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Helfried Strauß

 

AD LIBITUM: DAS KIND IN DER KÜNSTLERIN

Vorbemerkung:

Alles, was sie hier sehen, ist indirekt auch ein Geburtstagsgeschenk, das wir mir gemeinsam gemacht haben, aus diesem zwei Tage zurückliegenden Anlass gebe ich als erstes meinen persönlichen WUNSCHZETTEL bekannt:

SECHS UND VIER MACHT ZEHN - QUADRATIERT WÄR SCHÖN!

Wer weiß, meine lieben Freunde, Damen und Herren, ob soeben das Kind im Künstler gesprochen hat, das sanft alternde Pferd in ihm jedenfalls hat noch einmal der Hafer gestochen, und meine armen Klassenschwestern verstehen überhaupt nichts mehr.

Zwar zwinkere ich ihnen unentwegt zu, bis mir die Lider knirschen, blecke freundlich meine Zahnstummel, auch füttere ich sie mit nächtlichen Scherzkeksen, die sich auf unerklärliche Art in Schmerzmittel zu verwandeln scheinen, derer der junge Mensch gar nicht bedarf: KANN NIT VERSTAHN, sagen sie.

Dabei hat alles so schön angefangen: Meister mach uns eine Ausstellung, haben sie begeistert gerufen, wir wollen dich dafür lieben und ehren. Kann man da stark bleiben, verehrtes Publikum? Nein, das Volk schüttelt einmütig sein inneres Haupt.

Es hob also eine große Heimsuchung an in den schicksalsträchtigen Niederlassungen der werdenden Künstlerinnen. Wir saßen in Dachstuben, nauf altehrwürdigen Balkonen, in luftigen Lofts.

Ich suchte das Kind, das bleibt und fand es selten, So sind eben die Kinder, sie verkriechen sich beim ersten Besuch von Fremden. Ich erfuhr trotzdem viel Bereicherndes, das für mich zwar meist auf eine Bestätigung längst gemachter Erfahrungen hinauslief, die ja aber für den, der sie das erste Mal macht, von gleich bleibender, nämlich existenzieller Relevanz sind.

Erst vor wenigen Tagen las ich auf den Deckenbalken einer alten Leipziger Gaststätte folgende volkstümliche Weisheit:

„Die meisten Missverständnisse beruhen darauf, dass man sich nicht versteht“.

Ja, auch ich habe mit meinen Studenten am Beginn unserer Zusammenarbeit stets eine lange und intensive Phase gebraucht, bevor sie das - zugegeben seltene - Phänomen erkannt und als zutreffend angenommen haben: Dass ich genau das will, was sie selbst wollen, also dieses ihnen selbst noch nicht sehr Bekannte stärken, den Weg dorthin vielleicht ein wenig beschleunigen, es in ein möglichst produktives Verhältnis zu setzen zur Zeit und zur Kunst überhaupt.

Eine Gasthörerin zum Beispiel fragt, etwas ungläubig noch, am Ende eines ersten Gesprächs:

„Da kann ich also dieses halbe Jahr über machen, was ich will?“

„Ich bitte darum! Mit einem Zusatz, der auch den Titel unserer neuen Ausstellungsreihe betrifft: AD LIBITUM (also NACH BELIEBEN) als klassisches Zitat meint natürlich auf gar keinen Fall den postmodernen Begriff der “Beliebigkeit“, denn jemandes Willen kann nur dann zu seinem Himmelreich werden, wenn er sich die dazugehörige Leiter dorthin auch selbst baut.

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„Eigentlich mache ich ständig etwas, was ich nicht will“, hatte unsere neue Gastfrau vorher noch festgestellt! Na, erzähl das mal einem Kind (vielleicht dem Kind das, du einmal warst), es wird dich fassungslos fragen: „Aber warum machst du es dann und weshalb machst du es immer weiter?“

Zum anderen fragt Juliane Moritz, die sich bereits in den Augen und Handlungen ihrer drei Kinder spiegeln kann, verwundert: „Ich weiß nicht, wo das Kind in mir ist, vielleicht ist es verschwunden.“

Etwas scheinbar Kurioses fällt ihr sehr schnell ein, ausgelöst durch ein Familienfoto (das zwar in corpore nicht auftaucht, aber umso besser im Kopf gespeichert ist), auf dem sie sich unter einer Glasscheibe versteckt. Der Vorgang wird nachgestellt und das Bild ist sogleich mein Favorit für das, was ich später die Kür nennen werde und als Titel-Orientierung ausgebe:

DAS KIND IN DER KÜNSTLERIN. (Der Titel ist hinreichend komplex, offen, verweist aber auch auf die Unbeholfenheit der Zeit im Umgang mit dem Geschlechterzirkus.) Dass man sich verbergen kann, um besser gesehen zu werden, liebe Juliane, war der KÜNSTLERIN IM KIND offensichtlich völlig klar, weil Kinder die störenden Interventionen des Bewusstseins noch nicht kennen.

