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Arbeiterfotografie zwischen gestern und heute
Über ihre historischen Vorbilder und ihre Arbeit
Von Gabriele Senft, Ehrenmitglied der Arbeiterfotografie

Gabriele Senft


Ich werde über einige Persönlichkeiten sprechen, die ich verehre und die mich nachhaltig prägten. Voran stellen möchte ich ein Zitat.

Peter Handke in Varvarin

Foto: Gabriele Senft

Der Autor Peter Handke, auf diesem Foto bei einer Begegnung 2005 beim Gedenken für die Opfer von Varvarin am Brückenmahnmal, hatte für die Mutter eines 1999 dort im Krieg ermordeten Mädchens den Spruch von Emile Zola mitgebracht:

“Die Wahrheit ist auf dem Weg, und nichts wird sie aufhalten. Wer leidet für die Wahrheit und die Gerechtigkeit, der wird erhaben und heiter… Es gibt keine Gerechtigkeit als in der Wahrheit; es gibt kein Glück als in der Gerechtigkeit“.

Er hatte die Worte auf dem Grab eines Friedhofs in Paris entdeckt. Ich bat ihn, diesen Spruch auch mir aufzuschreiben, denn ich fühlte mich durch ihn in meinem Handeln bestätigt.

Hatte ich nicht aus diesem Grund 2001 gemeinsam mit anderen Deutschen aus der Friedensbewegung die Reise nach Varvarin unternommen und die Bewohner ermutigt, ihnen geschehenes Unrecht anzuklagen? Damit die Wahrheit verbreitet wird und hilft, zukünftig solche Geschehen wie Pfingsten 1999 in Varvarin zu verhindern. Eines der Beweise des ungeheuren Kriegsverbrechens war der durch die Bombardierung 300 Meter weit geschleuderte, durch Hitzeeinwirkung zerschmolzene Brückenrest. Er ist inzwischen entfernt worden. Für mich war er das eigentliche anklagende Symbol für die Zerstörung der Brücke von Varvarin.

Zerborstener Brückenrest von Varvarin, im Hintergrund die neue Brücke auf den alten Pfeilern

Foto: Gabriele Senft

Von 1964 bis 1969 besuchte ich die Erweiterte Oberschule 'Karl Liebknecht' in Luckau. Dort lernte ich den bildenden Künstler Theo Balden persönlich kennen. Er schuf in dieser Zeit für die Stadt Luckau ein Liebknecht-Denkmal und wir waren aufgerufen, mit ihm seine Entwürfe zu diskutieren. Viele cirka 15 cm hohe Varianten des zukünftigen Mahnmals aus Knetmasse beurteilten wir, und so waren wir aktiv in den Enstehungsprozeß einbezogen. Es ist unser Mahnmal, das nun an der Luckauer Stadtmauer zu sehen ist.

Das Luckauer Karl-Liebknecht-Denkmal

Foto: Gabriele Senft

Theo Balden gab uns auch Zeichenunterricht und ich habe ganz lebendige Erinnerungen daran, wie er uns vermittelte, auch in einfachen Dingen ganz Spannendes zu entdecken. Noch in der Schulzeit und später als Fotografin besuchte ich ihn in seinem Pankower Atelier und war jedes Mal sehr aufgewühlt von dem Erlebten. All seine Werke sprechen von seinem Ringen für eine menschliche, gerechte Welt, zeugen von seinem tiefen Friedenswillen.

Seine Motivation, sich künstlerisch zu betätigen, hat mich nachhaltig geprägt. Er gehört vor vielen anderen zu meinen historischen Vorbildern.

Theo Balden wurde 1904 als drittes Kind einer Auswandererfamilie in Brasilien geboren, jedoch nach dem Unfalltod seines Vaters, eines Malers, kehrte die Mutter mit den Kindern nach Deutschland zurück.

Die Mutter fürchtete um den zweiten Ehemann, der im 1. Weltkrieg bei der Marine diente. Theo Balden mußte jeden Tag die Anschlagsäulen mit den Namen der Toten durchsehen, und es blieb ihm nicht erspart, die schreckliche Nachricht vom Tod des Stiefvaters dort zu lesen und seiner Mutter zu überbringen. Bis zu dieser Kindheitserinnerung reichte seine entschiedene Haltung gegen den Krieg zurück.

