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Jörg Boström

 

"Das Auge"

und die Arbeiterfotografie in Deutschland

Augenblicke - auf ein Beispiel von parteilichem Fotojournalismus in Deutschland

 

Das Wort Journalismus zielt auf den Bericht - in einem Journal, einem Tageblatt, Zeit-ung. Die Zeit führt Regie. In die Zeit verwickelt sind auch die Fotografen, oft eingewickelt wie in Zeitungspapier. Ihre Blicke sind mitgesteuert durch das Medium, in dem und für das sie arbeiten. Auch wenn sie persönliche geistige Arbeit leisten sind sie unterworfen dem Geist ihrer Zeit, dem immer zweifelhaften, dem Zeitgeist. Insofern sind ihre Fotografien und Reportagen neben ihrem eigenen Ausdruck auch Ausdruck ihrer Zeit. Wieweit wird umgekehrt die Zeit geprägt durch ihre Zeitbilder?

Die ästhetische Dimension des Fotojournalismus ist so eng an die technische und politische Entwicklung gekoppelt, unter anderem weil er vom ersten Augenblick an als Ware, als Massenartikel auftritt. Dabei ist die Fotografie wie auch in ihren anderen Arbeitsfeldern wie Porträt-, Landschaft-, Stillleben- und Genrefotografie vorgeformt von ästhetischen Mustern aus der Malerei und Grafik. Die Arbeiterfotografie trat ihren Weg an als parteiliche Fotografie der Dokumentation, des Angriffs und der Verteidigung gegen den Feind. So hat einmal Picasso die Funktion der Kunst definiert. Sie sei nicht erfunden, die Wände zu schmücken. Damit ist, auch wenn viele es nicht wahrhaben wollen und die Kunst in der Tradition der 68 als bürgerliche Nische sehen, Kunst. Wir werden später sehen am Beispiel Walter Ballhause, dass dies auch im Einzelnen so gesehen und gemeint ist.

Nun ein kurzer Rückblick zum Geburtstag einer nun 80jährigen Dame.

Der Bildjournalismus begann mit grafischen Darstellungen im 19 Jahrhundert noch vor dem Einsatz der Fotografie.

Mit der Jahrhundertwende dann verdrängen Fotografien in der Berliner Illistrirten Zeitung, der BIZ, allmählich die Zeichnung, aber noch 1909 inseriert das Blatt unter einem aufwändigen Inserat " nach dem Leben von unserem an die Reviera entsandten Zeichner F.Kupka": "Illustratoren gesucht! Nicht Karikaturisten, nicht Romantiker, sondern Schilderer des modernen Lebens ... Höchste Honorare für gute Künstler". Noch der erste Weltkrieg wird journalistisch eröffnet mit der Titelzeichnung Säbel schwingend vorwärts stürmender deutscher Soldaten von Fritz Koch-Gotha. Einziger Bildtext: "Drauf !"

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Ein solch dynamisches, alle Illusionen eines offenbar die Masse der Leser begeisterndes Ereignis darstellendes Foto stand nicht zur Verfügung. Die Soldaten waren noch nicht gestürmt, sie wären bei den langen Belichtungszeiten bereits auf dem Negativ verwest.

Es sind später statische Fotos von Amateuren, zerfetzte Körper und Gesichter, die später der Pazifist Ernst Friedrich in seinem Antikriegsmuseum mahnend zur Schau stellt, welche den tatsächlichen Zustand des Kriegsgeschehens erschreckend und zutreffend schildern. Auch für die deutschen Fotografen im Schützengraben galt das Gebot des Englischen Königs :"No dead bodies!"

Im zweiten Weltkrieg wird die fotografierende Propagandakompanie in diesem Wahngeist weiter arbeiten. Die Fotografie im journalistischen Bereich ist von Anbeginn eine von Interessen gelenkte Darstellung einer gefärbten Realität.

Ich will sicher den Geist einer Massenzeitung nicht trennen vom Geist oder Ungeist der Massen, um die sie am Kiosk Woche für Woche wirbt. Die Kunden allerdings sind damals und heute nicht die „Massen“, sondern das gebildete Bürgertum, der deutsche Mittelstand. Die Auflage der Berliner Zeitung kletterte inzwischen an die 2 Millionengrenze heran.

