dass der Hain aus militärischen Sicherheitsgründen enteignet werde. „Sicherheitsgründe“ hieß in diesem Fall, dass hier die Mauer gebaut werden sollte, die die nahe Siedlung Gillo schützen sollte. Und da die Mauer selbst stets noch einen breiten Schutzraum um sich braucht, gab es für Fatens Bäume keine Chance mehr. Als der Bulldozer anrückte, stellte sie sich dem eisernen Koloss verzweifelt entgegen und beschwor den israelischen Offizier, der das Unternehmen leitete, doch die wunderbaren alten Ölbäume stehen zu lassen. Er habe das nicht beschlossen und führe nur einen Befehl aus, war die lapidare Antwort. Faten wandte sich an den Fahrer des Caterpillar, einen Palästinenser in israelischen Diensten, und schrie ihn an, ob er keine Ehre habe, hier sein eigenes Land zu zerstören. „Ich habe eine Familie und sechs Kinder. Wovon soll ich sonst leben?“, gab der zurück und ließ die riesige Maschine auf Fatens Bäume los.

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Die Natur muss überall Israels Mauer weichen. Auch Faten Mukarkers Olivenbäume fielen den Baggern zum Opfer. Foto: str

Geblieben ist so gut wie nichts von dem Hain. Grau, riesig, unerbittlich und unüberwindbar steht dort heute die Mauer, die die Israelis euphemistisch „Trennungszaun“ nennen. „Bäume“, sagt Faten traurig, „besitzt man in unserer Kultur nicht, sondern ist ihr Hüter, weil sie vielen Generationen gehören und ihnen Leben spenden. Man muss Jahrzehnte warten und sie pflegen, bis sie richtig Früchte tragen, weshalb eine Baumkultur einer Ackerbaukultur überlegen ist, weil Ackerbau immer nur im kurzen Jahresrhythmus stattfindet.“ Im Arabischen, sagt Faten, gebe es sogar ein Sprichwort, das man dann anwende, wenn man sich gegen eine Beleidigung wehre: „Was willst Du von mir, habe ich etwa einen von deinen Olivenbäumen ausgerissen?“

Fatens Erlebnis mit ihren Bäumen hatte ein Nachspiel in Deutschland. Auf einem Kirchentag stieß die Palästinenserin auf einen Info-Stand, der für die „Begrünung“ Israels warb. Für 50 Euro konnte man die Patenschaft für einen Baum übernehmen, der dann irgendwo im Land gepflanzt würde. Natürlich bekomme man auch ein Zertifikat. Die Frau hinter dem Stand sprach Faten an, ob sie nicht auch spenden wolle. Der Palästinenserin aus Bethlehem fiel es schwer, sich zu beherrschen, aber ruhig erzählte sie der Frau, was sie gerade mit ihren Bäumen erlebt habe und fügte die Frage hinzu, ob es da nicht absurd wäre, Geld für Bäume in Israel zu spenden. Die Angesprochene bekam einen roten Kopf, wandte sich ab und sprach kein Wort mehr mit Faten.

Traurig ist sie auch über die Beziehung des mächtigen und von ihr so geliebten Deutschland zum kleinen ohnmächtigen und so zerstückelten Palästina. Auch sie spricht die Rede von Kanzlerin Angela Merkel im April 2008 vor dem israelischen Parlament an, in der sie „uns“ mit keinem Wort erwähnt habe. „Heißt das“, fragt sie, „dass Deutschland den Mauerbau, der ja ausschließlich auf unserem Gebiet stattfindet, die ständige Neugründung und Erweiterung von Siedlungen, also den Landraub unseres Gebietes, die ständigen Verhaftungen, die gezielten Tötungen, die Schikanen an den Checkpoints, die Zerstörung unserer Landwirtschaft und die Aushungerung von Gaza billigt? Wissen die Deutschen eigentlich“, fragt Faten Mukarker, „dass sie mit solchen Positionen bei uns die politisch Extremisten stärken, die auch Gewalt anwenden wollen?“

Faten will und kann das nicht glauben. Zu groß ist ihre Achtung vor dem großen Deutschland. Aber da gibt es auch Zweifel. Ein israelischer Freund habe ihr neulich erzählt, es sei doch eine komische Sache, dass man den Deutschen früher vorgeworfen habe, sie hätten in der Hitlerzeit immer weggeschaut und heute würden die Israelis das von den Deutschen geradezu verlangen.