1928 trat er der KPD bei und der Roten Hilfe, 1929 gehörte er zur Assoziation revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands. 1934 wurde er zu 9 Monaten Haft verurteilt, weil er in einer antifaschistischen Widerstandsgruppe tätig war. 1935 gelang es ihm, mit falschem Paß zu fliehen, (seitdem nennt er sich Theo Balden, zuvor war sein Name Otto Koehler) zunächst nach Prag, später nach London. Er kehrte 1947 nach Berlin zurück. Theo Balden lehrte an der Kunsthochschule Berlin Weißensee bis 1958 und lebte und arbeitete bis zu seinem Tod 1995 in Berlin Pankow. Rene Graetz über ihn: „Theo Balden träumt den Traum von der Gewalt der Güte“.

Theo Balden in seinem Atelier

Foto: Gabriele Senft

Links hinter Theo Balden sieht man den Entwurf seines Mahnmals gegen Krieg, eine ihr Kind beschützende Mutter.

Theo Balden: „Mutter und Kind“

Foto: Gabriele Senft

Die Skulptur hat in der Nähe der Klosterruine in Berlin-Mitte ihren Platz gefunden. Weitere Werke kann ich hier nur erwähnen, wie „Liebknecht mit Taube“, „Helm und Taube“ „Arbeitermutter“, „Hommage a Victor Jara“, Porträtskulpturen von Persönlichkeiten wie Robert Schumann, Ernst Busch, Fritz Cremer, alte Leute, Liebespaare, Müttergestalten... Für seinen Grabstein wählte er die friedvollste Symbolik, die ich mir vorstellen kann: einen von ihm geschaffenen Baum mit nistenden Vögeln.

„Das Ideal der Menschen aller Völker, aller Rassen in ihrer übergroßen Mehrheit – ist es nicht die Sehnsucht nach einem ungefährdeten Leben, die Sehnsucht nach einem harmonischen Miteinander in Frieden?

Weil ich die Dinge so sehe, will ich, daß die Botschaft meiner Kunst die Wahrhaftigkeit ist. Ich glaube mit großer Sicherheit sagen zu können, daß die Kunst ihrem tiefsten Wesen nach Liebe ist. Liebe zum Menschen, zur Menschlichkeit. Sie ist auch dann und möglicherweise mehr noch, wenn sie mit ihren Mitteln unmenschliche Zustände offenbart, wenn sie an den Greueln unsrer Tage, mit denen andere Völker überzogen wurden und werden, nicht teilnahmslos vorübergeht.

So wird die Liebe zum Menschen in bestimmter Weise unvermeidbar streitbar.“ Theo Balden

Mir sehr nahe steht ein weiterer bildender Künstler – Otto Nagel.

Otto Nagel: Selbstporträt 1935

Dem Kommunisten Otto Nagel war von den Faschisten das Malen im Atelier untersagt. Das Gemälde ist eine Kampfansage.

Otto Nagels Kunst geht mir tief unter die Haut, er ist ein bedeutender Arbeitermaler, der der bürgerlichen bildnerischen Kunst entscheidende, ehrliche Werke entgegensetzte. So einen kleinen Stich ins Herz versetzen zu können durch wahrhafte, ungeschönte Bilder, die den Betrachter zum Nachdenken bringen, das schafft er mit seinen Gemälden, und so möchte ich wirken mit der Fotokamera.

Otto Nagel, geb. 1894 in Berlin Wedding, ist der Sohn eines Tischlers. Er lernte Glasmaler und arbeitete als Transportarbeiter. 1912 trat er der USPD bei. Als Kriegsdienstverweigerer saß er im 1. Weltkrieg eine Haftstrafe ab. 1920 wurde er KPD-Mitglied, 1922 gründete er mit Erwin Piscator die Internationale Arbeiterhilfe.

Seit 1928 gab Nagel mit Heinrich Zille die satirische Zeitschrift „Eulenspiegel“ heraus, und 1933 wurde er zum Vorsitzenden des Reichsverbandes der Bildenden Künstler gewählt.

