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Jörg Boström

Zirkus am Ratsgymnasium

Kann man das? Lehrer spielen? Nachdem ich 40 Jahre nicht an einer Schule unterrichtet habe. Vier 5. und 6. Klassen, insgesamt etwa 135 Kinder, eine Woche lang? Gut. Ich war ja Kunsterzieher damals und auch Fachleiter. Gut. Meine Frau ist Lehrerin am Ratsgymnasium in Minden. OK. Die Schule wird 475 Jahre alt und ich nur 69. Ein Geburtstagsgeschenk also. Auch für mich? Die Schüler lernen bei einem Zirkus in dieser Woche. Kurze Szenen. Kostüme. Nasen. Mützen. Bunte Sachen. Also richte ich mich darauf ein. Ich schreibe eine Woche vor Beginn ein Konzept.


Zirkus RATS

Scherenschnitte ­ Schattenspiele ­ Positiv ­ Negativ ­ Profile ­ Ansichten ­ Von der Seite

1.Gespräch, Eindrücke, Ideen

a. Eindrücke aus dem Zirkus. Welche Szenen? Welche Figuren? Welche Tiere? Welche Dinge? Welche Szenen? Welche Schau?

b. Wer mag und macht welche Figur?

Direktor, Clowns, Chefclown und Quatschclowns, Balancekünstler, Jongleur, Seiltänzer, Akrobaten, Reiter, Löwenbändiger, Tigerbändiger, Tiere. Tiger, Löwen. Hunde. Papageien. Geier.

Artisten in der Zirkuskuppel ­ ratlos?

2. Scherenschnitte ­ was machen wir nun?

Figuren. Scherenschnitte. Von der Seite. Profil. Spiegelung. Moment der Bewegung und der Balance. Schwarz. Weiß. Und eine Farbe.

a. Zeichnung, Entwurf, Zeichnung auf Weiß

b. Schneiden, sorgfältig, ohne Verschnitt. Das Blatt wird noch gebraucht. Die Einzelteile auch. Positiv - Negativ. Es kann noch entschieden werden ob gewendet wird. Spiegelung. Es können Einzelteile durch Farbige ersetzt werden.

c. Kleben der aufgesetzten Einzelteile.

d. Es entsteht eine Papierfigur und ein Blatt. Positiv ­ Negativ.

3. Wie geht es weiter? Schattenspiele. Zirkus-Musik.

a. Stäbe anbringen. Klebeband. Einige mit beweglichem Teil.

b. Projektion auf weiße Leinwand

c. Abwandern, Entlang Wandern, Tricks zeigen. Kopfstand, Seiltanz. Balanceakt. Figurenturm. Mit Tiger und Löwen. Mit Pferden. Erst jeweils einer. Dann zwei im Wechselspiel.

d. Fotografieren der Schatten.

e. Zirkus Geschichten schreiben. Szenen entwickeln. Vorlesen. Auswählen.

f. Vorführen und Filmen mit Videokamera. Musik.

4. Abschlusspräsentation

a. Ausstellung der Figuren als Blätter.

b. Zirkus Runde. Aufmarsch der Künstler und Figuren.

c. Vorführung der Filmszenen

Material:

Papiere. Kleber, Prit. Scheren. Stäbe. Klebeband. Umschläge DIN A3 für die Schnittstücke. Jedes mit Namen und Klasse beschriften. Weißes Tuch für Projektion. Videokamera und Schirm. Projektor. CD mit Zirkusmusik.

 

Es soll meine Leidenschaft zum Film, zur Fotografie und zur Inszenierung zum Zuge kommen. Was dich selbst interessiert, dafür kannst du auch andere interessieren. Vielleicht. Alte Regel.

Mir assistieren zwei Referendarinnen und drei Schülerinnen der Oberstufe. Im Rückblick danke. Ohne ihr fröhliche, engagierte Beteiligung wäre ich wohl nicht weit gekommen.

Erster Schritt, erster Schnitt. Wir erzählen uns Sachen aus dem Zirkus, Eindrücke, Figuren. Lassen uns in unsere Fantasie treiben. Wählt eure Figur. Sie soll nachher auch spielen. Dann beginnt die Schneiderei. Figur und ihre Leerstelle. Schneidet ohne Verschnitt. Das Loch wird auch gebraucht. Für ein Bild.

Die Kinder sind lebhaft und konzentriert. Die Entwürfe verpflichten. Aus ihnen entwickeln sich sowohl Bilder wie Figuren und zuletzt Schatten- und Filmszenen. Aber das wissen die Schüler noch nicht. Oder ahnen sie es? Andeutungen konnte ich mir nicht verkneifen bei den Vorgesprächen. Neugier muss sein. Kunst ist sie zu wecken. Und lebendig zu halten.

Figur für Figur erhebt sich aus der Kindergruppe. In und über ihren Köpfen entsteht eine zweite Zirkus Wirklichkeit. Die Sonne treibt ihr eigenes Schattenspiel

Die kleinen Künstler nehmen sich ihre Puppen und halten sie hoch. Sie wissen nun, dass sie sich gleich in Filmfiguren verwandeln werden.

Jetzt wird eine Story entwickelt. Ich erzähle vom Film. Von der Vorbereitung durch ein Storyboard. Links eine Folge von Skizzen, rechts erzählender Text. Kurz und klar. Zirkusartig soll es sein.

Die Stories werden in Handlungen mit Figuren umgesetzt. Jeweils zwei oder drei Spieler. Die Schattenpuppen wurden auf Grillstäbchen gespießt. Kurze Probe und dann ab ins Spiel und auf die Leinwand.

Natalie, eine Referendarin mit Witz und Kamera, nimmt die Schattenszenen hinter der Leinwand auf, die wie für eine zünftige Malerei zwischen zwei Staffeleien aufgespannt ist.

Im Zirkus TAUSENDTRAUM wird ein Filmstreifen der Parade von Schattenkindern mit ihren Figuren vorgeführt. Als Einführung in die Zirkusveranstaltung. Am Piano ein Schüler mit virtuoser Zirkusmusik. Es folgen die Auftritte von Zirkusratskindern. Das Ratsgymnasium lädt ein. Eltern, Verwandte, Mindener, jeden der will.

Johann Wolfgang von Goethe mit Fritz von Stein, vermutlich von G.M. Klauer gefertigt, ca 1780

Bliebe noch zu sagen, dass Scherenschnitte eine frühe Form sind der Fotografie. Aus meiner Kindheit noch kenne ich Goethe als Scherenschnitt. Kein Foto von dem Mann, o weh. Schere statt Chemie. Schattenfilme der Frühzeit. Dieses Mediums gab es auch. Platons Höhle wäre auch ein Thema. Eine philosophische Dichtung über die Verwechslung des Mediums mit den Wirklichkeiten. Das Fernsehen als moderne platonische Höhle? Virtuelle Computerspiele als Abenteuerersatz? Familienleben nur auf dem Bildschirm? Liebe nur noch digital? Aber das wäre eine andere Geschichte. Oberstufe erst? "Datt krieche ma späta".