Faten weiß natürlich, wie schlecht die Position der Palästinenser in der internationalen Politik ist: „Wegen des Mauerbaus sind wir vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gezogen und haben dort gewonnen. Die Mauer ist völkerrechtlich illegal, so weit sie auf unserem Gebiet gebaut wird. Israel hat das ebenso wenig interessiert wie die vielen UNO-Resolutionen zu unseren Gunsten. Das heißt: Nehmen wir unser Widerstandsrecht wahr und wehren uns gegen die Okkupation mit Waffen, sind wir Terroristen. Gehen wir vor ein internationales Gericht und gewinnen, hat das keinerlei Folgen. Was bleibt uns da noch?“

Noch einen Grund hat Faten traurig zu sein. Sie hat zwei Söhne und zwei Töchter. Die Söhne haben studiert und sind dann nach Amerika ausgewandert, wo sie lukrative Jobs haben. „Sie werden nicht zurückkommen“, sagt sie, „und meine Töchter, die noch studieren, werden ihnen irgendwann folgen. In diesem ausgebluteten und gepeinigten Land haben Akademiker oder Akademikerinnen keine Zukunft. Die Sache hat natürlich Methode. Die gut ausgebildeten jungen Leute bekommen von den Israelis ein Visum zur Auswanderung, denn als Arbeitslose wären sie hier ein revolutionäres Potenzial. Die Israelis sagen: ‚Die Klugen sollen abhauen, die Dummen und schlecht Qualifizierten können bleiben, mit denen werden wir fertig.’ Das ist nicht gut für unsere Zukunft, wenn die Besten gehen“, sagt Faten sehr nachdenklich und denkt dabei nicht nur an ihre eigenen Kinder.“

Früher seien die jungen Menschen auch hier geduldig und leidensfähig gewesen. Schwere und bedrückende Situationen hätte man mit dem Hinweis auf Gott – ‚Inshalla’ (wenn Allah es so will!“) – ertragen. Aber Fernsehen und Internet hätten den Blick der Menschen verändert, weil man dank dieser neuen Techniken hinter die Mauer schauen und sehen könnte, wie die Menschen ‚draußen’ leben. Das wecke Wünsche und Sehnsüchte. Die jungen Leute wollten deshalb auch wie ‚Menschen’ leben – und zwar jetzt und nicht erst in einer fernen Zukunft. Wenn dem nicht Rechnung getragen werde, sei die nächste Intifada nur eine Frage der Zeit. Wenn die Lage für Kinder und Jugendliche aber so perspektiv- und hoffnungslos sei, müsse man sich da wundern, wenn Einige religiösen Extremisten auf den Leim gingen, die ihnen von den Schönheiten des Paradieses im Jenseits vorschwärmten, um sie für Selbstmordanschläge zu gewinnen?

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Das Tor des Flüchtlingslagers Aida bei Bethlehem. Der Schlüssel gilt für die Palästinenser als Symbol der Hoffnung. Foto: str

Im Flüchtlingslager Deheishe

Anwar (Name vom Verfasser geändert), ein junger Palästinenser von vielleicht 25 Jahren, führt durch das Flüchtlingslager Deheishe in Bethlehem. Er erzählt die Geschichte des Camps, das eines der ältesten in Palästina ist und gleich nach dem Krieg und der Vertreibung 1948 als Zeltlager gegründet wurde. Er berichtet, wie sich die Menschen dann hier in festen Gebäuden auf engstem Raum eingerichtet hatten. In den Zelten wohnten anfangs 1000 Menschen, in den festen Bauten sind es heute 5000. Am Anfang besaß eine Familie mit mehreren Kindern nur ein Zimmer von der Größe drei mal drei Meter. Eine von diesen Kleinstherbergen hat die Zeiten überlebt, und ich habe die Gelegenheit, einen Blick hineinzuwerfen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie hier mehrere Menschen gelebt haben können – jede Küche oder jedes Badezimmer in einer deutschen Sozialwohnung sind größer als diese winzige Zelle.

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Die Mauer grenzt direkt an das Flüchtlingslager Aida. In ihrem drohenden Schatten müssen die Palästinenser leben. Foto: str

Heute sind die Häuser und Räume großzügiger angelegt, es ist viel gebaut worden im Lager. Noch immer leben die Menschen von der Unterstützung durch die UNWRA, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, das auch für die Aufrechterhaltung der Schulen und der Krankenversorgung zuständig ist. Die Integration der Flüchtlinge ist schwer in einem Land, das besatzungsbedingt 50 Prozent Arbeitslosigkeit hat.

Anwar erzählt von der großen Solidarität im Lager, die Menschen hielten sehr zusammen. Sonst hätten sie die vielen militärischen Attacken der Israelis gar nicht überstehen können. Immer wieder seien die Panzer durch die engen Straßen des Camps gerollt und hätten alles nieder gewalzt. Viele junge Männer hätten bei diesen Kämpfen ihr Leben gelassen und würden nun als Märtyrer verehrt. Anwar zeigt in die Höhe an die Ecke einer Hauswand und erklärt, dass es im Lager keine Straßennamen gebe, um die Israelis bei ihren Attacken die Orientierung zu erschweren. Aber die Besatzer haben an den Hauswänden hebräisch geschriebene Straßennamen angebracht, die ihnen die Arbeit erleichtern sollen. „Jede Nacht kommen sie“, sagt Anwar, „und verhaften ganz willkürlich Leute von uns.“ Auch Anwar hat viele Jahre in israelischen Gefängnissen gesessen.

