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Valérie Wagner
 
DIESSEITS - Idee und Intention
 
Die Idee, eine fotografische Arbeit über Nonnen und Mönche in der Großstadt zu realisieren, entstand Anfang 2000 bei einem Aufenthalt im Benediktinerkloster Nütschau bei Hamburg. Ich war überrascht, direkt vor den Stadtgrenzen Hamburgs ein Kloster mit kontemplativ lebenden Mönchen zu finden, in einer Zeit, die zunehmend von anderen Lebensentwürfen bestimmt ist.
Das Thema ließ mich trotz anderer künstlerischer Schwerpunkte in den darauf folgenden Jahren nicht los. Im Jahr 2003 habe ich schließlich das Projektkonzept "DIESSEITS - Nonnen und Mönche in Hamburg" entwickelt:
Das Persönliche und das Öffentliche als inhaltliches und formales Spannungsfeld bilden dabei den Rahmen des Projekts.
 
Da ich das Individuum in den Mittelpunkt stellen wollte, habe ich mich gegen ein Ganzkörperportrait entschieden, denn dabei wäre zunächst die Ordenstracht ins Auge gefallen. Stattdessen wählte ich ein Triptychon aus Gesicht, Händen und Füßen. In den Augen und Gesichtszügen spiegelt sich die Persönlichkeit; die Hände und Füße erzählen vom gelebten Leben: sie verraten viel über das Alter, die Tätigkeiten, die körperliche Befindlichkeit und getragene Lasten.
Während der Projektvorbereitung habe ich Kontakt zu Ordensgemeinschaften unterschiedlicher Konfessionen und Religionen in Hamburg aufgenommen: Voraussetzung für eine Teilnahme am Projekt war das Leben in Gemeinschaft und/oder die monastische zölibatäre Lebensform innerhalb der Hamburger Stadtgrenzen. Im Laufe der Recherche stieß ich auf ca. 30 religiöse Gemeinschaften. Oft unsichtbar leben die dazugehörigen - aus den verschiedensten Ländern der Welt stammenden - Nonnen, Mönche, Schwestern und Brüder mitten in der Großstadt Hamburg ein Leben, das sich in vielerlei Hinsicht von dem der anderen Stadtbewohner unterscheidet:
Neben der zumeist zölibatären Lebensform haben sich diese Menschen für ein Leben jenseits materieller Werte entschieden. Aus welcher Motivation heraus auch immer diese Entscheidungen gefallen sind - die daraus entstehende Lebensweise konzentriert sich auf Werte wie Demut, materielle Bescheidenheit, Enthaltsamkeit und den Dienst am Nächsten und mutet damit im Jahr 2005 inmitten einer Weltstadt lebensfern, altmodisch und wenig zeitgemäß an. Bei dieser Fragestellung liegt der Kernpunkt meines fotografischen Projekts:
Mich interessieren die Schnittstellen zwischen dem, was als zeitgemäß proklamiert wird einerseits und dem Leben in religiösen Gemeinschaften in der Großstadt andererseits. Durch den Ausstellungstitel DIESSEITS wird die Polarisierung von "anderem jenseitigen" Leben und "normalem diesseitigen" Leben in Frage gestellt.
 
Es hat mich gereizt, eine fotografische Serie zu dem Thema zu erstellen und Bilder für eine - auf dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen - unkonventionelle Lebensweise zu finden und damit Unsichtbares sichtbar zu machen.
Welche Wertvorstellungen bringen die in Hamburg lebenden Nonnen und Mönche mit - von einem glücklichen, erfüllten Leben, von ihrem Platz in einer Gesellschaft, deren Werte sie nicht teilen? Und umgekehrt: Was bleibt eigentlich, wenn materieller Besitz, beruflicher Erfolg und eine respektable soziale Stellung wegfallen?
Es geht mir um die Menschen, die sich für einen Lebensweg entschieden haben, der Konventionen unserer Gesellschaft über Kriterien für ein erfolgreiches Leben außen vorlässt und damit Mut zum Anderssein erfordert.
 
