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Renate Buschmann
 
Die Realität im Visier
Jörg Boström: ein Fotograf als Aktivist
 
"Realistisch heißt: den gesellschaftlichen Kausalkontext aufdeckend/die herrschenden Gesichtspunkte als die Gesichtspunkte der Herrschenden entlarvend/vom Standpunkt der Klasse aus schreibend, welche für die dringendsten Schwierigkeiten, in denen die menschliche Gesellschaft steckt, die breitesten Lösungen bereit hält/das Moment der Entwicklung betonend/konkret und das Abstrahieren ermöglichend.“1 Mit diesen Worten umriss Bertolt Brecht 19g8 seine politisch motivierte Vorstellung von einem Realismus in den Künsten, der wirkungsvoll und gezielt der Aufgabe verpflichtet war, die bestehenden inakzeptablen Sozialverhältnisse aus den Angeln zu heben. Nach der Zäsur des Zweiten Weltkrieges und der Nazi-Diktatur, nach der Spaltung Deutschlands und der Angliederung der zwei Landesteile an kontroverse Weltblöcke war im bundesrepublikanischen Nachkriegsdeutschland die Brechtsche, von der kommunistischen Anschauung beflügelte Kunstideologie tabu, zumal eine deutliche Abgrenzung zum sozialistischen Realismus, der in der DDR avancierte, stattzufinden hatte.
 
Erst in den 60er Jahren wurde das Primat der abstrakten Kunst in Westdeutschland brüchig. Aus einem neuen linkspolitischen Bewusstsein heraus entwickelten sich Einstellungen, die - ähnlich wie Brecht - ungegenständlichen Kunstwerken ihre gesellschaftliche Indifferenz vorwarfen und statt dessen an ein politisches Sendungsbewusstsein der Künstler appellierten.
 
Auch Jörg Boström, der an der Düsseldorfer Kunstakademie Malerei studiert hatte und als Kunsterzieher tätig war, hielt eine Auseinandersetzung mit dieser Problematik für notwendig. Boström erschien die Theorie des Soziologen Arnold Gehlen plausibel, der in seiner Schrift Zeit-Bilder (1960) der zeitgenössischen Kunst die Funktion der "Entlastung" zusprach. Gehlens Meinung nach begründete sich die Akzeptanz der abstrakten Kunst auf der Sehnsucht einer Gesellschaft nach "künstlichen Paradiesen", nach subjektivem Form- und Farbreichtum ohne Inhaltsschwere, nach imaginären Zonen, die jedwede Belastung durch außerkünstlerische Probleme ausschließen.2 Entgegen der von Gehlen apostrophierten These, dass Kunst die Betrachter "entlasten" muss, tendierte Boström zu einer Kunst, die den Betrachter "belastet", indem sie ihn mit gesellschaftlichen Vorgängen konfrontiert. Da eine Umorientierung in den klassischen Kunstgattungen Boströms Ansicht nach nur langsam zu bewerkstelligen war, zog er die Konsequenz: Er kehrte der Staffelei einstweilig den Rücken und griff zum Fotoapparat.
 
Anfangs war es die Begeisterung für eine auflebende, Grenzen sprengende Kunst, die Boström bewegte, Fotos in Kunstausstellungen und von Kunstaktionen zu machen. Denn die zuvor von Gehlen als "produktive Einsame"3 titulierten Künstler traten nun aus der Abgeschiedenheit ihrer Ateliers hervor und verstanden ihre Werke im Rahmen einer kollektiven Verantwortung. Die Künstler der ZERO-Gruppe machten mit ihren öffentlichen Auftritten nicht nur Momente der Sensation erlebbar, sondern beabsichtigten, den Kunstbetrachtern die verlorengegangene Sensibilität zurückzubringen. Joseph Beuys eröffnete mit seinen bisweilen mystischen Aktionen einen missionarischen Pfad, der nicht selten zur Belastungsprobe für Künstler und Rezipienten wurde. Düsseldorf mit seiner Kunstakademie war ein hervorragendes Pflaster, um saturierte Kunstvorstellungen zu verlassen und den Aufbruch zu frischen Kunstwerten mitzuleben. Häufig an der Seite des befreundeten Kunstkritikers John Anthony Thwaites suchte Boström solche Kunstereignisse mit Bedacht auf, um die ihnen innewohnende Faszination zu beobachten. Er verstand sich dabei nicht als Dokumentarist, der Objektivität und Rationalität der Ereignisse verpflichtet war, sondern als ein Augenzeuge, der die atmosphärische Spannung zwischen Raum, Werk, Künstler und Publikum in seinen Aufnahmen einfing.
 
