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Aufbruch am Bahnhof Zoo in Berlin

Im Hotel in Jurmala

Fotoclub Riga in der Blaumann Straße

Jörg Boström

Fotografische Reise in die Sowjetunion mit Diethart Kerbs vom 18. bis 29.Mai 1988 durch Vilnius, Riga und Leningrad.

Wie kam es dazu? Vorgeschichte

Diethart Kerbs traf ich zuerst 1970.

Mehr als dreißig Jahre her ist der Anfang meiner ersten Begegnung mit ihm. Ich war damals Fachleiter für Kunsterziehung am Studienseminar in Duisburg. Ich wollte den Referendaren, die ich betreute, einen lebenden Didaktiker zeigen, ihnen, die sonst nur mit Texten gefüttert werden und verfiel auf den Berliner Diethart Kerbs. Eine gute Wahl. Gespräche unter schrägen Wänden, zwischen Büchern, hockend und stehend. Kunstdidaktik aus dem Leben gegriffen. Lehren macht Spaß. Wenn man es kann. Diethart Kerbs hatte einen Essay geschrieben über das Ritual und das Spiel, über die vom Ritual befreiende Kraft des Lachens, eine Provokation im Zeitalter auch des grimmig-ernsten Protestes. Man erwischt ihn auch man heute noch oft beim Lachen.

1972 organisierte Kerbs eine Ausstellung zur visuellen Kommunikation in Berlin. Unsere Düsseldorfer PSR Arbeit über Obdachlosigkeit setzt er dazu. „Sie untersuchen nicht nur visuelle Kommunikation, sie machen selbst welche.“ Meine Arbeit bis heute ist die Herstellung von Bildern und die Kommunikation damit. Fotografie,Malerei, auf Papier und im Netz, allein und im Team.

1983 gibt Kerbs ein Jahrbuch zur Ästhetischen Erziehung heraus gemeinsam mit Guido Boulboullé und Ottfried Scholz: „Ästhetik und Gewalt“. Er schreibt darin: „Der Bettlakenkrieg im Lande Wu“ - Transparente gegen den Reagan Besuch, ich liefere einen Text über „Ästhetik und Gewalt im journalistischen Bild“.

1985. Wir treffen uns wieder auf seine Einladung hin in einem seiner Seminare über Fotografie. Ich referiere über Fotoengagement mit Beispielen aus Projekten meiner Studenten. Eisenheim, Schalke, Sinti und Roma. Ein Dialog Berlin-Bielefeld, der sich weiterentwickelt.

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1988 bereitet Diethart Kerbs eine Exkursion in die Sowjetunion vor. Zielorte Vilnius, Riga, Leningrad. Eine Gruppe Bielefelder Fotostudenten ist beteiligt. Buch und Ausstellung gemeinsam mit litauischen, lettischen und russischen Fotografen sind die Folge.

Es hatte sich eine große Zahl Bielefelder Studenten der Fotografie für dieses Unternehmen angemeldet. Als Fotografen insbesondere im Bereich Bildjournalismus war ihnen die Sowjetunion, bisher nur aus Dokumenten und Medien bekannt, ein spannendes Thema. Nun der direkten Anschauung und dem fotografischen Zugriff zugänglich. Für mich war diese Reise schon aus persönlichen Gründen von großer Faszination. Bin so etwas wie ein Deutsch Russe. Vater geboren in Wladikavkas. Mutter der Mutter in Petersburg. Kindheitserinnerungen an Erzählungen von dort und damals. Verwandtenbesuche mit baltischem Singsang. „Rrrrigaa, warr doch schön. Wirr hatten doch alle unsere Dienstmädchen.“ Kein Foto von der Großtante Anna.