Einen Tag später kam er für Monate ins Konzentrationslager Sachsenhausen. Viele seiner Bilder vernichteten die Nazis als entartet so wie diese Gemälde: „Arbeiterbrautpaar“ von 1929

Otto Nagel: „Arbeiterbrautpaar“ 1929

Im Bildnis des Arbeiterbrautpaars betont Otto Nagel die Gemeinsamkeit des Paar, ihre moralische Stärke durch die soziale Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse.

Das Bild seiner Mutter im Altersheim entstand 1925.

Otto Nagel: „Meine Mutter im Altersheim“ 1925

„Das Bild meiner Mutter malte ich auch nach der Natur in dem Altersheim in der Palisadenstraße... Es war ein Milieu, das mich bei jedem Besuch außerordentlich bedrückte.“ Otto Nagel

Ihm war es als Sohn wichtig, die Mutter zwar voller Liebe und Achtung zu malen, doch anklagend und schonungslos das soziale Umfeld der ausgemusterten Proletarierin zu zeigen. Zu den Freunden Otto Nagels gehörten Heinrich Zille und Käthe Kollwitz.

Nach dem Krieg lebte er in der DDR und war er bis 1955 Präsident des Verbandes Bildender Künstler. Otto Nagel starb 1967. Sein Grab findet man in Berlin-Friedrichsfelde.

Ab 1973 informierte eine Ausstellung über Leben, Wirken, Werk und Zeit des Malers Otto Nagel, im Otto-Nagel-Haus (auf der Berliner Fischer-Insel, Märkisches Ufer 16 und 18). Sie wurde nach 1990 aufgelöst und die Bilder in den Bestand der Nationalgalerie übernommen.

Zwei Namen seien genannt, die mir bei meiner Entscheidung halfen, das Fotografieren zum Beruf zu machen.

Von meinem Vater Siegfried Kühnast erhielt ich erste Ratschläge in der Fotografie und eine Altix. Sein Urteil bei meinen ersten Aufnahmen war mir wichtig. Er riet mir auch, in einem Fotozirkel des Kulturbundes zu wirken.

Als Neulehrer hatte er in Luckau 1952 den Auftrag übernommen, das Gymnasium zu leiten. Er beschäftigte sich tiefgehend mit dem Schaffen Karl Liebknechts und bemühte sich gemeinsam mit allen Lehrern und Schülern darum, daß diese Schule später den Namen des Antimilitaristen 'Karl Liebknecht' erhielt. Das Foto zeigt ihn in Luckau beim Ostermarsch 2001 neben meinem Sohn Michael. In meinem Vater hatte ich bis zu seinem Tod 2004 einen freundschaftlichen Berater und Kritiker.

Mein Vater (r.) und mein großer Sohn (l.)

Foto: Gabriele Senft

Als ich schon ernsthaft vorhatte, das Fotografieren zu meinem Beruf zu wählen, bestärkte mich, was ich über die Fotografin Sybille Bergemann im 'Sonntag', einer kulturpolitischen Wochenzeitschrift der DDR, las:

Zeitungsausschnitt aus dem „Sonntag“

„Daß Fotografen still sein können, schüchtern und unauffällig, widerspricht der landläufigen Vorstellung (Wie es landläufige Vorstellungen gibt von Künstlern, von Bauern, von Diplomaten.) ... Die Fotografin Sybille Bergemann ist winzig und schmächtig... In der ersten Zeit bin ich manchmal zurück nach Hause gegangen, sobald die erste Bemerkung fiel. Inzwischen ist mir die Fotografie so wichtig, daß, wenn ich mit ihr umgehe, alles andere unwichtig wird ... Selbstüberwindung um der Selbstverwirklichung willen.“

An Sybille Bergemanns Fotos gefiel mir, wie einfühlsam sie Menschen beobachtete, und ich fühlte mich ihr verwandt.

Besonders ihre Beobachtungen beim „Festival des Politischen Liedes“ prägten sich ein, das wollte ich auch versuchen und später gelang es mir tatsächlich, mich fotografisch auf diesem Gebiet zu betätigen. Beim jährlich im Februar stattfindenden Festival, wo Sänger von allen Kontinenten in Berlin zu Gast weilten, konnte ich mehrere meiner Leidenschaften unter einen Hut bringen, gleichgesinnten, musischen und weltoffenen Menschen zu begegnen, sie fotografisch zu begleiten, mit ihnen zu singen und zu diskutieren. Diese Festivalwochen gehören zu meinen schönsten Erinnerungen im DDR-Alltag.