Mein Vorschlag: Nehmen wir doch bis zum Beweis des Gegenteils diesen deinen performativen Akt als ihr Geburtsdatum, einverstanden? „Vielleicht hab ich ja auch“, hattest du weiter vermutet, „das verschwundene Kind verteilt auf meine Kinder“, in deren Fotos du dich und die Situation deiner bemerkenswerten Familie am ehesten wiedergefunden hast, einer Familie, in der die Kinder nach der Kamera greifen, bevor sie sie „vernünftig“ halten können, in der Bilden immer der sinnliche Griff nach dem Sinn ist – ich habe also Elena und Noah von Herzen zu danken, für ihre wunderschönen, lockeren Beiträge als Grundstock des Pflichtteils, den ich den Meinen dann doch auferlegt habe: Ein Selbstbild wollte ich haben, ein leichtes, witziges, ein lebendiges jedenfalls. Und siehe da, es entstanden und fanden sich Bilder unterschiedlicher Art.

Nilz Böhme, der nix verstand (vielleicht, weil er Auftraggeber gewohnt ist, die Klartext reden) übt gerade hingebungsvoll das Liegen - verdecktes Operieren in schöner Zurückhaltung imaginiert weitgehend derzeitiges Selbstverständnis ebenso wie das Agieren im symbolischen Feld. Sich im Geforderten geschickt verbergen ist eine beliebte Strategie im Umgang mit eigenen Unsicherheiten und kann ja sehr wohl zu wesentlichen, aufschlussreichen Bildern führen.

Als besonders witziges Beispiel schätze ich Mareike Matzicks Lagebeschreibung. Auf jeden Fall ist solch aktiver Umgang ein erster Schritt zum wirklichen Selbstbild.

Henrike Schön, die ihre Stimme noch nicht, ihren Humor aber schon längst gefunden hat, kriecht voller Selbsteinsicht unters Tuch, weil, wie sie zur Heiterkeit der Klasse bemerkte – das ihrer aktuellen Situation in der Gruppe entspricht.

Familienrituale und Kindheitsträume werden erinnert (Natalja Bougai), wieviel sich von ihnen ins fotografische Gegenwartsbild übertragen lässt, ist immer jedes Experiment wert (Evi Lemberger).

Zufallsgenerierte Magie fotografischer Technik verweist Thomas Völkel in seinem Fund aus Kindertagen auf eigene Prägungen, heute sind die Tricks zur gemütvollen Eigenverstümmelung gleich in die neuen Maschinen eingebaut (Leo Kaufmann und Helfried Strauß).

Früher war Jens noch nicht so Klein, sondern richtig groß und gendermäßig drauf, das muss heute doch gefeiert werden. So etwas kommt also alles an den Tag, wenn man eine Frage stellt, ist das nicht wunderbar.

Kinder sind reiselustig, Moritz zeigt uns, wie Frei er dabei ist.

Im Gegensatz zu den Vorgenannten sind Selbstbilder bei Andy Kania Legion und die glücklichste Wahl gelang erst nach entsprechenden Qualen.

Die Ehre der Ursprünge und des fotografischen Blicks rettet Kristin Barthel mit ihrem schwarz-weißen Studioporträt, während Robert Gommlich, Negative schichtend, auf der Suche nach der geeigneten Wohnung zwischen dem Identitätsgraben und diversen medialen Furchen switcht.

Irgendwann, jeder Bildarbeiter kennt das, gibt es die Notwendigkeit, das Detail auf seinen zuverlässigsten Punkt, seine Essenz zu reduzieren, weil man sonst zu lange in diesem Anfangswiderspruch befangen bleibt, zuviel gewollt und zu wenig erreicht zu haben.

Ich verrate sicher nicht zu viel, dass diese Erfahrung im streng gefassten Bild der schützenden Geste hinter Katrina Blach liegt, das Ergebnis also die Autorin belohnt.

Eva Listing, die uns heute endlich auch das lebende Original vorgestellt hat, das sie zur Zeit völlig in Atem hält – herzlich willkommen, Jonathan! - zeigt ein Bild vom Ursprung, das, wie sie hofft, eine Ahnung enthält von all den widersprüchlichen Gefühlen, die sie damals verspürte. Sie durfte und musste das Thema auf eine Weise wörtlich nehmen, wie es selbstredend nicht gemeint war.