Dass ein ausgebildeter Maler wie Boström sein ursprüngliches Medium durch die Fotografie ersetzt, scheint eine Fortführung des Wettstreits zu sein, den die fotografische Technik gleich zu Anfang ihrer Entdeckung ausgelöst hatte. Im 19. Jahrhundert wurden Unkenrufe laut, dass die Fotografie der Malerei ein Ende setzen würde, da sie die Malerei doch bei weitem an Naturalismus übertreffen könne. Hatte sich im 20. Jahrhundert die Malerei jedoch vom Dogma des Naturalismus verabschiedet und ihre Souveränität in der Abstraktion behaupten können, entwickelte sich in den 60er Jahren ein gegenläufiger Trend, der für eine erneute Wirklichkeitsnähe plädierte. Das Bedürfnis an die außerkünstlerische Realität heranzurücken, sie als Impuls und Anlass für einen Bildentwurf zu nehmen, ließ die Fotografie für Boström zum Ausweg werden. Die Aneignung der Wirklichkeit und die damit verbundene Wiederentdeckung des einst so gebrandmarkten Realismus war die Reaktion vieler Künstler auf ein erwachtes gesellschaftspolitisches Engagement. So ließ beispielsweise Günter Wallraff in Kontinuität zu Brecht verlauten: "Wir wollen nicht Literatur als Kunst, sondern Wirklichkeit. Die Wirklichkeit hat noch immer die größere und durchschlagendere Aussagekraft und Wirkungsmöglichkeit, ist für die Mehrheit der Bevölkerung erkennbarer, nachvollziehbarer und führt eher zu Konsequenzen als die Phantasie der Dichter."4 Dieser Realismus-Aufruf galt für die bildenden Künstler ebenso wie für die Literaten. In Literatur und Film lenkten viele Intellektuelle ihr Augenmerk auf die ihnen fremde Lebens- und Arbeitssituation der Arbeiterschicht. Authentizität des Dargestellten wurde zum neuen Maßstab, beispielsweise in Wallraffs selbst erlebten Milieustudien oder in Erika Runges Bottroper Protokolle, in denen einzig und allein die Betroffenen zu Wort kamen. Auch Hans Haackes Projekt Nachrichten, dessen erste Vorführung Boström in der Düsseldorfer Kunsthalle fotografierte, beschäftigte sich mit der Überschneidung von faktischem Tagesgeschehen (verkörpert durch einen laufenden Nachrichten-Fernschreiber) und aktuellem Kunstmarkt.
 