Eva Kemlein 2001

Foto: Gabriele Senft

Unbedingt nennen möchte ich meine Kollegin und ich kann mit Stolz sagen, auch meine Freundin, die Fotografin Eva Kemlein. Sie starb 2004 kurz nach ihrem 95. Geburtstag.

Ich lernte sie kennen, als ich für die Nachrichtenagentur ADN als Theaterfotografin eingesetzt wurde. Noch hochbetagt nahm sie an allen Ostberliner Theatern die Fotoproben wahr, um eindrucksvolle Szenenfotos und Künstlerporträts an die „Berliner Zeitung“ zu liefern.

Vor dem Krieg gab es bereits Fotoreportagen für Zeitungen u.a. aus Griechenland. Eva Kemlein hat als Kind jüdischer Eltern den Faschismus mit Hilfe von Freunden im Untergrund Berlins überlebt. Ab 1945 arbeitete sie bei der Bildagentur „Illus-Bilderdienst“ und dann bei der „Berliner Zeitung“. Und sie wurde beauftragt, vor dem Abriß das Berliner Stadtschloß i allen Details zu fotografieren. Dennoch hat sich Eva Kemlein bei der Diskussion um dessen Wiederaufbau eindeutig gegen das Wiederentstehen eines Schlosses positioniert.

Sie blieb hellwach und neugierig. So saß sie zum Beispiel einen Tag lang am Fernseher, um die Anziehungskraft der Love Parade auf die Jugend zu begreifen. Sie wohnte bis 2004 in der Wilmersdorfer Künstlerkolonie. Zu ihren Nachbarn und Freunden gehörte Ernst Busch.

Eva Kemlein war die erste Kritikerin meiner Buchdokumentation „Die Brücke von Varvarin“.

Einem bin ich besonders dankbar, dem Pressefotografen Horst Sturm, bei dem ich 1970/71 vor dem Journalistikstudium an der Karl-Marx-Universität Leipzig als Volontärin ausgebildet wurde und der mir nach der Rückkehr zu ADN noch oft den Rücken stärkte. Das Foto wurde aufgenommen in der Fotogalerie am Helsingforther Platz, bei der Eröffnung einer Fotoausstellung anläßlich seines 65. Geburtstag. Das war am 13. Mai 1988.

Horst Sturm und ich an seinem 65. Geburtstag

Foto: Andreas Kämper

Er ist aber noch ganz und gar nicht historisch zu nennen und um mich auf diesen Beitrag vorzubereiten, habe ich ihn in seinem neuen Zuhause im Berliner Grunewald besucht, von wo er mit der Kamera loszieht oder seine Fotos bearbeitet und archiviert. Er hat fotografisch festgehalten, wie Otto Nagel 1947 in Berlin Prenzlauer Berg die Käthe Kollwitz-Straße benannte.

Otto Nagel auf der Leiter, 1947

Foto: Horst Sturm

Es gibt Fotos von Horst Sturm, die mir immer gegenwärtig sind. Ich betrachte sie wie ein Handwerkzeug für mich. Davon möchte ich euch einige vorstellen. Das ist zum Beispiel ein geschichtlich bedeutsames Dokument, das ihm gelungen ist, weil er Geistesgegenwart und Courage bewies und so den Film retten konnte. Nachdem er ein einziges mal den Auslöser betätigt hatte, wurde Horst Sturm nämlich ebenfalls verhaftet. Den Film versteckte er in seinem Klappbrot vor der Polizei. Nachdem er eine Nacht in der Westberliner Haftanstalt verbracht hatte - das Brot hatte man ihm gelassen - erblickte das Foto bei der Nachrichtenagentur ADN das Licht der Öffentlichkeit: Robert Havemann hatte 1950 in Westberlin Unterschriften für den Stockholmer Appell gegen die Atombombe gesammelt: “Ich werde verhaftet, weil ich für den Frieden bin.“ hatte er Horst Sturm zugerufen, als der ihn aus der U-Bahn am Hermann Platz kommend fotografierte, da hatten sie auch ihn mitgenommen.