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Gemälde machen die triste, graue Mauer menschlicher. Hier ein Bild, das an die Vertreibung 1948 erinnert. Foto: str

Er führt zu einem alten Mann, der in einem kleinen Haus allein lebt. Der Palästinenser ist 86 Jahre alt, sieht noch frisch und rüstig aus und trägt einen langen Kaftan. Zum Kaffee, den er reicht, gibt es – merkwürdige Kombination – kleine würzige Gurken. Der Greis hat die Katastrophe der Palästinenser, die Nakba, noch selbst erlebt, als die Israelis in einer groß angelegten „ethnischen Säuberung“ (die Aktion wird heute auch von vielen israelischen Historikern so genannt) an die 500 arabische Dörfer und elf Städte entvölkerten – mit dem einzigen Ziel, die Menschen zu vertreiben, um das Land für den neuen Staat in Besitz zu nehmen. Genau 60 Jahre ist das her, etwa 800 000 Menschen mussten damals fliehen, viele kamen um. Es kam zu Massakern, um die Menschen in Panik zu versetzen. Das schlimmste war das von Deir Jassin, einem Dorf bei Jerusalem, bei dem über 200 Menschen ermordet wurden.

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Dieser alte Mann hat die Vertreibung 1948 noch mitgemacht. Sein Dorf ist nur wenige Kilometer vom Lager Deheishe entfernt, aber er wird es wohl nie wieder sehen. Foto: str

Während die Israelis mit blauweißen Fahnenmeeren, Militärparaden, Flugschauen der Luftwaffe, abendlichen Feuerwerken und Tanz auf den Straßen ihr Staatsjubiläum feierten, gedachten die Palästinenser still, traurig und depressiv der Nakba, der Katastrophe ihrer Nation, und ließen schwarze Luftballons der Trauer aufsteigen, die den Himmel über Palästina verdüstern sollten. Luftballons sind hier zudem von einer besonderen Symbolik. Sie können, was Menschen – eben Palästinenser – nicht können: einfach aufsteigen und die Mauer überwinden.

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Hier sitzt der alte Mann immer auf seiner Terrasse und schaut auf die Palästina-Landkarte an der Wand und denkt an die alten Zeiten. Foto: str

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Kinder im Flüchtlingslager Deheishe in Bethlehem. Werden sie eines Tages das Lager verlassen können und ein besseres Leben finden? Foto: str

 

Während die Israelis mit blauweißen Fahnenmeeren, Militärparaden, Flugschauen der Luftwaffe, abendlichen Feuerwerken und Tanz auf den Straßen ihr Staatsjubiläum feierten, gedachten die Palästinenser still, traurig und depressiv der Nakba, der Katastrophe ihrer Nation, und ließen schwarze Luftballons der Trauer aufsteigen, die den Himmel über Palästina verdüstern sollten. Luftballons sind hier zudem von einer besonderen Symbolik. Sie können, was Menschen – eben Palästinenser – nicht können: einfach aufsteigen und die Mauer überwinden.

Der alte Mann sagt: „Bis 1948 lebten wir hier im Land einigermaßen friedlich zusammen. Dann kamen die Europäer. Sie hatten ein Problem und lösten es auf unsere Kosten.“ Die Worte „Juden“ und „Holocaust“ nimmt er nicht in den Mund. Er zeigt auf einer Karte an der Wand, wo sein Dorf liegt: im heutigen Israel – nicht einmal 30 Kilometer von Bethlehem entfernt, aber seit 1967 ist es für ihn unerreichbar wie der Mond oder der Mars. Und doch hofft er, eines Tages zurückkehren zu können in sein „Paradies“, wie er es verklärend nennt. Das Lager bezeichnet er als „Käfig“.

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Palästinensische Kinder demonstrieren am Tag der Vertreibung (15. Mai 1948) im Flüchtlingslager Aida für ein freies Palästina. Foto: Harms

Im schon hohen Alter von 76 Jahren ist der Greis noch zum Schriftsteller geworden. Er zeigt seine Manuskripte, die in ihrer kleinen kalligraphischen arabischen Schrift wunderbar anzusehen sind. Natürlich schreibt er über die Nakba und sein Dorf. Und weil die Jüngeren begierig sind, etwas über die eigene Geschichte zu erfahren, ist er ständig zu Lesungen und Vorträgen unterwegs. Im Lager genießt er große Achtung.

Anwar versteht die Sehnsucht des alten Mannes nach Rückkehr, will aber selbst nicht in das Dorf seiner Eltern zurück. Seine Heimat ist das Lager, hier ist er groß geworden, hier hat er seine Aufgabe und seine Freunde und Bekannten. Ihm schwebt als Vision für die Zukunft ein gemeinsamer demokratischer Staat vor, in dem Juden und Palästinenser frei, friedlich und gleichberechtigt zusammenleben können – ohne Mauern, Checkpoints, ohne Benachteiligung und Diskriminierung. Das ist der Traum, den vermutlich seine ganze Generation teilt. Die Chance, dass er in Erfüllung geht, ist gleich Null. Aber wenn er in Erfüllung ginge – Phantasieren ist ja nicht verboten, dann könnte der alte Mann vielleicht auch noch einmal sein Dorf wieder sehen bzw. wenigstens den Platz, an dem es einmal gestanden hat ...

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Protest gegen die Besatzer auch auf den T-Shirts der Jugendlichen im Lager Aida. Foto: Harms