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Irene Below
 
 
Eine unheimliche Welt im Ausnahmezustand -
Was ist/soll Skulptur/Bildhauerei heute?
 
 
Die Frage nach den Möglichkeiten der Skulptur heute hat sich Susanne Albrecht auch im Zusammenhang mit dieser Ausstellung gestellt. Für mich war das ein Anlass, im Lexikon nachzusehen - hier eine ziemlich umfassende Begriffsbestimmung aus Wikipedia unter dem Stichwort "Bildhauerei":
"Die Bildhauerei ist eine der ältesten bildenden Künste der Kulturgeschichte. Der Unterschied von bildhauerischen Arbeiten zur Malerei besteht in der Dreidimensionalität der Kunstwerke. In der Bildhauerei werden Formen und Gebilde unter Verwendung verschiedener Materialien und durch unterschiedliche Bearbeitungstechniken von Bildhauern räumlich erfahrbar gemacht. Die geschaffenen Skulpturen oder Plastiken können realistisch darstellen, die Realität kreativ verändern oder völlig abstrakt sein. Die Bandbreite der verwendeten Materialien reicht von klassischen Stoffen, wie Stein, Holz, Metall, Ton und Gips, über diverse Kunststoffe bis hin zu Textilien."
Diese Definition benennt mit dem Satz "In der Bildhauerei werden Formen und Gebilde unter Verwendung verschiedener Materialien und durch unterschiedliche Bearbeitungstechniken von Bildhauern räumlich erfahrbar gemacht" als zentrale Merkmale der Kunstgattung "Formen und Gebilde", "Materialen und Bearbeitungstechniken" und die "räumliche Erfahrbarkeit der Produkte". Zu diesen drei Punkten möchte ich sprechen, kann mir aber vorher nicht verkneifen anzumerken, dass selbst Wikipedia offenbar nichts von der Existenz von Bildhauerinnen weiß, obwohl schon Vasari in der Mitte des 16. Jahrhunderts mit Properzia dei Rossi eine Frau dieses Metiers vorgestellt hat. (Gestern Meldung in Deutschlandradio Kultur - ein Prof aus Cambridge hat nachgewiesen, dass Homer eine Frau gewesen sein muss).

Zunächst zum Material, zu den Bearbeitungstechniken zu den Formen und Gebilden
oder - vom ewigen kostbaren Stein zum vergänglichen armen Stoff
Diejenigen, die Susanne Albrechts Arbeiten schon länger verfolgen, wissen, dass sie als Steinbildhauerin begonnen hat (und weiterhin immer wieder in Stein arbeitet). In ihren Wassersteinen verbindet sie den harten unbeweglichen Stein mit dem flüssigen beweglichen Wasser. Zeitlosigkeit und Flüchtigkeit werden so kontrastiert und gleichzeitig erfahrbar.
Seit 2002 hat Susanne Albrecht begonnen mit abgelegter Kleidung zu arbeiten - einem in der Kunst seit Mitte der 50er Jahre zunehmend verwendeten "armen" Material (Pistoletto, Pop Art, Messager, Boltanski). In dem 2002 entstandenen E-Mail-basierten Kunstprojekt "Second Hand Dress. An international and interdisciplinary gender project on trading and using second hand clothes" hat Susanne Albrecht ein Netzwerk von 16 Künstlerinnen aus 11 Ländern initiiert, die alle zu einem Second-Hand-Kleid gearbeitet haben.
Abgelegte Kleidung und aussortierte Stoffe sind auch der Ausgangspunkt für die seit 2003 entstandene Werkgruppe "Verdichteter Raum - Verlangsamte Zeit", aus der die hier gezeigte Installation hervorgegangen ist. Textilien, die häufig Spuren ihres Gebrauchs zeigen, werden dem Konsum entzogen. Manchmal ist noch zu erahnen, worum es sich gehandelt hat (Teppiche, Anorak). Sie werden zerschnitten, unterschiedlich dicht aufgewickelt und so in neue zweckfreie Produkte transformiert. Bei den häufig großen, meist einfarbigen Einzelobjekten wird auf jegliches stützendes Element aus Holz oder Metall verzichtet. In einem langwierigen, oft meditativen Prozess entstehen elementare skulpturale Formen wie Kugel, Kegel und Kreisel. Sie sind das Ergebnis einer extremen Verdichtung von Materie, die bis auf die äußere Schicht verborgen bleibt. Neuerdings sind kleinere Gebilde in einer Art Tropfenform dazu gekommen, einige davon mit einer durch Wachs versiegelten Oberfläche. Sie können sich miteinander zu Gruppen zusammenfinden oder zu Zwei- Drei- und Vierfüßlern verbinden. Trotz der strengen Formen haftet all diesen Objekten ihr voriges Leben als Gebrauchtsgegenstand/getragene Kleidung noch an. Bei der künstlerischen Transformation in zweckfreie Skulpturen bleibt immer ein unterschwelliger Rest der ehemaligen NutzerInnen dieser Stoffe und Kleidungsstücke spür- und wahrnehmbar. Dies schafft Irritationen und macht die Objekte unheimlich im Sinne von Freuds Schrift "Das Unheimliche" aus dem Jahr 1919. Darin hat Freud dargelegt, dass das heimliche/heimelige das unheimliche immer schon in sich trägt.
Dies gilt noch mehr für drei Objekte in der hier aufgebauten Installation, bei denen gebrauchte ältere Sitzmöbel - ein Kinderstuhl, ein Hocker und ein Stuhl - partiell mit Stoffbahnen umwickelt sind. Massenhaft hergestellte Typenmöbel weisen durch die Wicklungen und Verknotungen ganz individuelle Spuren auf. Susanne Albrecht hat sich bei diesen Arbeiten vorgestellt, dass die Lebensspuren und Verhaltensweisen derer, die die Sitzmöbel nutzten, sich hier materialisiert haben könnten - das hampelnde, zur Ordnung gerufene Kind und seine inneren Verknotungen zum Beispiel. So wie sich bei einer Holztreppe die Abnutzung durch Laufspuren an Mulden erkennen lassen, so die Körper- und Seelenbewegungen hier durch Buckel und Verdichtungen. Eine unheimliche Vorstellung, die mich an Oskar Wildes Bild des Dorian Gray erinnert, in das sich die Ausschweifungen und Untaten des Dorian Gray einschreiben, die bei dem schönen leibhaftigen Dorian nicht zu sehen sind.