Robert Havemann 1950

Foto: Horst Sturm

Ein weiteres Foto hab ich oft vor Augen. Es hilft mir, bei Geschehnissen, die nach einem Protokoll ablaufen, mich auf über den Tag hinaus wesentliche Details zu konzentrieren und mir ein eigenes Urteil über meine Fotos zu erarbeiten und zu bewahren. 1967 war Horst Sturm von der Nachrichtenagentur geschickt worden, den bekannten Schriftsteller und Mitglied des Weltfriedensrates Arnold Zweig an seinem 80.Geburtstag zu fotografieren. Doch das entstandene Porträt wurde verworfen. Das Gesicht mit den dicken Brillengläsern sei zu groß aufgefaßt, keine Gratulanten zu sehen, nein, diese Abbildung entsprach nicht dem gängigen Protokollfoto von ADN.

Horst Sturm sandte das Foto dennoch zu einer internationalen Fotoausstellung in Moskau und wurde dafür mit einer von 5 Goldmedaillen geehrt.

Arnold Zweig an seinem 80. Geburtstag

Foto: Horst Sturm

Ebenfalls nicht nur auf das tagespolitische Geschehen konzentrierte sich Horst Sturm bei dem folgenden Foto und es ist ihm dadurch ein wichtiges Zeitdokument gelungen. Völlig belanglos ist inzwischen, daß die 1965 im Spalier Wartenden den Staatsgast Chruschtschow begrüßen werden in der Berliner Schönhauser Allee, dagegen von bleibendem Wert sind die Kohlenmänner, die Art und Weise des Briketttransportes zu jener Zeit und daß die Fuhre noch durch die abgesperrten Straßen gelassen wurde.

Kohlenmänner, Berlin Schönhauser Allee, 1965

Foto: Horst Sturm

Lebensfreude strahlt das Foto von einer Reise in die Sowjetunion aus, trotz, nein eigentlich gerade wegen der Zahnlücken des Geigers.

„Nimm die Geige, Vater!“ 1972

Foto: Horst Sturm

Kollegen bei ADN befürchteten, es könnte bei dem Foto jemand denken, es gäbe nicht genügend gute Zahnärzte in der UdSSR.

Zu meinen mir als Vorbild dienenden „gespeicherten“ Momenten gehören die Abbildung einer klugen jungen Frau bei einer Demo gegen das Berufsverbot in den 70er Jahren und ein mich anrührendes stilles Porträt von Anna Seghers an ihrem 75. Geburtstag.

Berufsverbot in der BRD 1975

Foto: Horst Sturm

Porträt Anna Seghers an ihrem 75. Geburtstag

Foto: Horst Sturm

Horst Sturm möchte nicht Künstler genannt werden. Wenn der festgehaltene Moment sich aber einprägt und gut erfaßt eine beabsichtigte Wirkung erzielt, habe das Produkt dann was mit Kunst zu tun, gibt er zu.

Um lebensnah die Stimmung widergeben zu können, riet er, das Blitzlicht nur im Notfall einzusetzen.

Bei der anfänglichen Agenturarbeit fiel mir das zunächst schwer. Doch bei einem Fototermin bei der Sprechstunde eines Kinderarztes wurde ich prompt mit einem stimmungsvollen Ergebnis belohnt, als ich mich an seinen Ratschlag hielt. Das Foto gehört darum zu meinen ersten von mir als gelungen gewerteten Alltagsfotos aus dem DDR-Leben der 70er Jahre.

Mütterberatung, 1975

Foto: Gabriele Senft

Wichtig beim Charakterisieren eines Menschen ist es, die Hände einzubeziehen. Das bestätigen die Fotos von Horst Sturm immer wieder.

„Schützende Hände“, auch bei Theo Balden oft thematisiert, nannte er eine Situation, die er in der Mongolei festhielt. Die Großmutter wollte unwillkürlich ihren Enkel schützen, als der Fotograf das Objektiv mit langer Brennweite auf ihn richtete. Hände unterstützen die Absicht des agierenden Menschen.

Schützende Hände, Mongolei 1975

Foto: Horst Sturm

Als ich 1991 nach Beginn des 1. Golfkrieges in Berlin zu einer Demonstration der Schüler gegen den Krieg fuhr, sah ich in der Straßenbahn dieses sich an die Mutter schmiegende Kind in seinem Vertrauen, daß ihn die Mutter schützt. Ich freute mich, daß es auch bei der „jW“ als Foto für einen Beitrag gegen den Krieg verwandt wurde.