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Aber auf der Reise haben wir das Fotografieren selten unterbrochen. Diethart Kerbs fragte gelegentlich, warum wir das machten. Warum immer. Ob wir uns das alles gründlich genug vorher überlegt hätten. Wie ist das Konzept? Was ist der Plan? Besonders bei der überraschenden Demonstration in Vilnius, Litauen. Es ist Sonntag, 22.5.am Nachmittag. Die Menschen trugen Blumen, hielten sie vor die Gesichter zum Schutz vor der Kamera. Uniformierte standen am Rand in Reihe und sahen zu. Zunächst. Reden am Platz. Ein Student fotografierte Polizisten von allen Seiten auf der sorgfältigen Suche nach der eindrucksvollsten Perspektive. Bis er abgeführt wurde in ein Polizeiauto. Wir warteten besorgt bis er tapfer lächelnd wieder heraus kam. Nicht ihn, nur den Film hatten sie behalten. Eckhard Schönlau. Nach etwa einer Stunde wurden die Menschen vorsichtig aber bestimmt auseinander gedrängt. Es war ein historischer Moment der Wende in diesem Land. Der „Stern“ brachte später Bilder eines unserer Studenten. Schnell kann man so ein echter Sternfotograf werden. Auch der Stern schmückt sich hier mit einem Bielefelder Studenten. Er selbst war nicht am Platz in dieser historischen Wende. Warum fotografiert ihr das? Auch darum.

Fotografieren heißt hinsehen und festhalten. Die Bedeutung folgt später. Hier sofort. Oft je später desto besser. Für den Historiker sind Fotografien im Alter von 50 Jahren und mehr von größerer Bedeutung als das festgehaltene gerade Vorbei. Der Tod ist im Spiegel, sagt Jean Cocteau in seinem Film „Orphèe“. Er ist auch in der Fotografie. Die Kamera hat ihren Verschluss und Endschluss. Speichert. Ist optisches Gedächtnis. Gestaltet was man sieht. Was nicht fotografiert ist, verschwindet, verblasst. Ich stöbere in meinen Bildern, um die Reise mit Diethart Kerbs zu erinnern, ins Gedächtnis zurück zu rufen.

Mit der „Fotografischen Gesellschaft“ in Vilnius hatte Diethart Kerbs den Kontakt vorbereitet. Wir treffen uns mit den Fotografen in den Räumen des Verbandes, zeigen Fotografien, tauschen Erfahrungen aus. Laima Skeivene dolmetscht und moderiert. Der Vorsitzende Antanas Sutkus stellt sich für Fragen zur Verfügung. Aus dem Kontakt entwickelt sich später die gemeinsame Ausstellung und das Buch. Verbindung Bielefeld, Riga, Vilnius, Leningrad. Zweisprachig russisch deutsch. Das geschieht auch in den Fotoclubs von Riga und Leningrad, wo wir Gäste sind. Diese Fotoclubs sind privat. Nicht staatlich gefördert aber daher auch nicht gesteuert. Es entwickelt sich eine eigenständige künstlerische Bildsprache unabhängig von der offiziellen Pressefotografie.

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Fast alle von uns haben in der Ära Gorbatschow eine Chance der Veränderung und Erneuerung gesehen. Überrascht wurden wir von der Gleichgültigkeit gegen ihn in Litauen und Lettland und von dem unverdeckten Hass auf die Russen. Die Zersplitterung der USSR zeichnete sich schon ab auf unserer Reise in Gesprächen, Szenen, Fotografien. Die Tätigkeit des Fotografierens ist geprägt durch eine Offenheit, ein Staunen, ein Begreifen wollen und genaues Hinsehen und Festhalten der immer wieder unbegreiflichen Realität. Aus der Reise in die Sowjetunion wurde eine Begegnung mit einem Staatsgebilde von nur noch kurzer Verfallszeit.