Die neuen Regierenden nach Gründung der Weimarer Republik erschienen auf dem Titel vom 24.8.1919 in Schlabber Badehosen um untrainierte Schlabber Körper, vor ihnen aufgetaucht der Kopf eines "Neptun", der eine Mistgabel als Dreizack hoch reckt, ein Ulkbild. Nun ist die Entzauberung der Mächtigen sicher eine demokratische, antiautoritäre Methode, aber sie war nicht so gemeint und wurde in dieser Zeit auch nicht so verstanden. Die neue Republik wurde verulkt.

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Wie erschien im Vergleich dazu der damals noch ziemlich unbedeutende Herr Hitler? Bei einer "Ansprache an seine Leute nach einer Feldmäßigen Übung in der Umgebung von München" stand er als Silhouette in leichter Untersicht auf einem Feldherrenhügel fromm wie ein Jesus bei der Bergpredigt, hinter ihm in gemessenem Abstand ein SA Mann mit deutlich sichtbarer Hakenkreuz binde - Photo Kester, Datum 1.11.1923.

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Am 25.11.1923 wurde über die Novemberstürme berichtet. Die Komposition der Seite mit freigestelltem Hitler- es ist vom Bildgestus her bereits ein Führerbild - von Heinrich Hoffmann, links oben die Seite und im Wunschbild wohl nicht nur sie beherrschend mit souverän über der Brust gekreuzten Armen in Herrscherpose der BIZ Leser fixierend, kein in Kreise ausgeschnitten recht oben in Reihe Der neue Reichsminister des Inneren Dr. Jarres und neben ihm der neue Reichskommissar Bankdirektor Dr. Hjalmar Schacht, der später auch für den "Führer" die Bank halten wird. Vier umrandete teilweise überlappende Fotos zeigen die bewaffneten Angehörigen der Hitlerverbände, die Ansprache eines Hitleranhängers vor unübersehbaren Massen in München und eine Abteilung des Bundes "Reichskriegsflagge", welche gegen die Reichswehr den Zugang zum Kriegsministerium besetzt hält. Ergänzt wird diese nationalistische Propagandaseite durch die "Aufnahme des früheren Kronprinzen mit seiner Gattin nach der Ankunft in Oels" - die rechte Ordnung und ein dazu passender Kaiser kommen wieder, bald, bald, das ist die unmissverständliche Botschaft dieser Seite. Bei dieser Bildgestaltung ist es fast nebensächlich, was an einzelnen Kommentierungen im Begleittext steht. Es handelt sich eben um eine Illustrierte Zeitung und diese spricht mit Bildern. Sie hatte inzwischen zusätzlich zur Aussage der Einzelbilder, aus welchen die Berichte noch immer bestehen, die Montage der Seite, das Layout entdeckt und wie man mit Zuordnung Anschnitt, Bildgröße und Positionierung auf der Seite die Dramatik steigern, die Aussage zuspitzen, die Berichterstattung zur Meinungsformung umgestalten kann.

"Pressefotografie - Medium zwischen Aufklärung und Verdummung", überschreibt Walter Uka seine historische Darstellung dieser Entwicklung und zitiert Siegfried Kracauer: "In den Illustrierten sieht das Publikum die Welt, an deren Wahrnehmung es die Illustrierten hindern."

Ich erweitere das Zitat:" Die Einrichtung der Illustrierten in der Hand der herrschenden Gesellschaft ist eines der mächtigsten Streikmittel gegen die Erkenntnis. " Dies steht in seinem Essay "Das Ornament der Masse". 10 Jahre nach der beschriebenen Hitlerputsch Seite wird die Masse im nationalsozialistischen Ornament erscheinen und ihre Führer im Ornat.