Mutter und schlafendes Kind, Berlin 1991

Foto: Gabriele Senft

Meine Arbeit bei der Nachrichtenagentur ADN beendete ich mit Beginn des Oktober 1990.

Das geschah zwar nicht aus freiem Willen, doch ich ging nicht ungern, denn die Nachrichtenagentur bediente nun bundesdeutsche Medien und ich fühlte mich daher viel besser bei der tagespolitischen Zeitung „Junge Welt“ aufgehoben, wo ich weiter engagiert fotografieren konnte.

Eines verblüffte mich dennoch sehr. Den bundesdeutschen Fotojournalisten wird scheinbar keine Haltung zu ihrem Tun abverlangt, im Gegenteil, das Urteil über das Gesehene verdrängt man lieber. Es gibt Geld für Actionfotos, Schnelligkeit, technische Höchstleistung, wenn es vom Abnehmer akzeptiert wird. Der Kopf scheint nicht mehr gefragt. Die Bilderflut in den Illustrierten bringt den Betrachter nicht mehr zum Wesentlichen.

Während die DDR- Journalisten der schreibenden Zunft nach der sogenannten Wende eine Auszeit nehmen mußten, wenn sie davor bei sozialistischen Medien erfolgreich schrieben, wurden die Fotojournalisten sofort selbst bei der Bildzeitung gern übernommen.

Zunächst bei der „Jungen Welt“ und danach als freischaffende Fotojournalistin verstand ich meinen Fotoauftrag darin, soziale Entwicklungen parteilich zu begleiten. Ich wollte Momente fotografisch festhalten und damit vermittelnd wirken, um linke soziale Bewegungen zu stärken.

Ein Fotobeispiel von 1991 ist dieser Moment der Empörung der an der US-Botschaft ausharrenden Friedensaktivisten, als sie in der Nacht vom 16. zum 17. Januar im Autoradio die Nachricht von den ersten Bombenangriffen auf Bagdad vernehmen.

Friedensaktivisten vor der US Botschaft, Berlin, Januar 1991

Foto: Gabriele Senft

Für die „Junge Welt“ fuhr ich auch nach Mölln, um zu erkunden, wie die Menschen miteinander leben nach dem schrecklichen Brandanschlag- hier ein Blick in die Straße, an deren Ende die Brandruine beseitigt wird.

Mölln, Juni 1993

Foto: Gabriele Senft

Das nächste Foto zeigt eine Begegnung beim Weltfrauenmarsch in Brüssel.

Begegnung Weltfrauenmarsch, Brüssel 2005

Foto: Gabriele Senft

1996 bis 1998 war mein fotografischer Schwerpunkt „Die Erfurter Bewegung“, ein Zusammenschluß vieler engagierter linker Persönlichkeiten aus Gewerkschaften, der Wissenschaft, der Friedensbewegung, von Christen. Sie hatten Massen mobilisieren können unter dem Motto: „Aufstehen für eine andere Politik“ und „Kohl muß weg!“, jedoch als Helmut Kohl der SPD-Regierung Platz gemacht hatte, da setzte diese seine Politik nicht nur fort, sondern leitete eine gefährliche militärische Aufrüstungsphase ein. 1999 beteiligte sich Deutschland nach 1945 erstmals wieder an einem Angriffskrieg. Deutsche Soldaten halfen, Jugoslawien zu bombardieren.

Im Mai1999 kam es darum zu dieser Aktion der Friedensbewegung am Brandenburger Tor.

Aktion am Brandenburger Tor, Mai 1999

Foto: Gabriele Senft

Seit Beginn des NATO-Angriffkrieges brachte ich meine fotografischen Fähigkeiten vorrangig für die Friedenbewegung ein. So fuhr ich als Fotografin, aber auch als Mutter zweier Söhne mit dem Friedenkonvoi der „Mütter gegen den Krieg“ nach Belgrad. Die Erfurterin Ilona Rothe ist die Initiatorin dieser wichtigen Frauenbewegung.

Ilona Rothe am 24. April vor der Einreise nach Serbien

Foto: Gabriele Senft

Wir begegneten auf dieser Reise der alten Frau in Subotica, deren Wohnhaus kurz zuvor zerstört worden war. Sie irrte auf dem verwüsteten Grundstück umher.