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Was wir jenseits des Politischen beobachteten und in Bildern gestalteten waren die Szenen des Alltags, des Dialogs, der menschlichen Begegnung. Hinzu kamen die verabredeten Treffen mit Fotografen in den Fotoclubs von Vilnius und Riga. Ohne die sprachliche Verständigung sind es immer wieder die Bilder, welche den Austausch ermöglichen. Auf einer sehr persönlichen Ebene. Den Austausch auch im Wortsinne. Viele unserer Bilder sind in die besuchten Clubs gewandert und viele ihrer Fotografien zu uns in die gemeinsame Ausstellung und nicht zuletzt in unser gemeinsames Buch. Es ist die Methode des Projektstudiums in Bielefeld, eingeführt im Zuge der Erneuerung des Lehrbetriebs in den 70er Jahren, dass Bilder nicht nur gemacht und besprochen werden sondern in Medien weiter verarbeitet werden in eigener Verantwortung der Studierenden, angeregt und moderiert von den Lehrenden. Oft erreichen solche Projekte Verlage und Ausstellungsinstitutionen. Das Buch „ Annäherung an die Sowjetunion. Ein fotografischer Dialog, Hg. Bernhard Fischer, Katja Lotze, Martin Jehnichen, Peter Pollmann, Sigrid Fischer, Susanne Liesenkötter, Hannover 1989“ ist ein solches realisiertes Projekt, das seine Entstehung dem Angebot dieser organisierten Reise durch Diethart Kerbs verdankt.

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Mit dieser Reise ist aber unser Kontakt nicht abgebrochen. Er hat sich eher noch intensiviert. 1985 gründet Diethart Kerbs die Arbeitsgemeinschaft für Bildquellenforschung und Zeitgeschichte – ABZ. Er initiiert mit Sophie Schleußner ein Fotoprojekt in der DDR nach der Öffnung der Grenzen. Dokumentation von Kulturdenkmälern, Gutshäuser, Fabriken, Dorf- und Stadtraume. Ein Abenteuer der Recherche, des Wiederentdeckens, der ästhetischen Aneignung eines für uns bisher weit gehend verschlossenen Landes. Mit mir sind Kollegen an der Planung und Realisierung beteiligt, Pilotprojekt Fotografien aus Brandenburg. Das Projekt wird in drei Bundesländern realisiert, umfangreich publiziert und ausgestellt. 1992 – 1997

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Seit 1993 organisiert Diethart Kerbs Jährliche Treffen zum Thema Denkmalschutz , die „Septembergespräche“. Immer an anderen mühsam geretteten historischen Orten, an Gutshäusern, Mühlen, Schlössern. Mit Teilnehmern, die selbst an Renovierungen und historischen Forschungen interessiert und beteiligt sind. Im Gasthof unter den Linden in Groß Gievitz trage ich Strategien und Resultate vor aus dem Projekt „Rettet Eisenheim“, Oberhausen. Dieses Treffen hat weit reichende Folgen für uns beide.

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Er hatte 1993 ein Gutshaus in Lansen erworben, wir, meine Frau Gabriele und ich, erstehen einen Bullenstall im gleichen Dorf. Damit sind die nächsten Jahre mit Renovierungsarbeiten ausgefüllt. Wechselnder Erfahrungs-, Geräte- und Materialaustausch.

Diethart Kerbs gründet 1999 den Verein KULTUR-LANDSCHAFT e.V., Gründungsversammlung in unserem Stall in Lansen am Kaminofen. Das Gutshaus ist noch nicht beheizbar.

1996 kommt er zu meinem 60. Geburtstag nach Herford.

Sein 60. Geburtstag wird 1997 in seinem Gutshaus gefeiert und unter dem Blätterdach der Lindenlaube davor.

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2007. Nun ist er 70. Herzlichen Glückwunsch.

Jörg Boström

in:

Momentaufnahmen, Hrsg. Reulecke/Schwarte, Klartext Verlag, Essen 2007, ISBN: 978-3-89861-800-7

Das Buch von der Reise:

Annäherung an die Sowjetunion. Ein fotografischer Dialog, Hg. Bernhard Fischer, Katja Lotze, Martin Jehnichen, Peter Pollmann, Sigrid Fischer, Susanne Liesenk–tter, Hannover 1989

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Seminar mit Evelyn Richter

Antanas Sutkus, Fotoclub Vilnius

Russische Touristengruppe auf dem Panzerkreuzer Eurora in Leningrad

Studiengruppe. Selbstauslöser. Vilnius

Septembergespräch mit Roland Günter