Gegen Ende der 60er Jahre ließ sich Boström zunehmend fesseln von der Wirklichkeit politischer Demonstrationen. Sie waren sichtbarer Beweis für Rebellion und Metapher für eine Gesellschaft, die gegen den Stillstand mobilisierte. Boströms Fotos zeigen wie Aufbruch und Tradition, wie Generationen aufeinanderstoßen: einerseits die energischen, erwartungsvollen Demonstranten, andererseits die konsternierten Damen und Herren, die in der Düsseldorfer Innenstadt unfreiwillig vom lärmenden Protestmarsch an den Rand gedrängt werden. Doch der Fotograf Boström gehörte nicht zum Typ Flaneur, der das Zusammentreffen mit Motiven dem Zufall überließ. Seine Mitarbeit in der Gruppe Politisch Soziale Realität (PSR) beförderte seine Fotografie zu einem unverzichtbaren Begleitinstrumentarium der kollektiven Initiativen. In der Anfangsphase hatten sich der Düsseldorfer Maler Manfred Koenig und seine Partnerin Rosemarie Stein (später Koenig) sowie Jörg Boström und seine damalige Partnerin Eva Wolter (später Boström) zur programmatisch betitelten Gruppe PSR zusammengetan, um gegen die ihrer Meinung nach verkrusteten Strukturen der Düsseldorfer Kulturlandschaft zu opponieren. Ihr Hauptanliegen war, eine stärkere Demokratisierung der Institutionen durchzusetzen. Nach Protesten in der Düsseldorfer Winterausstellung 1968 wurde vor allem die Düsseldorfer Kunsthalle ins Visier genommen. Mit einem spektakulären Go-in bei der Eröffnung der Minimal Art-Ausstellung im Januar 1969 machte die Gruppe auf ihren provokanten Vorschlag, die Kunsthalle in ein autonomes Kommunikationszentrum zu verwandeln, aufmerksam. Die hitzige Debatte und die aufgewühlten Gemüter, die gestörte Ausstellungsatmosphäre, die verstörten oder auch gleichmütigen Vernissagebesucher, die Korrelation der Minimal-Kunstwerke mit Raum und Publikum hielt Boström in Fotos fest. Als Mitglied der Gruppe PSR und als treibende Kraft des Protestes übernahm er die Doppelrolle, als Aktivist die Realität zu manipulieren und als Fotograf die Resultate wahrzunehmen.
 
Vielerorts regte sich der Unmut der Künstler gegen etablierte Museen und Ausstellungsinstitutionen, weil sie in Verdacht geraten waren, Restauratives zu protegieren, Innovatives kategorisch abzuweisen, gesellschaftliche Klassenhierarchie zu untermauern und insgesamt einen Machthaberstatus zu zementieren. Ob an der Paris Biennale mit dem Slogan Le pouvoir soutient la Biennale - La Biennale soutient le pouvoir, auf der Biennale von Venedig oder auf der documenta 4 in Kassel, überall wollten Künstler die Institutionen als Elemente eines reaktionären Apparates entlarven. In den USA war es die zum Jahresanfang 1969 gegründete Art Workers’ Coalition ( AWC), die sich anfangs gegen die einflussreichste amerikanische Kunstinstitution, das Museum of Modern Art in New York, organisierte, ihren dortigen Protest aber stellvertretend gegen das gesamte Museumsestablishment verstand. In nur kurzer Zeit formierte sich eine starke Künstlerinteressenvertretung, die sich mit zahlreichen Demonstrationen unter dem Motto Make MoMA modern für eine Stärkung der Künstler- Mitbestimmung einsetzte. Wenngleich öffentliche Kundgebungen wie der art strike against racism, war, and repression eine politische Ausrichtung der AWC unterstrichen, war die Frage nach einer generellen Politisierung von Kunst innerhalb der AWC -Künstlerschaft äußerst umstritten.
 
Zeitgleich war im Rheinland eine künstlerische Proteststimmung herangereift. In der 1969er Januar- Ausgabe der Monatszeitschrift Civis prangerte der geachtete Kunstkritiker John Anthony Thwaites an, dass die Ausstellungsmöglichkeiten der Gegenwartskünstler zu stark von Jurys reglementiert würden. Er befand es ferner für abwegig, dass die notwendigen Proteste der Künstler ausblieben und statt dessen von politischen Verbänden initiiert würden: "[...] das größte Hindernis ist die gesellschaftliche Organisation der Kunst selbst. Darüber müssen die schöpferischen Kräfte springen, um an die Öffentlichkeit zu kommem; und das ist nicht leicht. Aus einem dumpfen Gefühl des Unbehagens kommt es zu den Demonstrationen; nur kennen sich die Teilnehmer auf diesem Gebiet nicht aus. In Wirklichkeit gehören nicht die revolutionären Spießer auf die Barrikaden, sondern - die Künstler selbst."5 Hatte Thwaites diesen Artikel unter den revolutionären Slogan "Künstler auf die Barrikaden!" gestellt, wurde er von der Realisierung seines Appells noch im selben Monat eingeholt. "Künstler auf den Barrikaden" war dementsprechend Thwaites’ Fazit über die öffentlichen Aktivitäten der Gruppe PSR.6 Für Thwaites stand außer Frage, dass die Künstler das Kunstsystem selbst zu reformieren hatten, waren die Museen und Kunsthallen doch der "Blinddarm der Kunst in Deutschland"7 .
 