Frau in Subotica, 24. April 1999

Foto: Gabriele Senft

Das Entsetzen der deutschen Expertendelegation, die Zerstörungen in den Autowerken von „ZASTAVA“ besichtigten, um ein Tribunal über die NATO Kriegverbrechen in Jugoslawien vorzubereiten, hielt ich im Juli 1999 in Kragujevac fest.

Deutsche im ZASTAVA-Werk Kragujevac, Juli 1999

Foto: Gabriele Senft

Im April 2001 entschied ich mich, einen Anwalt nach Varvarin zu begleiten. Ich wußte, daß diese Begegnungen mit NATO Kriegsopfern mich verändern würden und daß ich, wenn ich mich in Zukunft durch Fotos für ihr Anliegen einsetzen werde, mich damit gegen herrschende BRD Politiker positioniere. Meine Arbeit werte ich als ein Beitrag für ein friedliches Deutschland. Hier sind Porträts der NATO Kriegsopfer aus der Ausstellung, die seit dem 26.10.2007 noch einmal in Erfurt zu sehen ist.

Gordana Stankovic,
Witwe des Ermordeten Vojkan Stankovic

Foto: Gabriele Senft

Der schwer verletzte Bozidar Dimitrijevic

Foto: Gabriele Senft

Vesna Milenkovic,
Mutter der 15 jährig getöteten Sanja

Foto: Gabriele Senft

Marijana Stojanovic,
Freundin der ermordeten Sanja

Foto: Gabriele Senft

Marijana Stojanovic,
Freundin der ermordeten Sanja

Foto: Gabriele Senft

Als ich am Grab eines Varvariner NATO-Kriegsopfers dessen Enkelsohn fotografierte, hatte ich die Aufnahme von Horst Sturm aus Beirut vor Augen.

Enkelsohn am Grab des ermordeten Großvaters, 2004

Foto: Gabriele Senft

Am Grab des Vaters, Beirut 1980

Foto: Horst Sturm

Die Varvariner Porträts konnten durch Ausstellung und eine Dokumentation in Buchform wirken, ich wurde oft angesprochen, daß es sehr wichtig sei, den Opfern ins Gesicht sehen zu können. Das ermutigte mich, im Friedensbemühen mit meinen Bildern Gesichter des Irak zu zeigen, mit Fotos Nähe zu schaffen und damit die Solidarität mit dem irakischen Volk zu stärken. Ein paar Ergebnisse dieser Reise: eine Mutter mit ihren Kindern, der Vater und sein Sohn auf dem Buchmarkt in der Al Mutanabi Straße. Vor dem Krieg konnten die Einwohner jeden Freitag hier nach neuem Lesestoff suchen, auch Schul- und Lehrbücher waren zu finden.

Alltag im Zentrum von Bagdad, Januar 2003

Foto: Gabriele Senft

Vater und Sohn auf dem Buchmarkt in der Al Mutanabi Straße, Bagdad, Januar 2003

Foto: Gabriele Senft

Alter im Zentrum Bagdads, Januar 2003

Foto: Gabriele Senft

Im Krankenhaus, Leukämieabteilung, das Mädchen Arua, Januar 2003

Foto: Gabriele Senft

Der lebenserfahrene alte Mann sah mir ruhig in die Kamera und nickte mir zu. Das 6jährige an Leukämie schwer erkrankte Mädchen hatte kein Lächeln mehr, auch nicht, als es von uns einen Teddy geschenkt bekam.

Die Fotos aus dem Irak wurden genutzt zu Beiträgen in Printmedien, im Internet und bei Demonstrationen wie auf dem Foto bei einer Mahnwache der PDS.

PDS mit Fotos von mir vor der US-Botschaft, Berlin-Mitte, April 2003

Foto: Burkhard Lange

IPPNW verwendete eines der Fotos für ein Plakat gegen den Irakkrieg. Leider haben die gewaltigen Anstrengungen der Friedensbewegung den Krieg und die andauernden verheerenden Folgen für das irakische Volk nicht verhindern können.

Mein Platz bleibt an der Seite derjenigen, die sich dafür einsetzen, eine Welt ohne Kriege zu ermöglichen.

