Zum InhaltsverzeichnisVirtuelles Magazin 2000 

Gerd Fleischmann

 

 

Erinnerungskultur?

 

 

Osterfrühstück im Gutshaus Lansen bei Sophie Schleußner und Diethart Kerbs – Nummer 3 von hierzulande, dem Mitteilungsblatt ihres Kultur-Landschaft e. V. ist gerade erschienen. Quer zu einem stimmungsreichen Foto auf dem Titel steht als Untertitel „Handreichungen zur Trauerarbeit ...".

Im Editorial ist die Rede von Verlust, von Erinnerungen, die uns fehlen. Trauer um Menschen und Erinnerungsarbeit begegnen uns als Themen auch bei Dani Karavan, der seit über 40 Jahren Mahnmale und Gedenkstätten baut, weltweit. „Spuren-Sicherung“ als künstlerische Methode gibt es seit den 70er Jahren.

Die Redefiguren kreisen um das Verschwinden der Kultur im ländlichen Raum. Bei jedem neuen Erinnerungsprojekt stellt sich die Frage, wie kann das funktionieren? Wie „arbeitet“ etwa das ‚Holocaust-Mahnmal‘, das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin? Schon die beiden Begriffe irritieren.

Die Tage der Zeitzeugen der NS-Zeit sind gezählt, bald auch die Tage derer, die als Kinder noch berührt wurden von den Schrecken dieser Zeit. Muss sich dadurch die Erinnerungskultur verändern? Wenn ein „Zentrum für Vertreibung“ geplant wird und im Humboldt-Forum, dem ‚Stadtschloss‘ in Berlin-Mitte, die außereuropäischen Kulturen ins Blickfeld gerückt werden sollen, muss es dann nicht auch einen Gedenk-Ort in Europa geben für die Opfer des Kolonialismus? Die mörderischen Konflikte im Kongo, in Afghanistan, im Irak und den kurdischen Gebieten sind unmittelbare Folgen des Kolonialismus – um nur einige zu nennen.

Wir kamen auf Adolf Reichwein, den Autor, Pädagogen und Widerständler, der seine Haltung 1944 mit dem Leben bezahlen musste – „Im Namen des Volkes“, wie es auch unter Roland Freisler hieß. Seit vielen Jahren diskutiert der Adolf-Reichwein-Verein, der sich seit 1982 der Erinnerung an Reichwein und der Darstellung seines Werkes und seiner Erkenntnisse und Leistungen verschrieben hat, über eine Aktualisierung einer bestehenden Wanderausstellung, siehe Button ‚Ausstellung‘ auf http://freenet-homepage.de/reichweinverein/. Allerdings, will man mehr erfahren zu der Ausstellung („Klicken Sie hier, um weitere Bilder der Ausstellung und der Eröffnungsveranstaltung [von 1999, G. F.] zu sehen“), dann heißt es HTTP Error 404: Invalid URL.

Die vielleicht 20 Rahmen mit Texten und Reproduktionen sind eher eine (zerbrechliche) Wandzeitung als eine Ausstellung. Es gibt darin kein einziges Original, das eine Aura entfalten könnte. Nicht einmal die Erstausgabe des bewegenden Berichtes über eine Wanderung durch Finnisch Lappland mit zwölf Jenaer Jungarbeitern, der 1928 unter dem Titel Hungermarsch durch Lappland erschienen ist und bis 2000 immer wieder neu aufgelegt wurde. Im Internet ist inzwischen mehr zu finden als in den Rahmen.

Trotzdem: Es soll eine Form, eine Methode oder ein Prozess gefunden werden, der die Botschaft von Adolf Reichwein für immer neue Adressaten interessant und nutzbar macht Zugleich sollen aber auch die mitgenommen werden, die noch gefangen sind in der Gedenkkultur und etwa den Architekten Peter Eisenman nicht verstehen, wenn er es ausdrücklich begrüßt, dass sich junge Menschen auf den Stelen des Holocaust Mahnmals in Berlin in die Sonne setzen ...

Vielleicht funktioniert auch da die einfache AIDA-Formel der Werber: Attention, Interest, Desire, Action – aufmerksam machen, das Interesse gewinnen – fesseln, Erkenntniswünsche wecken, Handeln. In diesem Fall ist „Handeln“ natürlich nicht kaufen. Handeln kann ein Gespräch sein, die Suche nach mehr Wissen über Adolf Reichwein oder auch ein eigener Beitrag, für den eine neue Ausstellung offen sein sollte.

Als Lösung schlage ich Testimonials vor. Wer von Reichwein bewegt ist, soll mit einem oder zwei Bildern und einem kurzen Text zeigen und sagen, was sie oder ihn bewegt. Diese Zeugnisse sollen nicht versuchen, Reichwein umfassend darzustellen, sondern in erster Linie begeistern und dazu auffordern, mehr zu erfahren. Parallel zu großen Bahnen im Digitaldruck erscheinen diese Testimonials auch auf der neuen Website www.adolfreichwein.org, die Schritt für Schritt die Rolle der bisherigen Vereins-Website übernehmen soll. Links erlauben, das gesamte Wissen über Reichwein zu nutzen, das im Internet liegt. Dazu kommen immer wieder neue Links, etwa Hörbücher mit Erzählungen – als erstes der Hungermarsch durch Lappland von 1928.