Da ist Martin Esche, haupterziehender Vater vom Dienst, als Wiederholungstäter in einer vergleichsweise gesicherten Lage, man sieht es ihm an, obwohl man ihn nicht wirklich sieht. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn besetzt ihn gerade nach beiden Richtungen auf existenziellste Weise, bildhafte Ergebnisse daraus werden uns wohl in dieser Reihe noch beschäftigen.

Existenziell auf ganz besondere Weise ist auch das Bild, das uns Susanne Elisabeth Heise aus ihrer gerade erst gezeigten Ausstellung im Kuhturm zur Verfügung gestellt hat.

Eine von allen als Bereicherung der ganz besonderen Art empfundenes Bild möchte ich ausdrücklich vervorheben, Matej Kosirs fast außerirdisch wirkende und doch so gegenwärtige Malerei, von medialer Komplexität überquellend und doch auch die individuelle Bescheidenheit des Autors angemessen markierend – eine außerordentliche Bereicherung unserer Schau!

Zu guter Letzt zum Bild, das Ihnen vom Poster her bekannt war, und hoffentlich auch einige Rätsel aufgegeben hat. Jörn Lies hat also keine Einzelausstellung, hat sich aber gemeinsam mit Tanja Schnurpfeil um den Reihenentwurf für die Poster gekümmert, sein Bild verkörperte für mich quasi die Idealvorstellung eines thematischen Selbstbildes, deshalb ist es prompt auf dem Titel gelandet. Es hat diese Mischung aus konzentrierter Akkuratesse, Symbolik und verblüffender Leichtigkeit, die mich schon deshalb beeindruckt, weil sie mir nicht zu Gebote steht – vielleicht auch deshalb meine von Dirk Wackerfuß angeregten Selbstbilder, für dieich mir, ich gestehe es gern, keinen gar so großen Ruck geben musste.

Zwei angestemmte Nächte haben wir experimentiert, die Königin von Saba stand uns bei, und Dirk muss gleich anschließend gen Morgen noch mal unter die Gardine geschlüpft sein. Einen speziellen Dank und großes Kompliment an Dich, lieber Dirk!

Die Marginalie, auch so etwas muss es geben, stammt von Matthias Zielfeld, der gerade stark objektorientiert ist, mit ihm habe ich Ihnen, wie sich das gehört, wenigstens alle Mitwirkenden genannt, die die Klasse Strauß auf ihrem gern auch in die Irre führenden Plakat verschwiegen hat.

Es hat Euch in erklecklicher Zahl herbeigelockt, also hat es funktioniert.

Zur KÜR werde ich heute nichts sagen, um doch noch etwas zum Ganzenmitzuteilen, das wir in seiner ganzen Fülle und diversen Wechselwirkungen auch erst seit wenigen halben Stunden kennen.

Es gäbe diesen Raum nicht ohne meinen genialen kuratorischen Bruder Markus Uhr, dessen Gespür für kühne zielführende Kombination vor allem des scheinbar Unvereinbaren ich immer wieder bewundere, und ich weiß mich in diesem Fan-Verhalten nicht allein.

Und es gäbe ihn auch nicht ohne Andy Kanias spontanen Vorschlag eines goldenen Portals, dessen Realisierung er dann auch zielstrebig in die Hand genommen hat – alles andere, das flankierende Zusammenrücken der Bilder um die Pforte herum war eine Folge seines zielsicheren Inputs und dessen rückhaltloser Annahme, ohne alles reflexive Zaudern.

Wer wir sind, was wir als Klasse sind, beschäftigt uns, denn schließlich gibt es ja auch andere Klassen. Klassentreffen im üblichen Sinne machen wir vielleicht erst, wenn es uns schon lange nicht mehr gibt, wer weiß.

Aber nicht so genau zu wissen, was am Schluss herauskommen wird, ist und bleibt uns aus guten Gründen unverzichtbar: Das Leben fordert es, denn es ist des Menschen und aller Lebewesen einzige Wirklichkeit, die diesen Namen verdient. Wenn wir schon so weit sind, dass wir es uns täglich neu konstruieren müssen, ist das kein Kompliment für die SCHONE DER KRÖPFUNG.

Naja, meine Kumpel hier wissen es schon, wenn es mich schüttelt dann muss es heraus – achtet nicht weiter darauf.

Nicht wissen und trotzdem gewiss sein, dass – nicht nur etwas, sondern - mehr herauskommt, als man sich hätte vorstellen können, ist eigentlich unsere ganze Ideologie.

Herzlichen Dank für Eure Aufmerksamkeit!

Leipzig, am 26. April 2007

 

Helfried Strauß