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Eva Mahn

kommen und gehen

Eine Ausstellung von Mitgliedern der Deutschen Fotografischen Akademie - DFA anlässlich ihrer Jahrestagung in Leinfelden-Echterdingen vom 28. bis 30. April 2006

Als Fernkraftfahrer musst du Zollbestimmungen und Verkehrsregeln der Länder kennen, die du durchquerst, nicht ihre Sprache und Kultur. Regierende Parteien oder Rechte religiöser Minderheiten können dir gleichgültig sein, solange deine Lieferung pünktlich, unversehrt und vollständig ihren Zielort erreicht. Mobilität ist Teil unseres Lebens, für manche ein Beruf.

Sind Kommen und Gehen auf einen festen Punkt bezogen, wie Ebbe und Flut auf das Ufer, werden Menschen kaum ein Problem damit haben. Doch was, wenn ein System so stark beschleunigt wird, dass sich Zentrifugalkräfte entwickeln, der Druck so stark ist, dass Teilchen, aus der Bahn geworfen, das System verlassen und ins Ungewisse geschleudert werden?

Wer seine Heimat verlässt, wird ein Fremder, fremd im eigenen Land und fremd in dem Land seiner Wahl, ein Wanderer zwischen zwei Welten. Der Immigrant im fremden Land ist Emigrant im eigenen.

Gehen braucht Mut und Druck von außen, Kommen nur einen Entschluss. Gehen trennt, Kommen verbindet. Selbst in der Sprache ist “Kommen" positiver besetzt als “Gehen":

Kommen, Ankommen, zur Ruhe kommen, zu sich kommen, auskommen, zurechtkommen, das klingt nach Sicherheit, Zufriedenheit, Stabilität, Heimat, Familie und Tradition. Heimat ist der Ort und die Landschaft unserer Kindheit, das Vertraute, das Trauliche, Gemütliche (“trautes Heim, Glück allein"), die Zeit der Geborgenheit in der Familie, die aber auch eine Zeit der Unmündigkeit war.

“Damit etwas kommt, muss etwas gehen. Die erste Gestalt der Hoffnung ist die Furcht.

Die erste Erscheinung des Neuen ist der Schrecken", schrieb Heiner Müller.

Gehen, das ist Verlassen, Verlieren, manchmal auch Flucht und deshalb immer mit Angst besetzt. Gehen ist aber auch Veränderung, Neuanfang, Erwartung, Neugier, Hoffnung, Mut und Zuversicht, Loslassen, um die Hände freizubekommen, alles hinter sich lassen, um Neues aufzubauen, Türen zuschlagen, um neue ­ zu öffnen, das Risiko eingehen, viel oder alles zu verlieren, den Partner, die Arbeit, den Besitz und sogar die Heimat.

Die deutsche Sprache besitzt bildhafte, mit Erfahrung aufgeladene Worte für diesen Prozess: Weggehen/einen Weg gehen, zu weit gehen, sich gehen lassen, fremdgehen, in sich gehen, untergehen, eingehen, draufgehen ...

Alles Fremde verunsichert, macht hilflos, ängstigt, treibt in die Enge, schließt aus bis zum Gefühl der Bedrohung. Bedrohung schürt Angst. Angst macht aggressiv. Aggressivität grenzt aus und verhindert Integration.

Als “fremd" gilt immer die Minderheit. Auf eigenem Boden bestimmt sie die Regeln. Auf fremden - läuft sie Gefahr, grobe Fehler zu machen. Durch Fehler wächst die Angst aufzufallen, nicht akzeptiert zu werden. Der Ausweg heißt Rückzug oder Suche nach Gleichgesinnten, um von der Minderheit zur Mehrheit zu kommen.

Verfestigung von Vorurteilen gegenüber dem Anderssein der Anderen, dem “Fremden" ist nur ein hilfloser Versuch, wie das Pfeifen im dunklen Walde, um die Angst zu vertreiben. Dabei ist alles nur eine Frage der Perspektive. Ist alles nur eine Frage der Perspektive?

 

Jörg Boström sucht mit seinen Schattenbildern “eine Begegnung mit sich selbst im Zeitsprung". Als Schattenjäger findet er Momente seiner Erinnerung in bestimmten Szenarien, die sich wiederholen. Sein eigener Schatten kann Teil des Ganzen werden und Verbindung aufnehmen, Schatten, die uns verfolgen, die Teil unseres Lebens sind.

