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Jörg Boström

Fotografien als Erinnerung und Dokument.

Fotografie ist ein Medium des Erinnerns. Auch das. Was nicht im Bild festgehalten ist verschwindet aus dem Gedächtnis. So sind Reisebilder, Familienalben mit Geburtstags- und Hochzeitsfotos aufgezeichnetes Leben. Als Eugene Atget seine Kamera in den Straßen, Höfen und Gassen von Paris aufstellte, mit und ohne Auftrag, schuf er nicht nur ein Werk der Fotogeschichte. Es entstand zugleich das Dokument einer Stadt, die es so bald in dieser Gestalt nicht mehr geben sollte. Er dokumentierte oft kurz vor dem Abbruch und Umbruch. Der fotografierte Augenblick ist meist schon einen Moment nach der fotografischen Aufnahme verschwunden. Was bleibt sind die Bilder.

Im Raum Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Brandenburg haben Sophie Schleußner und Diethart Kerbs in den Jahren 1992-95 eine umfangreiche Fotodokumentation organisiert. Unmittelbar nach der Öffnung der Grenze war die DDR für viele Menschen aus dem Westen ein unbekanntes und daher neu zu erfahrendes Land. Zu erfahren im Wortsinne mit Auto und Kamera. Vieles in alten Stadtteilen und Dörfern schien dem Verfall preisgegeben, aber es war noch nicht abgerissen wie große Bereiche in westlichen Städten, welche dem Neubau ganzer Viertel und übersteigerter Verkehrsplanung zum Opfer gefallen waren. Es faszinierte der Atem der Geschichte. Nun galt es, bedrohte Bauwerke und Bereiche in Dörfern und Städten wenn nicht real, dann wenigstens fotografisch zu retten und zu bewahren. 56 Menschen waren dafür drei Jahre lang mit der Kamera unterwegs. Über 20 0000 Aufnahmen entstanden und sind nun in den Museen von Cottbus, Halle und Schwerin aufbewahrt. Unter dem Titel „Fotografie und Gedächtnis“ ist eine Auswahl der Bilder in drei Bänden veröffentlicht.

Wie in verplombten Fahrzeugen sind wir früher über die Schienen und Autobahnen nach Berlin und durch die DDR gefahren. Im Vorüberfahren schielten wir in die Bahnhöfe, auf die entfernten Straßenzüge und Häusergruppen, beobachteten Menschen, Fahrzeuge, Bewegungen. Mehr als sonst im Gewohnten hielten unsere Kameras Flüchtiges fest. Im Vorübergehen erschienen uns diese Gesellschaft und ihre Straßen und Häuser im wechselnden Licht. Vergangen ist sie, kaum dass wir unsere Filme entwickelt und ausgewertet hatten. Niemals früher oder später ist uns das Bewusstsein der Flüchtigkeit unseres Mediums so schmerzhaft spürbar, so deutlich gewesen.