Anlass für den Sturm auf die Düsseldorfer Minimal Art-Ausstellung war jedoch nicht nur die Kritik an den Ausstellungsmodalitäten, sondern auch eine polemische Haltung der Gruppe PSR gegenüber dieser Kunstbewegung. An die Ausstellungsbesucher wurde das mehrseitige Pamphlet "Einführung in die Minimal Art" verteilt, in dem eine kritische Auseinandersetzung - in weiten Teilen vorwiegend ironisch - erfolgte. Hauptangriffspunkt der PSR war, dass die Aussage der Skulpturen ausschließlich in der konzentrierten Wahrnehmung von Form, Material und Raum zu finden war und ein darüber hinausgehender Realitätsbezug absichtlich ausblieb. Für die PSR-Mitglieder waren die Minimal- Skulpturen ein erstklassiges Negativbeispiel künstlerischer Realitätsferne, die nach Gehlens Analyse das Verlangen des Kunstsystems nach einer "Entlastung" von belastenden Thema Vorschub lieferte. Mehr noch: nach Ansicht der PSR war die Minimal Art ein "Produkt des Ausstellungsbetriebs", weil sie mit ihrer inhaltliche Leerstelle der vollständigen Ausklammerung gesellschaftspolitischer Kunst entsprach. Paradoxerweise waren gerade mehrere Minimal-Künstler, wie zum Beispiel Carl Andre, Robert Morris und Sol LeWitt, überzeugte Mitglieder der Art Workers’ Coalition. Sie stritten für eine sozial ausgewogene Ausstellungs- und Sammlungspraxis, bei der benachteiligte Randgruppen (bei Künstlern und Besuchern) angemessene Berücksichtigung finden sollten. Wenngleich Carl Andre den Grundsatz äußerte, dass Leben die Verbindung zwischen Politik und Kunst sei,8 waren seine Werke und die anderer Minimal-Künstler stets frei von politischen Implikationen.
 
Im Kontrast dazu vertrat die PSR die Überzeugung einer effektiven sozialen Einmischung. Während Susan Sontag dem Fotografieren attestierte, dass es seinem Wesen nach ein Akt der Nicht-Einmischung sei 9 , brach Jörg Boström die Lanze für ein Fotografieren, das Legitimation durch Engagement erfährt. Gab es in Düsseldorf Widerstand gegen die Autorität des damals so viel gescholtene Kultur-Establishment, war die PSR mit Solidaritätsbekundungen dabei: bei der ministerial angeordneten Schließung der Kunstakademie, bei einer Intervention der Lidl-Gruppe im Schauspielhaus, bei Diskussionen um neue Lehrinhalte in der Kunstakademie und um politische Standards der Düsseldorfer Filmgruppe. Mit Flugblättern bewies die PSR ihre Verbundenheit mit den Protestierenden. Jörg Boström und Manfred Koenig wollten zudem die Momente dieser öffentlich subversiven Aktionen in ihrer Authentizität bewahren und erprobten ein Zusammenspiel von Ton- und Bildaufnahme. Koenig zeichnete mit seinem Aufnahmegerät die Stimmen der Demonstrierenden auf, während Boström mit der Kamera die aktionsgeladene Stimmung und den impulsiven Tatendrang in Bildern bannte. Der Fotograf war Sympathisant, handelte als Teil der Situation, und entwickelte seine fotografische Sichtweise aus der Mitte des Geschehens. Sein eigener Idealismus machte Boström empfänglich für die Gesichter, Gesten und Szenen der Protestierenden, aus denen die mitreißende Wirkung der neuen Leitmotive für Kultur und Gesellschaft sprach.
 