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Eine neue Qualität der Reportage Fotografie bringt die "unsichtbare Kamera", die Fotografie des so genannten unbewachten Augenblicks, in der Welt der Politik, der Justiz und der bürgerlichen Gesellschaft ist es die Ermanox von Erich Salomon. In der Gesellschaft der Ausgegrenzten, Arbeitslosen, Elenden und ihrer Kinder, der überflüssigen Menschen, wie der Titel seines späteren Buches lautet, ist es die geliehene Leica des Arbeitslosen Walter Ballhause und der Arbeiterfotografen, Erich Rinka, Ernst Thormann, Walter Nettelbeck und vieler anderer, welche ihre Bilder in der AIZ, der "Arbeiter Illustrirten Zeitung" wiederfinden. Die Parteilichkeit der Darstellung, der Texte und Montagen wird hier offen vorgetragen. Hinter der AIZ steht die KPD. Ihr Organisator ist Willi Münzenberg. Im Gegensatz zur verdeckten deutsch nationalen Parteilichkeit etwa der BIZ wird in der AIZ die Meinungsführung deutlich markiert.

Eine Fotografie ohne Stellungnahme, auch optisch, des jeweiligen Fotografen und Redakteurs ist ohnehin nicht möglich, sobald bewusste Gestaltung ins Spiel kommt.

Der Begriff Objektiv erstarrt so zum Mythos, der einer genaueren Betrachtung nicht standhält. Die Massenmedien, in welchen die Bilder des Fotojournalismus erscheinen, sind zu sehen auch als Spiegel einer massenhaften Meinung. Die Frage nach dem Foto als Dokument und Kommunikationsmittel kann diesen Zusammenhang verdeutlichen.

Kommunikation heißt die Fluchtlinie zwischen "Sender" und "Empfänger". Eine "neutrale", "objektive", vom Fotografen abzulösende Kommunikation kann es demnach nicht geben. Aus seiner Verantwortung, aus seiner Stellungnahme zum dargestellten Geschehen wird der Fotograf nicht zu entlassen sein, so wenig wie der Textautor, der schreibende Journalist. Beide möchten, das darf man unterstellen, die Wirklichkeit beschreiben, sie sind in ihrer Tendenz Realisten. Aber sie sind gefangen in ihrer Zeit und in ihrer Zeitschrift.

Bild prägend wird nun der Augenblick, der sich schon technisch zunächst aus der Notwendigkeit ergibt, Augenblicke relativen Stillstands oder der Bewegung an ihrem Höhe- und Wendepunkt zu fotografieren mit Belichtungszeiten von immerhin einer fünftel Sekunde in Innenräumen.

Bildgeschichten werden nun in der Kamera und auf der Zeitungsseite montiert aus Einzelbildern, deren Folge erst die Geschichte erzählt. Nun kann der Alltag, die wie immer aufgefasste Normalität eingehen in die Illustrierten, diese sind nicht mehr ausschließlich auf spektakuläre Höhepunkte in dramatisch gestalteten Bildkompositionen angewiesen.

Das dem Historienbild nach gestaltete Kollossalfoto tritt zurück zugunsten des fast in filmischem Ablauf wechselnder Einstellungen erzählte Geschehens. Entsprechend entwickelt sich eine Themenvielfalt, welche den gesamten Bereich des menschlichen Lebens zu umfassen scheint.

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Das moderne Prinzip der Reportage wurde auch in der "Arbeiter Illustrirte Zeitung - AIZ - bewusst weiterentwickelt.

Der Redakteur Edwin Hoernle etwa forderte:

Oft ist mit einzelnen Bildern nichts getan. Der Arbeiterfotograf muss Reporter werden! Er muss, wenn an seinem Arbeitsort etwas für die Allgemeinheit der Arbeiterschaft Interessantes geschieht, diesem Geschehnis nachgehen und in fünf, sechs Bildern einen Bericht seiner Erhebungen machen. Es muss dies durchaus kein politisches Ereignis sein, der Alltag steckt voll von Geschehnissen, die richtig gesehen und im rechten Augenblick fotografiert, oft mehr sagen und tiefer wirken als große Aktionen und Situationen der Kriminalistik, die für den Pressefotografen Anlass zur Fabrikation einer Sensation sind..."

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Franz Höllering wird Chefredakteur der AIZ.

