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Annette Bültmann
 
Rückblick auf die AnyWay-Ausstellung
 
Ab dem 30.8. konnten Ausstellungsteilnehmer den Schlüssel zur AnyWay Galerie in der Boxhagener Strasse im Blumenladen nebenan bekommen, an diesem Tag und am nächsten verwandelten sich die beiden weitgehend leeren Galerieräume zuerst langsam, dann am Abend des 31., bei einem ersten Treffen der Teilnehmer, schliesslich mit erstaunlicher Geschwindigkeit in den "sampler" Ausstellungsspace. Lange nicht gesehene Gesichter tauchten plötzlich auf, Bilder wurden reingetragen, es fand sich ein alter Cassettenrecorder, Getränke und Pappbecher wurden beschafft, und irgendwie war es schließlich gelungen, am 1.9. war alles an der Wand. Ein erfreulicher Anblick! Am 2.9. wurde dann gefeiert... und zu diesem festlichen Anlass gab es auch eine Ansprache. Ausstellungsteilnehmer und Gäste trafen sich bei diversen Getränken.
 
Die Eröffnungsansprache wurde gehalten von
Jörg Boström
 
Sampler - zur Vernissage, 2-9-2005
 
Das Wort Sampler, vom englischen Sample, bedeutet Stichprobe, Auswahl. Es bezeichnet eine Zusammenstellung von Musiktiteln. Heute Abend, in dieser Autorengalerie Anyway treffen sich nun Freunde und Kollegen in dem kleinsten Galerieraum der Region, vollgesamplet mit Bildern aus ihren Werkstätten. Sampler daher auch der Titel der Ausstellung. Es sind ehemalige Studierende aus Bielefeld, die es nach Berlin gezogen hat, Studierende der Akademie Münster und Freunde, die ohne Kunst das Leben wie es ist nicht erträglich und manchmal auch nicht einträglich genug finden. So bündeln sich Leidenschaft und Professionalität. Zusammengestellt und aufgehängt. Fledermäuse finden ihre Flugstraßen im Computer, tanzen hier ihre Bahnen über uns, free spirits, freie Geister aus Orient und Okzident, geistern leporelloartig an der Wand, Kindheitserinnerungen an süßen Verführungsautomaten mischen sich mit Gedankenfetzen an einen verstorbenen Papst, Frauenbilder erscheinen in Schönheit gehärtet. Auch Berlin selbst strahlt aus halber Höhe von Turm zu Turm und durch den Match dieser Welt rasen Motoradrenner um die Wette. Stellen wir uns etwas und die Künstler kurz vor.
 
" free spirits ", es sind Holzschnitte auf Leporellos gedruckt, Klaus Nolte sammelt und sucht schöne Leporellos. Wer noch welche findet, kann sie ihm gern auch schicken. Er sieht sie an liest und bewundert sie. Lernt dabei viel über die "Kultur-Landschaften" Berlins und anderer Städte, über Konzerte, multikulturelle Ereignisse. Die Holzschnitte, welche darüber gedruckt werden, akzentuieren oder verfremden diese Faltblätter. Dabei werden kulturelle, ästhetische und auch verschiedene spirituelle Themen gleichermaßen berührt und visualisiert. Die Motive der Holzschnitte sind meist aus dem spirituellen oder anthropologischen Bereich, Buddhas, Totem, Tiere.
 
Alexandra Kürtz hält Kindheitserinnerungen fest
seit 2002, auf eigenartige Weise. Es sind in farbige, teilweise verkratze und bekritzelte Kästen mit süßen Versprechungen. Sie hängen hier in der Galerie am Eingang, in Augenhöhe der Kinder.
Unscheinbar hängen sonst Kaugummiautomaten an Häuserfassaden.
Sie treten einzeln im Stadtbild auf und gehören zur Alltagskultur.
Die im Eingang der Galerie in Sichthöhe von Kindern aufgehängten Automaten sind so materialintensiv fotografiert, dass man ihre Oberfläche betatschen oder besser gleich ein Cent Stück hineinstopfen möchte, um endlich mit dem Lutschen beginnen zu können.
Sie stammen aus Bonn, der ehemaligen Hauptstadt. Damit soll eine Verbindung zwischen den beiden Städten markiert werden..
Die Kaugummiautomaten gibt es vom roten Einer über blaue Dreier bis hin zum orangefarbigen Vierer. Sie sind bekritzelt, verrostet und manchmal auch beschädigt. Die runden Kugeln reizen Kinder bis heute zur ersten selbständigen Kaufaktion. Wer kann den bunten, süßen Kaugummis oder den Ringen und Spielzeugen aus Plastik schon widerstehen?
 