Fotografie kann "Dokument und Erfindung" sein, etikettierte Boström in den 80er Jahren. Und er erläuterte weiter, dass sie "Realität erkennen und darstellen" oder "Realität erfinden und konstruieren" kann.10 Boström hatte sich in den 60er Jahren deutlich einer Fotografie verschrieben, die Realität erfassen wollte und wie ein szenisches Protokoll der ihn vereinnahmenden Ereignisse funktionierte. Im Gegensatz dazu stand der in den Nachkriegsjahren aufkommende Trend zur "subjektiven Fotografie", bei der zugunsten von gestalterischen Wiedergabequalitäten der Abbildcharakter der Fotografie in den Hintergrund trat und Fotos ähnlich abstrakten Bildern komponiert wurden. Jedoch wurde auch in Boströms wirklichkeitsnaher Fotografie Subjektivität immer wichtiger, und zwar in dem Sinne, dass Subjektivität eine vorsätzliche Parteinahme für die fotografierten Personen und Situationen meinte. Durch Boströms fortwährendes Engagement in der Gruppe PSR erweiterte sich sein Anspruch an Fotografie, denn erklärtes Ziel der PSR war es, Projekte zu propagieren "mit der Absicht Realität zu verändern" und neue Realitäten zu schaffen. Beispielhaft für das von der PSR angestrebte Vorgehen war ihr Projekt Umfeld-Repro - Obdachlosigkeit in Düsseldorf, das im Oktober 1970 im Rahmen der Ausstellung between 5 in der Kunsthalle Düsseldorf gezeigt wurde. Für diese Gruppenarbeit nahmen die PSR-Mitglieder Kontakt zu einem Düsseldorfer Obdachlosenasyl auf, interviewten die Bewohner und untersuchten die dortigen Wohnverhältnisse. Boströms Fotos der Bewohner waren ein tragender Bestandteil der späteren Dokumentation, die in Form einer Wandzeitung in der Ausstellung präsentiert wurde. Plakatartig waren Texte und Fotos montiert, um die inhumanen Lebensbedingungen der Wohnungslosen offenkundig werden zu lassen. Ganz im Sinne der eingangs zitierten Passage von Brecht verteidigte die PSR die Rechte der sozialen Randgruppe und setzte die Dokumentation als Diagnose des vorgefundenen Missstandes und als Sprachrohr für eine Anhebung des Lebensstandards der Wohnungslosen ein. In der Tat bewirkte die PSR mit diesem Projekt eine enorme Außenwirkung: Nachdem Teile der Dokumentation von städtischer Seite zensiert worden waren, nahm sich die Presse des Themas Obdachlosigkeit und Notunterkünfte an, und Forderungen nach einer dringenden Abschaffung der skandalösen Zustände fanden Gehör.
 
