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Rosa Rosinski
 
Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Hier ist gut wohnen - Nachbarschaft ist Genossenschaft" im Bauernhaus-Museum Bielefeld am 4.3.2007

Ausstellungsplakate, Gestaltung: Werner Busch 

Sehr geehrte Damen und Herren
 
"Nachbarschaft ist Genossenschaft", was verbirgt sich hinter diesem Titel? Eine Art Fortsetzungsgeschichte!
 
Den ersten "historischen Teil" hat die Projektgruppe "Massenwohnungsbau" 1975 unter dem Titel "Gründung und Entwicklung der Baugenossenschaft Freie Scholle" als Examensarbeit im Fachbereich Design der Fachhochschule Bielefeld eingereicht. Die Gruppenmitglieder treffen heute zu diesem Ereignis nach 32 Jahren erstmals wieder zusammen und sind glaube ich immer noch Stolz auf ihre damalige Arbeit.
 
Ich möchte Ihnen etwas erzählen, warum wir damals so ein Thema wichtig fanden und unter welchen Voraussetzungen so ein visuelles Gesamtpaket - Ausstellung - Film - Buch - entstehen konnte.
 
Kommen Sie dazu mit auf eine kleine Zeitreise in die 70er Jahre, in denen das Desaster des Sozialen Wohnungsbau mit seinen "Ghettos" in den Stadtrandgebieten und der Kahlschlagpolitik in den Innenstadtbereichen offenkundig wurde. Vor allem damalige Studenten thematisierten diese Auswirkungen des kapitalistischen Städtebaus, prangerten die daraus entstandenen sozialen Probleme wie z.B. Isolation und Anonymisierung an. Der Bielefelder Stadtteil Baumheide war schon damals ein Beispiel für fehlende nachbarschaftliche Strukturen.
 
Auf der Suche nach menschenwürdigen Wohnkonzepten stieß die Projektgruppe auf die Siedlungen der Freien Scholle aus den 20er und 30er Jahren. Ausgestattet mit interdisziplinären Kompetenzen, wie Architektur, Fotografie und Grafik begannen sie, natürlich mit dem Einverständnis der Geschäftsleitung, in Archiven zu recherchieren, vor allem aber vor Ort bei den Bewohnern in den Siedlungen, ließen sich Wohnungen zeigen, nahmen am vielfältigen Vereinsleben teil, beobachteten das nachbarschaftliche Miteinander.
 
Ein Blick hinter die Ausstellung zeigt in welchem Kontext und Erfahrungshintergrund sie erarbeitet wurde.

Unter dem Eindruck vieler gesellschaftlicher Konflikte Anfang der 70er Jahre entwickelte sich an dem neu gegründeten Fachbereich Design ein Fach, dass das Zusammenwirken von Malerei, Fotografie, Film und Buchgestaltung zur Darstellung von gesellschaftlichen Problemfeldern ermöglichte. In diesem neu geschaffenen Fach "Visuelle Kommunikation" entstanden intermediale Projekte, die sich sowohl in Bielefeld, aber auch außerhalb einmischten:
"Rettet Eisenheim" war eins der ersten Projekte dieser Art. Eisenheim in Oberhausen, die älteste Arbeitersiedlung (1844) in Westdeutschland drohte abgerissen zu werden. Unter der Leitung der Professoren Jörg Boström und Roland Günter dokumentierte eine Studentengruppe die politisch-soziale Realität der Bewohner mit den Medien Film, Fotografie und Katalog, stärkte damit das Bewusstsein der Bewohner und gab den Anschub zur Gegenwehr. Heute steht die Siedlung komplett unter Denkmalschutz, sie wurde saniert ohne dass das soziale Gefüge (die Nachbarschaften) zerstört wurde. Dieser Medieneinsatz schaffte überregionale Aufmerksamkeit und ungefähr 50 Bewohnerinitiativen bildeten sich in Folge um den schleichenden Abriss ihrer Siedlungen zu verhindern.
 