Auch in Kuba bei einer Reise 2006 habe ich Alltagsfotos erarbeitet von vielen stolzen und lebensfrohen Menschen. In einer Ausstellung konnte ich diese Momente schon an mehreren Orten zeigen und damit meine Solidarität mit diesem wundervollen Land voller Hoffnung zeigen.

In der Altstadt von Havanna, Februar 2006

Foto: Gabriele Senft

Ramona Hernandez Acosta, Pinar del Rio, März 2006

Foto: Gabriele Senft

Ich empfand es auch als Glück, zu Ostern dieses Jahres den Schriftsteller Peter Handke in den Kosovo begleiten zu dürfen.

Peter Handke am Ostersonntag 2007 bei der Preisübergabe in Velika Hoca (hinter ihm l. Schauspieler Rolf Becker, 2.v.r. Schriftsteller Kurt Köpruner, r. Bürgermeister der Gemeinde Velika Hoca Dejan Baljoshevic)

Foto: Gabriele Senft

Peter Handke übergab den Dorfbewohnern von Velika Hoca 50 000 €, das Geld war eine Ehrung für ihn, ein alternativer Heinrich- Heine-Preis. Die Initiatoren dieses einmaligen Preises, Käthe Reichel, Eckart Spoo und Rolf Becker haben unzählige Menschen mobilisieren können, sich mit Peter Handke zu solidarisieren und ihm Tribut für seinen Gerechtigkeitssinn und Zivilcourage zu zollen.

Den Düsseldorfer Heinrich Heine Preis, der ebenfalls mit 50 000 € der Stadt dotiert ist, schlug er aus, nachdem Politiker der unabhängigen Jury nahe legen wollten, ihm den Preis wegen seiner „Serbenfreundlichkeit“ nicht zu übergeben.

Die nun für ihn sammelten, wußten, er würde das Geld nicht für sich behalten.

Auf dieser Kosovoreise entstand auch das Porträt der Albanerin Shukrije Abramovic. Sie floh aus ihrer Heimat, weil sie sich nicht gegen ihre serbischen Nachbarn hetzen lassen wollte. Nach 17 Jahren in Deutschland wurde sie nun mit ihren zwei Kindern ausgewiesen. Sie kann aus dem Asylheim in Kosovska Mitrovica nicht in ihren nahe gelegenen, von Albanern kontrollierten Ort zurück.

Shukrije Abramovic, die 17 Jahre in Deutschland lebte

Foto: Gabriele Senft

Diese und die weitere Begegnungen im Kosovo waren in diesem Jahr meine eindringlichsten Eindrücke, auch mit der Fotokamera. Ein Ergebnis der Reise, das mich stolz sein läßt, ist, daß es zum ersten Mal ein Heft des „Ossietzky“ mit Illustriationen gibt, Fotos von dieser Reise.

Vor wenigen Tagen gab mir Klaus Höpcke, in der DDR stellvertretender Minister für Kultur und später Abgeordneter der PDS im Thüringer Landtag aus Anlaß der Varvarinausstellung in Erfurt einen Redebeitrag. Den hatte er im Mai 1999 auf dem Erfurter Fischmarkt bei einer Mahnwache gegen den Angriffskrieg gegen Jugoslawien gehalten.

Das Heft, in dem mehrere seiner Reden abgedruckt sind, heißt: “Meinung verpflichtet!“, abgewandelt von dem Wort: „Adel verpflichtet!“ Er schreibt dazu: „Wer sich zu dem, was er selbst erkannt hat, zu stehen nicht den Mut aufbringt, weil die Erkenntnis, die er gewann, einer allgemeinen Stimmung widerspricht,… beschädigt nicht zuletzt seine Persönlichkeit, denn er belastet sein Gewissen.“ Klaus Höpcke

Dem möchte ich hinzufügen, daß es mir nicht nur eine Pflicht ist, zu meiner Meinung zu stehen, sondern mir in hohem Maße Vergnügen bereitet, ich bin froh, daß ich dieses mit unzähligen historischen Persönlichkeiten und vielen Freunden teile.






Dokumentation weiterer Vorträge der Veranstaltung 80 Jahre Arbeiterfotografie und Infos zu den Ausstellungen auf der Seite www.arbeiterfotografie.com