Als Boström 1972 Düsseldorf verließ und die Projektarbeit der Gruppe PSR zum Erliegen kam, wurde die Maxime "Befragung der Realität" brandaktuell, weil sie Untertitel der documenta 5 war. Ideenreich wurden in der dortigen Ausstellung die vielfältigen Spannungsverhältnisse zwischen bildender Kunst und Realität abgetastet und dem Realismus in der Malerei eine eigene Sektion eingeräumt. Trotz der Berücksichtigung von Plakaten, Filmen, Videos, Comics, Spielen und Werbung blieb die Fotografie erstaunlicherweise ohne separate Abteilung. Boström hielt in den Folgejahren weiter an einer Fotografie fest, mit der die gesellschaftliche Wirklichkeit in der Bundesrepublik, ihre Eigenarten und ihre Schieflagen, unter die Lupe zu nehmen war. Es galt nicht nur zu einer Demaskierung alltäglicher und manches Mal auch stillschweigend akzeptierter Zustände beizutragen, sondern häufig um eine Solidarisierung mit den Fotografierten. "Fotografie als Waffe" lautete der Slogan, den Roland Günter für die von ihm und Jörg Boström praktizierte "sozialdokumentarische Fotografie" entwarf.11 Plakativ wurde die militante Analogie verwendet, um die Bedeutung der Kamera als aufklärerisches Mittel im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit und die suggestive Kraft fotografischer Bilder zu betonen. Die Fotografie erfüllte ihre soziale Evidenz dabei meist in Kombination mit anderen Medien wie Interviews, sozialwissenschaftlichen und literarischen Texten. Beispiele von den zahlreichen Projekten, die Boström anregte, sind die Initiative Rettet Eisenheim, eine umfangreiche Sozialstudie über eine Bergarbeitersiedlung im Ruhrgebiet, und Das Buch der Sinti, das eine hautnahe Dokumentation über das Selbstverständnis dieser Bevölkerungsgruppe in Deutschland darstellt.
 
Die Düsseldorfer Jahre von 1966 bis 1972 sind für Boström der Grundstein seiner fotografischen Laufbahn. Als Aktivist in der Gruppe Politisch Soziale Realität bildete er seine Richtschnur für ein künstlerisches Handeln heraus, das sich stets auch an einer gesellschaftspolitischen Effektivität zu messen hat. Als Fotograf begleitete er ebensolche Aktionen, Demonstrationen, Diskussionen und Proteste von Künstlern, die er entweder selbst mitinitiiert hatte oder aber mit denen er sich solidarisch erklärte. Die Fotos sind kulturhistorische Belege für die Jahre der improvisierten Störungen und für einen gesellschaftlichen Umbruch, der Künstler und Kulturinstitutionen vor neue Herausforderungen stellte. Boströms Fotos sind aber nicht nur die Beglaubigung der umwälzenden Düsseldorfer Ereignisse. Sie vermitteln vielmehr einprägsam die Renitenz und Selbstsicherheit der damaligen Protestbewegung, die Joseph Beuys in seinem berühmtem Fotoporträt mit einer handschriftlichen Notiz treffend zur Geltung brachte: La Rivoluzione siamo Noi (Wir sind die Revolution).
 
 
 
1 Bertolt Brecht : Volkstümlichkeit und Realismus, 1938, abgedruckt in: Charles Harrison, Paul Wood: Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, Bd. I, Ostfildern-Ruit 1998, S. 609-612, hier S. 609.
 
2 Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt am Main / Bonn 1960, insbesondere S. 209.
 
3 Ebenda, S. 159.
 
4 Günter Wallraff: Wirkungen in der Praxis, 1970, zitiert nach Peter Sager: Neue Formen des Realismus. Kunst zwischen Illusion und Wirklichkeit, Köln 1973, S. 10.
 
5 John Anthony Thwaites: Künstler auf die Barrikaden!, in: Civis, Nr. 1, Januar 1969, S. 29f .
 
6 Ders. : Künstler auf den Barrikaden, in: Civis, Nr. 4, April 1969, S. 24-26.
 
7 Ebenda, S. 26.
 
8 Siehe Carl Andres Aussage auf eine Befragung der Zeitschrift Artforum 1970, abgedruckt in Harrison/Wood (wie Anm. 1), S. 1107.
 
9 Siehe Susan Sontag: In Platos Höhle, in: Dies.: Über Fotografie, Frankfurt am Main 1970, S. 15.
 
10 Jörg Boström: Dokument und Erfindung, in: Dokument und Erfindung, Kat. Haus am Lützowplatz a. u., Berlin 1989, S. 10-12.
 
11 Roland Günter: Fotografie als Waffe. Geschichte der sozialdokumentarischen Fotografie, Hamburg/ Berlin 1977.
 
 
 
Der Text erscheint im Buch
Zeitsprung. Rebellisches Düsseldorf 1965-1972
Fotografien von Jörg Boström
Kerber Verlag 2007