Ein weiteres Projekt mit dem Titel "Soziale Architektur" analysierte und überplante den Bielefelder Osten, unter der Prämisse, dass irgendwann in der nächsten Zukunft die großen Fabrikationsstandorte von Dürkopp, Anker, Ravensberger Spinnerei und Mechanische Weberei aufgegeben und dadurch auch hier gewachsene Stadtteile zerstört würden. Aus dieser Projektarbeit heraus wurde die Bürgerinitiative zur Rettung der Ravensberger Spinnerei gegründet und fast so nebenbei die Siedlungen der Freien Scholle entdeckt.
 
Die Reihe ähnlich nachhaltig wirkender Projektergebnisse aus dem Fachbereich Design ist lang und Sie werden sich vielleicht fragen wie war es möglich, dass so professionell, realitätsbezogene und handlungsorientierte Studienarbeiten entstehen konnten.
 
Eine wichtige Vorraussetzung war damals, dass die Studienanfänger in der Regel einen abgeschlossenen Beruf und zwei Jahre Berufspraxis in entsprechenden Sparten mitbrachten. Sie hatten also schon eine praktische und nicht nur eine schulisch geprägte Kompetenz (Fachabitur) wie es heute gefordert wird. Das Projektstudium sah vor, mit einem frei gewählten Team ein selbst gestelltes Thema zu bearbeiten. D.h. selbstständiges Organisieren, Recherchieren, Kontakten, Auswerten und gestalterisch in ein Produkt umsetzen. Diese Art des Lernens schaffte ein enormes Motivationspotential. Selbstverständlich konnte auch der betreuende Professor ausgewählt werden und dieser war Ratgeber auf Augenhöhe. Fehlende Fertigkeiten oder Erkenntniskurse organisierten sich die Gruppen als Seminarangebote, in dem sie beispielsweise Stadtplaner, Architekturhistoriker oder Kameramänner als Gastdozenten an den Fachbereich holten. Projektarbeit hieß vor allem mit verschiedenen Kompetenzen im Team verantwortlich zu arbeiten. Die Mitglieder der Projektgruppe "Massenwohnungsbau" waren durch die gemachten Erfahrungen in vielfältigen Projekten ein kompetentes Team, das gemeinsam mit ihrem Professor Jörg Boström die Wertschätzung der Freien Scholle mit ihren Stärken und Schwächen realistisch ins Bild gesetzt hat, ohne nostalgisch abzugleiten (Arbeiterromantik). Fasziniert hat sie dabei, dass 1911 Arbeitersportler selbst die Initiative ergriffen und gemeinsam qualitätvolle Wohnsiedlungen errichtet haben.

Meine Damen und Herren und deshalb ist Nachbarschaft nicht nur ein Thema für den ländlichen Raum, vielmehr braucht auch jedes Stadtviertel stabile Nachbarschaften. Seit ihrer Gründung hat die Freie Scholle Strukturen entwickelt, die die Solidarität der Bewohner stärken und das nachbarschaftliche Miteinander fördern. Damit hat sie den Nationalsozialismus überstanden und nach dem 2. Weltkrieg entscheidend zum Wiederaufbau der Stadt Bielefeld beigetragen. Die Freie Scholle hat immer wieder wichtige Impulse für die Stadtentwicklung geben können. In der Ausstellung können sie die Entwicklung von der Gründung bis heute nachvollziehen und gleichzeitig sehen, welchen Weg die Freie Scholle eingeschlagen hat, um Nachbarschaft, d.h. einen humanen Städtebau zu fördern.
 
Mein herzlicher Dank geht an die Geschäftsleitung der Freien Scholle und natürlich an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die die Realisierung dieses Gesamtprojektes zu ihrer Sache gemacht haben.
 
Danken möchte ich auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des BHMs.
 
Und zum Schluß möchte ich Ihnen fürs Zuhören danken und bitte Herrn Koppman als Geschäftsführer der heutigen Freien Scholle aus seiner Sicht die Wichtigkeit des Themas "Nachbarschaft" und damit den zweiten, aktuellen Teil der Präsentation vorzustellen.