Die Installation
Die räumliche Erfahrbarkeit der Einzelobjekte, die zum Wesen von Bildhauerei gehört, ist in Albrechts Ausstellung gesteigert durch die Gruppierung zu zwei Installationen - den Auftakt im Vorraum und die große Installation hier: Im Vorraum sind zwei Kegel - ein kleinerer roter und ein größerer schwarzer - mit zwei fotografischen Arbeiten von Marisa Rosato zusammen gruppiert. Diese zeigen stark abstrahierte Figuren - ebenfalls in Rot und Schwarz. Für mich hat diese Konstellation einen ganz neuen Blick auf die Skulpturen ergeben, denn die beiden Figuren erhalten so eine körperhafte Individualität, die ich vorher nicht bemerkt hatte. Fast meint man Geschichten lesen zu können - die schwarze z.B. erscheint in ihrer aufrechten Haltung mit der den Kopf krönenden Schleife wie ein kesses Mädel.... Je nach Präsentation ergeben sich so für die Betrachter ganz unterschiedliche Lesarten.

Ganz anders die Gesamtinstallation hier im Raum. Irgendetwas ist hier ziemlich in Unordnung geraten - das Lagerregal ist gekippt und hängt schräg im Raum. Man hat den Eindruck, als hätten die meisten Objekte ursprünglich in diesem Regal ihren Ort gehabt, seien jetzt herausgefallen und lägen nun unarrangiert und unordentlich davor herum. Die Podeste, die in traditionellen Kunstausstellungen aus einem Ding erst eine Skulptur machen, liegen wie umgestürzt auf dem Boden, einige der Objekte scheinen zufällig auf sie gefallen, andere wie die große dichte weiße Kugel sind weit in den Raum gerollt. Die Sitzmöbel, die in einem anderen Kontext als Möblierung eines Innenraums hätten erscheinen können, bleiben fremde hybride Objekte.
Geht man mit der Künstlerin davon aus, dass diese Kunstwelt ein Modell der wirklichen Welt ist - was auch immer das sein mag - dann ist diese Welt aus dem Lot. Es ist offenbar nicht möglich, die skulpturalen Formen so zu inszenieren, dass sie den herkömmlichen Präsentationsregeln folgen und als geordnete Kunstwelt in Erscheinung treten. Dieses Arrangement steigert das Unheimliche der auf den ersten Blick so gefälligen Objekte und wird selbst zu einer unheimlichen Anordnung im Raum. Die Künstlerin thematisiert damit unsere Erwartungen an eine Ausstellung und zeigt, dass die BetrachterInnen Teil des Gnzen sind. Darüber hinaus macht Susanne Albrecht deutlich, dass sie es mit Kräften zu tun hat, die es ihr verunmöglichen, tradierten Materialien, Formen der Darstellung und Präsentationsformen zu folgen.
Nachdem ich zu dieser Interpretation gekommen war, habe ich entdeckt, dass Okwui Enwezor der Biennale, die er gerade für Sevilla kuratiert hat, ebenfalls im Rekurs auf Freud den Titel "The Unhomely" gegeben hat und damit die prinzipielle Unbehaustheit des Individuums in der globalen Welt beschreibt. Im Katalogvorwort bezieht er sich darüber hinaus auf Walter Benjamins 8.Geschichtphilosophische These. Darin heißt es: "Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der 'Ausnahmezustand', in dem wir leben die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff von Geschichte kommen, der dem entspricht." Für mich ist Susanne Albrechts Installation auf dem Weg, diesen "Ausnahmezustand" im Medium der Kunst sichtbar zu machen.
Das kann Skulptur heute offenbar leisten.

Einführung zu:
 
SUSANNE ALBRECHT
INSTALLATION
15. -17.Dezember 2006
SA und So 12 - 18 Uhr
im BBK-Atelier (4 OG), Ravensberger Spinnerei im Ravensberger Park 1,
33607 Bielefeld  
http://www.bbk-owl.de