Man kann schon vom Ansatz her die Arbeiterfotografie der zwanziger und dreißiger Jahre nicht als eine eingeschränkte journalistische Zweckfotografie einstufen, die lediglich dem Bildbedarf der Partei, in diesem Falle der KPD, oder der verschiedenen politischen Kampagnen und Zeitschriften genügt. Es geht von vornherein um die Gestaltung des Bildes der Welt aus der Sicht der Arbeiter und seiner Partei, wie sich die KPD verstand. Die damit angestrebte symbolhafte Darstellung will mehr als die Anfertigung von Beweisfoto oder Dokumenten.

Es wird eine Fotografie entwickelt, die nicht nur die Bildstruktur dynamisiert, sondern auch den Betrachter agitiert, zum Handeln provoziert, Empörung und Parteiname auslöst und zuletzt den gesellschaftlichen Prozess selbst vorantreibt. Es geht dieser Fotografie nicht um stabilisierende, wohl komponierte Wiederholungen des Bestehenden. Die fotografierten Zustände selbst sollen beseitigt werden. Das kann aber nicht mehr allein durch Fotografie geschehen, sondern durch Politik. Die Arbeiterfotografen beenden daher ihre Tätigkeit nicht im Fotolabor, sondern sie führen sie weiter in der politischen Organisation.

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In einem weiteren entscheidenden Punkt ist die Fotografie der Arbeiter etwas Neues, Erweiterndes im Vergleich zu den anderen Bereichen der darstellenden Reportage, die von individuellen Reportern geleistet werden: das ist ihre kollektive Organisation und entsprechend den Erfordernissen des Mediums ihre unmittelbare Anbindung an die aktuellen Klassenkämpfe, die in der Sprache der Technik „saugende Verbindung" mit der politischen und sozialen Wirklichkeit, wie sie in dieser Dichte nur der Fotografie möglich ist. Ich stelle zur Verdeutlichung Ausschnitte aus einer Ansprache von Willi Münzenberg vor.

Er entwirft ein Konzept für die Kollektivarbeit in den Gruppen.

ln der allgemeinen Mitgliederversammlung werden die Genossen in die entsprechenden Gruppen eingeteilt. Je vier, fünf Genossen bilden ein solches Arbeitskollektiv... Jedem Kollektiv werden von der Ortsgruppenleitung und der gesamten Mitgliedschaft besondere Aufgaben gestellt. Die jeweils tüchtigsten Genossen sollen mit der Führung eines Kollektivs betraut werden. Diese haben für die Schulung und Durchführung ihrer Gruppen zu sorgen."

Diese Arbeitsform entspricht der Industriearbeit und damit dem Erfahrungsbereich der Gruppenmitglieder. Deutlich ist auch an diesem Konzept, dass die individuelle Leistung nicht radikal demokratisch nivelliert wird. Gerade die „tüchtigsten Genossen" werden zur besonderen Verantwortung aufgerufen. Tatsächlich gehen aus der Zirkelarbeit eine Vielzahl von starken Fotografen hervor, die ihre Möglichkeit gerade in der Einbindung in die Organisation entwickeln können.

Viele bedeutende Arbeiterfotografen wie Ernst Thormann, Erich Rinka, Walter Ballhause, begannen ihre fotografische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit als Arbeitslose. Sie fotografierten mit den Situationen, die sie darstellten und an griffen, zugleich ihre eigene Lage. Es ist dies eine der Ursachen für die besondere Kraft und Qualität ihrer Bilder.

Die Arbeiterfotografen Bewegung konnte diese politische Reaktionsfähigkeit erreichen nicht zuletzt deshalb, weil es gelungen ist, in der Arbeiter Illustrierten Zeitung ein Massenblatt zu schaffen, das bei einem bestimmenden parteilichen und gestalterischen Konzept über eine stabile wirtschaftliche Grundlage verfügt, und dies auf dem damals entwickelten Stand der Typographie, des Journalismus und der Drucktechnik, dem derzeit aktuellsten Verfahren des Kupfertiefdruck.

Dieses Überspringen der Grenzen, das Ernst nehmen des neuen Mediums als Mittel der politischen Arbeit, der gestalteten Berichterstattung, der optischen Mitteilung, ermöglichte die besondere Zusammenarbeit von Schriftstellern, Fotografen, Monteuren, Grafikern, Malern, Journalisten und Dichtern, die diese Zeitung prägte.