Marisa Rosato nennt ihre Arbeiten Face Metamorphosis
Ein Gesicht als Ort der Verwandlung
Sie schafft mit Farben und Formen etwas schönes und leidenschaftliches, etwas das Kraft vermittelt. Sie will den Betrachter verführen. Er soll durch die Schönheit der Arbeiten angelockt werden. Sie möchte eine Sehnsucht wecken, die jenseits der Oberfläche des Bildes liegt und Leidenschaft weckt. Sie hat diese Leidenschaft für intelligente Schönheit.
Ich habe ihr einmal eine Nachricht, eine Art Absage geschickt, die ihr noch immer gefällt, das hat sie mir jedenfalls noch am Mittwoch gesagt. So darf ich sie, also mich selbst, zitieren:
 
Prof. Jörg Boström
Datum: Tue, 10 Feb 2004 12:00:35 +0100
Von: joerg bostroem
An: marisa rosato
Ich bin zur Zeit mit den Gedanken in einer anderen Gegend, als es deine gesendeten Arbeiten sind. Sie zeigen so etwas wie harte Masken von Frauen, die sich nicht angreifen lassen aber wohl gesehen werden wollen. Ein Maskenspiel der Entfremdung scheint es mir zu sein. Sie wirken wie Kriegerinnen des Medienspiels. Man möchte weg sehen, aber sieht immer wieder hin und dann bekommt man zu hören, glotz nicht so. Du artikulierst als Frau und mit Frauen in ästhetischer Partnerschaft den Kult des Weiblichen als Verhüllung und zugleich auch Ausdruck nicht nur, aber auch des Gesichts, als Lockung und Angriff auf den Schauenden. Es sind immer wieder Frauen, welche die gestalterische Formung des Gesichts und des Körpers weiterentwickeln. In alltäglicher Form unter der Haube, hier gemeint als Arbeit der Friseuse, oder im KaDeWe, wo man sie mit Blusen und Blazern in den tastenden Händen beobachten kann. Wehe mich sieht keiner und wehe dem, der starrt. Eine starre Schönheit der farbigen Helme, unter denen sich Gesichter, vielleicht viel zu weich, verbergen. Eine kriegerische künstliche Schönheit aus Amazonien.
 
Nun bin ich sowieso bei mir, also auch beim Papst.
 
Es sind hier
Erinnerungen an den Papst, Münster Besuch 1. Mai '87
Der Papst ist tot. Es lebe der Papst. Ich habe den verstorbenen Papst Johannes Paul II noch bei seinem Besuch in Münster, am 1.Mai 1987 erlebt und mich dabei, wie oft, hinter der Kamera versteckt. Als an Dogmen und formale Inhalte nicht Gläubiger, war ich dennoch Erstaunter über die Wirkung, welche dieser Mann und dieses Amt bis heute auslösen. Auch als Respektierender gewisser ethischer Normen und als Zweifler, der sieht, welche Verrenkungen diese Normen im katholischen System selbst auslösen. Ich habe eine Demonstration von Frauen mit Schildern, Wagen und Kindern erlebt, Kindern, die von Priestern gezeugt und von eben diesen Vätern im Befehlsdunst der Kirche verleugnet werden. Gleichzeitig habe ich die Haltung des Papstes zur Abtreibung generell als ethische Norm respektiert. Die feministische Parole, der Bauch gehört mir, ist doch sehr oberflächlich. Er gehört auch dem Wesen, das darin wächst, jedenfalls für diese Wachstumszeit und zu einem kleinen Teil auch dem Mann, der an diesem Leben beteiligt war. Als Alice Schwarzer die Sternaktion machte, wir haben abgetrieben, sollte meine Frau sich daran beteiligen. Wir wollten damals ein Kind, das später Kim wurde, der als gelungenes Werk hier zuhört. So haben wir nicht unterschreiben. Es wäre auch eine Lüge gewesen. Die Lebensform außerhalb der Menscherechte des Grundgesetzes, des Arbeitsrechts, das die Kirche für sich organisiert, Verlust der Priesterschaft bei Vaterschaft, Verlust des Arbeitsplatzes bei außerehelicher Schwangerschaft, der Zwang zum Glauben an mit dem Verstand nicht nachvollziehbare Dogmen und Glaubenssätze und zuletzt die ständige Kontrolle der Menschen durch die Beichte, all dies würde mich auch bei Wunsch nach Geborgenheit und Sicherheit von dieser Kirche fernhalten, die so viele Menschen in ihren Bann schlägt.
Die Fotografien haben für mich durch die Übermalung einen persönlichen Ton bekommen. Etwas von einer Welt hinter dem "nur" Sichtbaren. Das Ertasten mit dem Malwerkzeug und das Zurückdrängen des Stofflichen der fotografischen Oberfläche.
 