Nicht nur das der Flüchtigkeit der Fotografie, vielmehr noch das der fliehenden Schattenhaftigkeit der Realität selbst, der wir mit der Kamera nacheilen. Als wir zuvor gemeinsam mit Kollegen aus Leipzig eine Fotoausstellung über unsere Länder zu organisieren begannen, existierten diese noch. Bei dem Versuch, das umfangreiche Bildmaterial zu publizieren, hatte sich der Gegenstand unserer Bemühung bereits wie ein Rauchzeichen aufgelöst. Umgekehrt wird aber auch ein Ereignis, das nicht von der viel zu langsamen Fotografie erfasst wurde, in sehr kurzer Zeit überhaupt nicht stattgefunden haben, es wird ohne die Widerspiegelung im Medium nicht weiter existieren, als habe es sich nie ereignet. Es wird seine begrenzte Unsterblichkeit nur gewinnen durch eine Kette von Fotografien, die durch ihre massenhafte Verbreitung das Ereignis in unser Bewusstsein einbrennen. Wenn in dieser Zeit aus dem Wirbel des politischen Wechsels mit dieser einschneidenden Erfahrung eine neue und ebenso kurzlebige Fotogruppe gebildet wird aus Leipziger, Berliner und Bielefelder Fotografen und Fotografinnen mit der erklärten Absicht, Dokumentationen des augenblicklichen Zustands von Bauten, Dörfern und Bezirken im Umbruch des politischen und sozialen Wandels, des Übergangs zu schaffen, macht sie schon durch den Titel des Projekts „Fotografie und Gedächtnis“ aufmerksam auf den inneren Widerspruch unseres Mediums, der es am Leben hält und auf Bereiche, die es bald nicht mehr gibt, auf Verbindungen, die weiter zu schaffen sind, auf Flüchtigkeit und Vorübergang, auf ein scheinbares Festhalten dessen, das niemand aufhalten kann. Nichts ist, sagt ein alter Spruch, so veraltet wie die Zeitung von gestern, nichts ist aber auch so faszinierend wie der „Schaum der Tage“ (Boris Vian), wenn er sich in Bildern kristallisiert, wie das „winzige Fünkchen hier und jetzt, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchsengt hat“ (Walter Benjamin. Kleine Geschichte der Fotografie.). Diese dokumentarische Kraft, dieses Speichern für die Erinnerung ist eine historische Aufgabe, welche zu versäumen einer kulturellen Verblendung nahe kommt.

Wir leben in einer schnell sich wandelnden Zeit. Dennoch sind in den vergangenen siebzehn Jahren seit der Wende in vielen ostdeutschen Städten durch das Bundesprogramm „Städtebaulicher Denkmalschutz“ wertvolle historische Bauwerke in großer Zahl erhalten und saniert worden. Auf dem Lande ist aber in manchen Gegenden mehr zerstört und abgerissen worden als in den vierundvierzig Nachkriegsjahren. Die "Frankfurter Allgemeine" schrieb dazu: “ Was die Sozialisten stehen ließen, reißt der Kapitalismus ab.“ (FAZ 4.VIII.2000, S.46)

Wie geht es weiter? Wie wird erinnert, was wird fotografiert und dokumentiert?

Gerhild Meßner, Renate de Veer und andere haben versucht, auch bereits verschwundene Bauwerke zu dokumentieren. Manche davon wurden gerade noch rechtzeitig, kurz vor dem Abriss, fotografiert. Man ist bei der Suche nach eventuell noch vorhandenen Bildern und Dokumenten auf detektivische Forschung bei früheren Bewohnern und Besitzern angewiesen. Die in der DDR tätigen Ämter der unteren Denkmalpflege scheinen wenig aufbewahrt zu haben. Man erzählt sich, dass Werner Heyfelder, der frühere Leiter der unteren Denkmalpflege im Landkreis Waren, zum Abschied in den Ruhestand einen Container bestellt habe, um seine noch unbearbeiteten Akten und Unterlagen über nicht mehr existierende Bauten zu entsorgen. Nach Fotografien, Plänen und anderen Dokumenten über verschwundene Herrenhäuser und abgerissene Gutsanlagen sucht man in vielen Landratsämtern und Kreisbaubehörden vergeblich.

Und heute? Wird denn in unserer Gegenwart irgendwo eine fotografische Dokumentation bedrohter und dem Abriss entgegen sehender Anlagen in Auftrag gegeben? Werden das fotografische Gedächtnis und die historische Dokumentation der ländlichen Regionen ausgebaut und gepflegt oder vernachlässigt und ausgelöscht?

Fragen. Fragen. Fragen.

Gutshaus Pastitz auf Rügen

Fotografiert am 14.4.1993

Foto Boström in:

Fotografie und Gedächtnis, Hg. D. Kerbs, S. Schleußner

Im Gutshaus Helle auf Rügen.

Spuren der Treppe in der Diele.

Fotografiert am 12.4.1993

Foto Boström, in: Fotografie und Gedächtnis, Hg. D. Kerbs, S. Schleußner