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Willi Münzenberg stellte fest:

Die Bourgeoisie hat bereits vor 30 und 40 Jahren verstanden, dass das fotografische Bild eine ganz besondere Wirkung auf den Beschauer ausübt... Die Fotografie wirkt auf das Auge des Menschen, das Geschehene spiegelt sich im Kopfe wider, ohne dass der Mensch zu kompliziertem Denken gezwungen wird. Auf diese Weise kommt die Bourgeoisie der Trägheit breiter Volksschichten entgegen... Viel wichtiger ist die. . . politische Wirkung, die durch die Zusammenstellung mehrerer Bilder, durch die Unterschriften und Begleittexte erzielt wird. Auf diese Weise kann ein geschickter Redakteur jedes Foto in das Gegenteil verfälschen, kann er den politisch nicht geschulten Leser in jeder gewünschten Richtung beeinflussen."

Der Fotograf Tim Gidal wirft in seinem Buch „Beginn des modernen Bildjournalismus" der AIZ im einzelnen Textmanipulationen vor, weshalb er nach ersten Versuchen nicht mehr mit ihr zusammengearbeitet hat. Er muss sich aber im Rückblick sagen lassen, dass die AIZ im Gegensatz zur „Berliner" und „Münchner illustrierten" die historische Entwicklung zum Faschismus erkannte und konsequent bekämpfte, während die übrige Presse der Weimarer Republik fast übergangslos in wenigen Wochen gleich geschaltet werden konnte, dass also der „primitive Schlagworttext", der aus dem Repertoire der kommunistischen Parteisprache genommen ist, manche Dinge beim Namen nannte, während die geschicktere, anscheinend „objektive" Berichterstattung bürgerlicher Medien ebenso freundlich und „objektiv" über Herrn Hitler und Benito Mussollini berichtete, lange vor der Gleichschaltung.

Viele dieser intellektuellen, bürgerlichen Fotografen fallen der Verklammerung ihres Geschmacks zum Opfer, der Illusion einer unparteiischen Dokumentation.

Die neuen Ideen, die Experimente in der grafischen Gestaltung und die überraschenden Gegenüberstellungen auf den Titelseiten, die Gidal anspricht, belegen das, was Brecht und Benjamin vom Realismus fordern, „er sei auf Experiment und Belehrung" aus.

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.Erich Rinka: „Wenn Arbeiterfotografen über die Lage arbeitsloser Thüringer Industriearbeiter berichten z.B. B. gab es in dem Thüringischen Ort Fehrenbach 1931 von 297 Familien nur noch 39 mit eigenem Einkommen alle Übrigen lebten von Unterstützungen . Es fand sich unter ihren Fotos auch jenes von einem arbeitslosen Vater, der ein Brötchen als Leckerbissen für seine drei Kinder in drei Teile schneidet Ein scheinbar am Rande liegendes Detail, aber es verdeutlicht besser als viele Worte, was es hieß, wenn eine Familie von 9,- Mark Wohlfahrtsunterstützung wöchentlich leben musste."

Viele Mitglieder unserer Vereinigung lagen auf der Straße. Das hatte so unsinnig es klingen mag einen Vorzug: sie konnten auch werktags ohne weiteres fotografieren. "

Während die professionellen Reporter mit der Kamera auf Entdeckungsreise in den Alltag der Menschen gingen, fotografierten die Arbeiterfotografen aus der Perspektive von "unten", aus der Identifikation mit dem Dargestellten heraus. Eine Darstellung ihrer Wahrheit.

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Was ist nun fotografische Wahrheit? Macht diese Frage nach dem, was wir heute zu wissen meinen, überhaupt noch einen Sinn?

Fraglos bildet die Kamera noch immer und immer wieder ab, was vor sie gestellt ist.