Meinem Freund Manfred Schnell habe ich von unserem Ausstellungsprojekt und meinem Beitrag erzählt. Er hatte nun zum gleichen Bereich im Moment der Sendung zum Tode des Papstes eine Grafik montiert, dessen Teilstücke er aus dem Internet herunter geladen hatte. Eine Nachricht aus dem ständigen Jenseits der virtuellen Welten. Ich füge sie gern hinzu.
 
Papst 14,95
Ein Herz für die Mütter
Himmelsleiter
Fahne und Kopf hoch
..er ist immer da
Fromme Männer
 
 
Annette Bültmann sampelt Flugstraßen
 
Nun schweben sie über uns. Nicht die Engel. Gesehen habe ich selbst schon einige, aber meist zu Fuß. Diese hier sind aus der nächtlichen Beobachtung nachempfundene und in ihren Flugbahnen gelenkte, computersimulierte Nachtwesen. Fledertiere.
In einer Welt aus optischen und akustischen Eindrücken orientiert sich das Gewohnheitstier auf seinen regelmäßigen Wegen, die wiederkehrend ähnlich und doch immer wieder anders sind. Es entsteht aus diesen Eindrücken ein Erinnerungsbild, das beim Menschen hauptsächlich ein visuelles, bei anderen Tierarten, wie den Fledermäusen, auch zum großen Teil ein Hörbild ist. Es sind akustische Bahnen, die wir hier sehen. Mit gespeicherten Informationen werden die neuen Eindrücke immer wieder abgestimmt. Wie in Schläuchen rasen diese, von Annette Bültmann kreierten Wesen durch ihre selbst geschaffene Welt. Wie wir alle, auf Gewohnheitsbahnen und in der unermüdlichen Jagd nach Futter.
Auch in der Luft gibt es regelmäßig benutzte Fluglinien. Fledertiere orientieren sich auf den täglichen Wegen an linienförmigen Strukturen im Gelände, wie Baumreihen, Hecken, Alleen, Wasserläufen. Auf diesen Flugstraßen fliegen sie regelmäßig, zum Beispiel in der Abenddämmerung hin und in der Morgendämmerung zurück, und auch für den Flug ins Winterquartier werden bekannte Wege wieder gefunden.
Auch der Mensch als Gewohnheitstier bewegt sich ja auf täglichen Bahnen, die ihm bekannt sind, auf dem Weg zu seinen täglichen Erledigungen oder Besuchen, bewegt er sich auf Straßenpflaster oder Asphalt, manchmal richtet er aber auch seine Nase nach oben, um die Wolken und die Sterne zu sehen. Über ihm fliegen Fledermäuse in Höhen bis zu fünfzig Metern, die er selten sieht, nun aber hier in anyway, in einem beliebigen persönlichen Weg.
 
 
 
Berliner Horizonte zeigen die Bilder von Michael Haddenhorst.
2003 hat er dieses selbst bestimmte Projekt gestartet.
Im Nicolai Verlag, Berlin hat er dazu einen Verlag gefunden, der das Projekt von Anfang an unterstützt hat. Aus halber Höhe, könnte man sagen. Nicht den großen, fremden Überblick, den das Flugfoto bietet. Nicht die gewohnte Übersicht aus den Cafes von Funkturm und Alex. Es sind mühsam ermittelte und erkletterte Zwischenlagen aus großer Höhe, die bisher eine Mehrheit der Bewohner und Besucher nicht kennt.
 