Er weiß um die zeitliche Dimension wenn er sagt: “Inzwischen ertaste ich das Kommen und Gehen der Lichter und Schatten mit der Kamera in digitaler Technik. Es ist nicht die Technik, welche die Sicht formt. Es bleibt immer wieder der Mensch hinter dem Apparat, in diesem Falle das unentrinnbare Ich."

 

Bertram Kober benutzt bei seiner Serie “Hochsitz" die Architektur einer bekannten Konstruktion zur Irritation. Der Betrachter erlebt aus der Perspektive des Wildes die kuriosen Tarnungsversuche und das versteckte Drohgebaren, das von dem überhöhten Ansitz, dem Beobachtungsposten des Jägers ausgeht. Auf freies Feld und auf die Lichtung verwiesen, gerät der Betrachter schutzlos ins Visier.

David Klammer inszeniert in glaubhafter Natürlichkeit bei seiner Serie “untitled" Straßenszenen, die er durch den Einsatz von Blitzlicht zu theatralischen Szenen verfremdet.

“Gestik und Habitus der ... fotografierten Menschen werden als einstudierte und oft geübte Kopien von Idealismen einer Gesellschaft entlarvt, welche die industrielle Individualisierung als erstrebenswerten Maßstab ansieht", schreibt Wolfgang Zurborn.

 

Eva Mahn zeigt Bilder von einer Karibik-Kreuzfahrt. Sie rettet sich in menschenleere, kühl registrierende Aufzeichnungen, als sich das “Traumschiff" als gigantische Hotel-Maschinerie mit Verwöhnprogramm für 1.300 Passagiere auf Kosten von 560 rund um die Uhr arbeitenden Crew-Mitgliedern, meist Philippinern und Balinesen entpuppt.

Lucia Simons hat mit “Transit" auch eine autobiographische Arbeit vorgelegt. In digitalen Collagen sind persönliche Dokumente und private Fotografien mit bis zum Ornament verfremdeten Ausschnitten staatlich verordneter Dokumente montiert. Mit der Erntwertung der Dokumente und Aufwertung der privaten Fotografien stellt sie den Gedanken “behaupteter Verwaltbarkeit von individueller, gesellschaftlicher und kultureller Identität" infrage.

Wolfgang Zurborn bejaht mit seiner Arbeit “Drift" das Chaos und die Dynamik des Lebens als mitreißende Kraft und Quelle neuer Entdeckungen und Erfahrungen, wenn er schreibt: “Bei der Suche nach Ordnungen, die das Zusammenspiel von Körpern, Dingen, Zeichen und Räumen in den Fotografien zu einem lesbaren Gefüge, zu einer begreifbaren Komposition transformieren, gilt es, das Chaos nicht zu verraten, weil gerade in ihm eine ungebändigte Lebendigkeit steckt ... Die Neugier auf Erfahrung, die Suche nach Kommunikation, sehnt sich nach Bildern, die uns mit irritierenden Ausschnitten, überraschenden Kompositionen und ungewöhnlichen Perspektiven aus dem routinierten Konsum der aufgeräumten Bilderwelten der Medien herausreißen."

 

Stadtmuseum Leinfelden-Echterdingen

Hauptstraße 79

70771 Leinfelden-Echterdingen

Telefon 0711-1600244

Ausstellungsdauer: 30. 4. bis 21. 5. 2006

Öffnungszeiten: Sonntags 10.30 bis 12.30 Uhr und 14.30 bis 17.30 Uhr

http://www.deutsche-fotografische-akademie.com

http://www.kulturregion-stuttgart.de

http://www.leinfelden-echterdingen.de

In diesem Jahr war die DFA von der Stadt Leinfelden-Echterdingen, ihrem Stammsitz, eingeladen, sich mit einer Ausstellung am Projekt der Kulturregion Stuttgart zum Thema “kommen und gehen" zu beteiligen. Das Programm wird von 19 Städten der Region vom 25. April bis 7. Mai 2006 bestritten. In seinem Mittelpunkt stehen die Internationalität der Region Stuttgart und die seit 1955 angeworbenen Arbeitskräfte aus Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und dem ehemaligen Jugoslavien.

Die Fotografen der DFA haben das Thema “kommen und gehen" weiter gefasst, denn zum sich fremd fühlen, muss man nicht unbedingt seine Heimat verlassen.