In der Theorie des Realismus, welche als Widerspiegelungstheorie auch ihrer politischen Dimension wegen gelegentlich zur Erläuterung fotografischer Prozesse verwendet wird, gibt ein weiterer Gedanke über realistische Bilder als Form der Darstellung des Wünschbaren Anhaltspunkte auch über die Verwendung fotografischen Materials . Realität werde im realistischen Kunstwerk nicht einfach wider#gespiegelt, sondern zeige zugleich in einer Art Vision die Tendenz seiner weiteren Entwicklung. Zur Darstellung der Wirklichkeit in diesem Verständnis bedarf es eines Standpunkts. Dies ist in der Fotografie auch rein optisch zu begreifen, ist aber auch im symbolischen Sinne als Haltung, als geistiger Anspruch aufzufassen. Die Fotografen gestalten ihre Sicht der Verhältnisse auf der Grundlage persönlicher Einsichten und Wünsche. Wenn schon die Fotografie in ihrer Ausprägung ein Resultat der gesellschaftlichen Verhältnisse sein soll, so sind es um so mehr die Fotografen selbst. Zum Verständnis vorgelegter fotografischer Bilder gehört daher notwendig die Betrachtung des politischen Umfelds, welches die Bildautoren prägte.

Von Bildern im Bereich des Fotojournalismus war die Rede.

Wenn in der Frühzeit die Menschen Bilder benutzten, Bildstrategien entwickelten, um sich in der außer bildlichen Wirklichkeit zurechtzufinden, so gilt zur Zeit die angespannte Aufmerksamkeit der übermächtig gewordenen Bilderwelt selbst, die im Begriff zu sein scheint, den Blick auf Wirklichkeit endgültig zu ersetzen. Die Sprache der Bilder zu verstehen, ihre Magie zu durchlöchern, ihren Text zu entziffern und sie in die Schranken ihrer begrenzten Botschaften zu weisen, wäre eine Aufgabe der Medien selbst und eine politische Notwendigkeit, denn unsere Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens setzt Mündigkeit in der Bildung von Urteilen voraus. Es ist im Bereich der theoretischen Erörterung der Wirkung von Fotografien deutlicher als zuvor geworden, dass die Verwechslung von Gegenstand, Bild und Abbild, die unbewusste Gleichstellung von Fiktion und Realität in eine Kulturkrise führen muss. Walter Benjamin prägte in diesem Zusammenhang den Typus des "visuellen Analphabeten", des Menschen also, der den Text der Bilder nicht oder nicht mehr entziffern kann und wahnhaft die Schattenspiele der Medien mit der Wirklichkeit verwechselt. Wir müssen die Arbeit des Bildjournalisten und die Gestaltung der Massenmedien in einem Zusammenhang sehen und begreifen, da sie in der ästhetischen Praxis in permanenter wechselseitiger Abhängigkeit stehen, indem jeder Bereich den anderen für seine Zwecke ausbeutet, von ihm lernt, um es positiver zu formulieren. Für den Betrachter treten sie immer wieder in dieser für ihn in der Regel nicht erkennbaren Verwischung auf. Hier ist eine neue Spannung, ein kämpferisches Wechselspiel zu erkennen und als Strategie der eigenen Erkenntnis weiterzuentwickeln.

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Dies kennzeichnet bis heute und immer wieder auch den Aufgabenbereich der Arbeiterfotografie. Gegenbilder zu entwickeln zum Mainstream der Sehgewohnheiten und der Denkschablonen. Bilder zu gestalten aus Bereichen sozialer Schatten, welche sich im Medienmarkt nicht darstellen können. Bilder im Gegenwind. Alltag widerzuspiegeln jenseits der aktuellen Berichterstattung. Zu zeigen, wie sich das Leben behauptet auch in schwierigen Verhältnissen und immer wieder zusammenfügen den Widerspruch des Überflusses in unserer Gesellschaft und der sich stabilisierenden und dabei noch weiter ausbreitenden Armut. Unsere Gesellschaft eben als Abbild auch der globalen Entwicklung. Die alternative, gegenläufige, eigenständige Fotografie kann immer wieder neu Bilder gestalten, welche zum Denken, zum Einlenken und vielleicht im weiten Sinn zur politischen Wirkung führen im Sinne der Menschen, der arbeitenden und der arbeitslosen Bevölkerung.