Erinnerung ist dabei nicht das entscheidende Thema, sondern ein lebendiger Diskurs. Dazu hieß es im ersten Aufruf zur Herbsttagung 2007 des Adolf-Reichwein-Vereins:

„Wirklich, machen Sie mit. Fragen Sie sich: Was bedeutet mir Adolf Reichwein, wo packt er mich, was kann ich von ihm lernen, wie geht es weiter – wie soll es weiter gehen? Menschen, denen Adolf Reichwein wichtig ist, sollten sagen, was sie von dem, was er angestoßen, getan und hinterlassen hat, am meisten bewegt – kurz, präzise, subjektiv. Vielleicht sogar mit URL, eMail-Adresse und Telefonnummer. So haben die Besucher auch Gesprächspartner – und werden selbst welche, wenn Sie mitmachen.

Eine oder zwei Abbildungen sollen jedes Testimonial anschaulich werden lassen und Lust darauf machen, mehr zu sehen, mehr zu erfahren auf der neuen Adolf Reichwein-Website www.adolfreichwein.org.

Schreiben Sie auf, was Sie an Adolf Reichwein am meisten bewegt, wo Sie in seinem Wirken eine Botschaft für unsere Zukunft sehen. Suchen Sie zwei Abbildungen aus und ein Bild von sich selbst in einer Situation, die Ihr eigenes Wirken zeigt, und schreiben Sie ein paar Stichworte zu Ihrer Begegnung mit Adolf Reichwein. Schicken Sie alles an mail@adolfreichwein.org.“

Die Resonanz war enttäuschend. Das Konzept ist vielleicht schwer vorstellbar für Lehrer und Wissenschaftler, die vor allem Sicherheit und (über-)prüfbare Ergebnisse suchen. Noch gibt es auch die neue Adresse nicht. Bis dahin gilt für die Testimonials, Einwürfe und Kritik mail@buero-fleischmann.de

Es wäre ein Traum, wenn eine der über 30 Schulen und Institutionen, die Adolf Reichwein im Namen führen, sich in Projekten „ihres“ Reichwein vergewissern (oder alte Projekte wieder ‚ausgraben‘) und ihre Sicht des Namenspatron darstellen würden. Daraus könnte ein ‚Staffellauf‘ werden, ergänzt durch Testimonials, wie sie bereits vorliegen – auf Fahnen und im Netz. Die Form ist technisch bedingter Rahmen. Standardisierung spart aber nicht nur Kosten.

Am Beispiel des Testimonials von Karin Friedrich (*1925), die zusammen mit ihrer Mutter in Berlin im Widerstand war, soll deutlich werden lassen, wie die Ergebnisse aussehen könnten: Große Digitaldrucke auf leichtem Persenning, Titelzeilen als Ziutat aus dem Text, Leitabbildung (hier Adolf Reichwein 1944 vor dem ‚Volksgerichtshof‘), kleine Abbildung für weitere Argumente (hier Ruth Andreas-Friedrich und Karin Friedrich im Sommer 1944 in Berlin-Steglitz als Mitglieder der Gruppe ‚Onkel Emil‘), dazu eine aktuelle Abbildung der Autorin bzw. des Autors (Karin Friedrich 2007) – möglichst auch ein Angebot, wie man mit ihr oder ihm ins Gespräch kommen kann. Am besten wohl eine Mail-Adresse:

erinnerungskultu1

Aus dem Testimonial von Karin Friedrich – „Besonders bewegt mich immer wieder der mutige Versuch der beiden Sozialdemokraten Adolf Reichwein und Julius Leber, zusammen mit den unabhängigen Berliner Kommunisten Saefkow, Jacob und Thomas ein Bündnis gegen Hitler zustande zu bringen. Ihr Treffen am 22. Juni 1944 wurde verraten. Die Kommunisten wurden am 18. September 1944 in Plötzensee hingerichtet, Reichwein vier Wochen später, am 20. Oktober, Julius Leber am 5. Januar 1945.

Als Mitglied der Berliner Widerstandsgruppe ‚Onkel Emil‘, die versuchte,untergetauchten Juden und politisch Verfolgten zu helfen, weiß ich, dass Millionen überlebt hätten, wenn die verschiedenen Widerstandsgruppen ihre Gegensätze überbrückt hätten und gemeinsam gegen das Naziregime aufgestanden wären, um den mörderischen Krieg zu beenden. ‚Onkel Emil‘ hat noch 1945 bei der „Nein“-Aktion gegen die Verteidigung von Berlin mit den kom- munistischen ‚Widerstandsgruppen Ernst’ zusammengearbeitet.“