Hans von Trotha, Verlagsleiter Nicolai Verlag sagt dazu im Buch "Berliner Horizonte":
"Michael Haddenhorst hat sich für die ungewöhnlichen Aufnahmen in diesem Buch für eine Perspektive dazwischen entschieden - er fotografiert nicht vom Boden aus, aber auch nicht aus der Luft. Mit seinen genauen Kenntnissen über Berlin hat er erhabene Positionen ausgemacht, von denen er die Stadt in ihren Horizonten erfassen konnte - Dächer, Türme, Terrassen. Der Betrachter seiner Fotos bleibt so den Wellen der Stadtlandschaft verhaftet, ohne sich in konkreten Situationen zu verlieren. Und aus dieser unwirklich anmutenden Perspektive erschließt sich paradoxer Weise das vollständige Bild der
Stadt.(...) Die herausgehobenen Standorte ermöglichen Bilder, die der Stadtlandschaft Momente hinzufügen, die sonst eine viel weniger bedeutende Rolle spielen: Lichtwechsel, Wolkenformationen und die unendliche Weite bis zum Horizont jenseits der Stadtgrenzen."
 
Stefan Warter Gilles Lalay Classic, Bilder vom Rennen
 
Die Fotos entstanden als Auftragsarbeit für den Stern. Das Thema wurde von Stefan Warter selbst vorgeschlagen - eine Reportage über das schwerste Offroad Rennen der Welt. Extreme Geländefahrt.
Der Titel"Gilles Lalay Classic" ist benannt nach einem mehrfachen Paris-Dakar Sieger, der Ende der 80er tödlich verunglückte.
Das Rennen findet jedes Jahr im Februar in Frankreich in der Nähe von Limoges statt. 250 Starter gehen ab 5 Uhr morgens auf die Strecke. Unwegsamstes Gelände. Um 12 Uhr eine Stunde Pause, danach dürfen die besten 70 weiterfahren. Wer bis Mitternacht im Ziel ist wird gewertet.
Die Härte des Rennens ist legendär. 1995, im Jahr als die Fotos entstanden, kamen 4 ins Ziel. Viele Passagen sind nur durch Hilfe passierbar. Schlusspunkt ist ein Skihang, der von unten her gefahren wird. Wichtig für den Fotografen war die Dynamik, die Anstrengung zu zeigen, die in diesem Sport steckt. Diese spezielle Atmosphäre aus Dreck, Wasser, Schlamm, unglaublicher Anstrengung, Erschöpfung - eine Grenzerfahrung. Darüber hinaus aber die Ästhetik nicht aus den Augen zu verlieren - die Schönheit der Momente zu erfassen.
Stefan Warter hat eigene Wettbewerbserfahrung in diesem Sport. Er hat ihn selbst sieben Jahre ausgeübt. Nur mit einem Motorrad und dem Fotorucksack war es ihm möglich, die schönsten Stellen zu erreichen. Da es die ganze Zeit regnete, waren nach drei Stunden von drei mitgenommenen Kameras zwei kaputt - die dritte hielt dann aber bis Mitternacht. Man sieht es den Bildern an, wie nah der Fotograf an der Szene war.
 

Christiane Haid stellt ihren Bildern einen Satz zur Seite:

"Innere Entwicklung stillgelegt, weil draußen soviel los war.

Du verlässt die Stadt. Umzug. Um zu gehen.
Um wieder zu kommen, einen Augenblick zu erzeugen. Stille.
Die nötige Stille um die eigenen Gedanken zu hören.
Sind zu laut. Genügend Lautstärke um sich zu vergessen.
Ach, Berlin."

Zur Finissage am 12.9. waren zu Besuch: picture sonic circulate - Jörn Schulz und Bert Polten - Kurzfilme. Die Filme entstehen per E-Mail: zu einem Bild werden jeweils 3 Sekunden Sound erzeugt, dann wieder ein Bild, wieder 3 Sekunden Sound, usw... bis es z.B. 100 Bilder sind. Manchmal sind auch die Sounds die Vorgaben, dazu entsteht dann ein Bild, oder manchmal werden die Filme mit abwechselnden Bild-Ton-Vorgaben erzeugt. Es enstehen jeweils mehrminütige Bild-Ton-Sequenzen, die experimentell aber doch flüssig wirken. Aus Linie und Formen tauchen Objekte und Tiere auf, auf der Tonspur findet sich manchmal Entsprechendes, Tierstimmen, Jodler und Geräusche formen sich zu Musik. Die Sequenzen tragen Titel wie "wellensender 8:58min". Weitere Informationen zu dem Projekt gibt es bei: psc-info@web.de

Anschliessend wurde das gleichzeitig mit der Finissage stattfindende Berlin-Bielefelder Ehemaligentreffen im Restaurant Aotearoa fortgesetzt, wo man die Neuseeländische Küche kennenlernen und Ausstellungserlebnisse austauschen konnte.