Noch ein paar Sätze zur immer wieder gestellten Frage nach Aktualität der Arbeiterfotografie.So etwa durch die Historiker Diethart Kerbs und Walter Uka, welche ihr gegenwärtiges Verschwinden wiederholt konstatieren, wohl um nun zu einer abschließenden historischen Aufarbeitung zu gelangen.

Zitate:

"Da die körperliche Arbeit zu großen Teilen aus den ehemaligen Industrierevieren der kapitalistischen Länder verschwindet ( z. B. aus dem Ruhrgebiet), müssen die Fotografen sie jetzt dort suchen, wo sie noch sichtbar ist: in den Ländern der "Dritten Welt." rät Diethart Kerbs( S. 56) In Deutschland, besonders nach der Wende, hat man also lange nicht mehr Menschen körperlich arbeiten gesehen. Und auch die Arbeitslosen werden offenbar unsichtbar und nicht mehr zu fotograferen. Der Alltag der Menschen, die in "Prekariat" kürzlich ungetauft wurden, ist nun offenbar ganz unsichtbar geworden.

Walter Uka immerhin tröstet "Nach wie vor existiert die Webadresse "www.arbeiterfotografie.de". (S. 217)

Auch bei einem Treffen mit ehemaligen Studierenden, das wir in Berlin immer wieder einrichten, fragten mich zwei sehr aktive Bildjournalisten, was ich denn immer noch wolle in der Arbeiterfotografie und bei den Arbeiterfotografen. Das sei doch alles von gestern. Arbeiter gäbe es doch nicht mehr oder kaum noch. Und die damit verbundene Fotografie sein nun doch obsolet geworden. Ich fragte zurück, ob denn nur Politiker und Prominente aus Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft noch existierten für die Fotografie und dass doch wenigstens zum 1. Mai noch Arbeiter auf den Straßen zu finden und zu fotografieren seien und auch dann und nur dann, wenn sie streiken. Ja, das seien doch mehr Angestellte und/oder das nun so genannte Prekariat. Das Proletariat sei ja nun auch sprachlich abgeschafft. Aber was ist mit den Arbeitern passiert im Medienbetrieb?

Irgendwie richtig, der Einwand. Für einen Berufsfotografen ist die Bildpresse die Wirklichkeit und da kommt er nicht oder nur selten vor:der Alltag der arbeitenden Menschen, die man nun nicht mehr Arbeiter und Arbeiterinnen nennen soll.

Warum eigentlich nicht und warum sind sie in der Bildpresse so selten zu finden?

Bezahlt und gedruckt werden Bildberichte über Prominente. Ich weiß inzwischen, wie Angela Merkel aussieht und welchen Umfang ihre mimischen Variationen haben. Das selbe ist von Gerhard Schröder ausführlich überliefert. Die Themen, welche diese zu diesen mimischen Wechselspielen veranlassen, geraten kaum ins Bild. Schon gar nicht der tägliche Kampf um Ernährung und Erziehung, um schulische Gewalt und Langeweile, um das reale Leben der Menschen, die nur als Statistik in der Presse auftauchen. Arbeitslose in Prozenten. Beruftätige Frauen und Hausfrauen. Vielleicht wieder sitzend im Arbeitsamt. Da werden sie schon gelegentlich fotografiert. Vielleicht können wir und müssen wir auch immer wieder begreifen, dass es ein wirkliches Leben außerhalb der Bildpresse gibt und dass dieses wichtiger sein kann und ist als die offizielle Nachricht. Dass es die Bilder des täglichen Lebens sind, welche die Geschichte der Fotografie und die Geschichte der Menschen in ihrer Zeit stärker darstellen und im Gedächtnis festhalten als es die offizielle Bildpresse kann. Eine dieser realen und historischen Funktionen hatte die Fotografie der Arbeiter und hat sie heute noch und immer wieder. Die Arbeiterfotografen haben hier eins ihrer unerschöpflichen Themen im Blick quer zu dem offiziellen Medienbetrieb.Sie schaffen Bilder des Widerstands und des täglichen und realen Lebens.

Das zu versuchen, immer wieder, ist schon eine Laudatio wert.