Die Aufnahmen, die ich nach zahlreichen Vorgesprächen im März 2004 begann und ein Jahr später abschließen konnte, sind so unterschiedlich wie die Ordensleute selbst: Je nach Persönlichkeit habe ich bei den Ausschnitten und der Lichtgestaltung verschiedene Schwerpunkte gesetzt. Die Ordensleute wurden gebeten, für die Handfotografien einige Gegenstände auszuwählen, die für sie von besonderer persönlicher Bedeutung sind, auch jenseits eines religiösen Kontextes. So war es möglich, noch mehr über die persönlichen Vorlieben der Portraitierten zu erfahren und ins Bild zu setzen: Schwester Cäcilie z.B. entschied sich neben der Bibel für ihre Schreibmaschine (sie ist gelernte Sekretärin und schreibt gerne eigene Texte) und einen Apfel (sie isst sehr gerne Äpfel). Schwester Immaculata wählte außer dem Rosenkranz und Weihrauch auch einen Fächer, der sie an ihre Heimat Vietnam erinnert.
Die Fußaufnahmen waren für die Ordinierten mit Abstand die größte Herausforderung: Gerade die älteren unter ihnen taten sich schwer damit, ihre vom Leben gezeichneten Füße zu zeigen. Hinzu kam, dass die meisten Aufnahmen während der kalten Jahreszeit entstanden sind, teils im Schnee oder in Regenpfützen, auf Kanaldeckeln oder Rolltreppen. Während ich mir für die Kopf- und Handaufnahmen viel Zeit ließ, wurden die Fußbilder aus Rücksicht auf die Ordensleute meist in wenigen Minuten aufgenommen, immer in unmittelbarer Umgebung des Klosters oder Konventes.
Für die meisten Ordinierten war es das erste Mal, dass sie portraitiert wurden und die wenigsten haben sich in der Rolle des "Modells" anfangs wohlgefühlt.
Die Anspannung löste sich aber schnell durch die interessanten Gespräche während des Fotografierens. Für mich wurden viele Aufnahmesessions zu besonderen und nachhaltigen Begegnungen mit den Ordensleuten; über die Auswahl der Gegenstände entstanden immer wieder angeregte Gespräche über wichtige Aspekte ihres Lebens.
Ich war überrascht, wie sehr sich die einzelnen Ordensgemeinschaften in ihrem Ansatz und ihren Tätigkeitsbereichen voneinander unterscheiden und wie unterschiedlich die einzelnen Ordinierten leben. Genauso auffallend war aber auch das verbindende Element über alle Konfessionen und Religionen hinweg.
 
Für den Katalog habe ich zusammen mit der Journalistin Alexandra Frank einen Fragebogen für die Ordinierten entworfen, in dem diese die Möglichkeit hatten, selbst zu dem Projekt und ihrer Teilnahme Stellung zu beziehen und ihre persönlichen Beweggründe, auch für die Wahl des Gegenstandes, mitzuteilen. Die Antworten wurden von Alexandra Frank überarbeitet und mit den Ordinierten abgestimmt.
Da die Ausstellung nicht an einem Ort stattfindet, sondern an 13 Stationen über die Innenstadt verteilt ist, ist der Katalog ein wichtiges Mittel, um das gesamte Projekt zu bündeln und darzustellen. Außerdem eröffnet er den Ausstellungsbesuchern die Möglichkeit, sich mit Hintergrundinformationen auseinanderzusetzen und damit das Projekt - anders als bei der vorwiegend assoziativen Erfassung der Bilder im öffentlichen Raum - auch auf einer konzeptionellen Ebene zu begreifen.
 
Es war mir von Anfang an ein Anliegen, mit diesen Portraits nicht in die Abgeschlossenheit von Kirchen und anderen Ausstellungsräumen zu gehen, sondern - aus der Klausur heraus - normalerweise unsichtbare Lebensformen sichtbar und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
 
Mit der Präsentation von Portraits Hamburger Nonnen und Mönche im öffentlichen Raum, insbesondere an Orten, die in einem Spannungsverhältnis zu der Lebens-weise der Portraitierten stehen (die kommerziellen und touristischen Zentren der City), stelle ich Bilder einer Randgruppe in den Mittelpunkt und damit zwischen die Bilder unserer Alltags-Welt: So entstehen Räume für eine "Gegenwelt".
 
Die Fotografien der Openair Galerie erreichen die Menschen im Alltag/Bekannten und führen sie ins Unbekannte. Auf diese Weise möchte ich Menschen erreichen, die normalerweise weder mit Kunst noch mit Kirche in Berührung kommen.
Der Parcours selbst stellt eine Analogie zur Pilgerschaft, dem inneren und äußeren Unterwegssein der Ordensleute dar; Hamburger und ortsfremde Ausstellungsbesucher sind eingeladen, sich selbst auf den Weg zu machen, um das Herz Hamburgs von einer neuen Seite kennen zu lernen.
Bei der Wahl der Standorte war es mir wichtig, sowohl eine Brücke zwischen weltlichen und geistlichen Orten als auch zwischen Alt und Neu zu schlagen: die ältesten Viertel Hamburgs werden mit dem jüngsten, neu entstehenden Stadtteil HafenCity verbunden (aktuelle Bilder des Parcours sind unter www.valeriewagner.de zu sehen).
 
Die Präsentation der Portraits im öffentlichen Raum stellt eine künstlerische Arbeit mit Gegensätzen dar:
Kunst und Religion suchen normalerweise den geschützten Raum und werden dort auch angesiedelt; der Bruch mit dieser Konvention erzeugt Aufmerksamkeit und Irritation. Eine künstlerische Auseinandersetzung mit religiösen Lebensformen findet an Orten statt, wo sie zunächst nicht erwartet wird.
 
Auch die Form der Präsentation spielt dabei eine wichtige Rolle:
Großformatige Bilder an Gebäudefassaden werden zunächst mit Werbung assoziiert. Auch auf dieser Ebene spiele ich mit Sehgewohnheiten und Erwartungen - die Aufmerksamkeit der Betrachter wird zwar durch das Format und den großen Abbildungsmaßstab angezogen, die Erwartung von Werbeinformation wird aber nicht erfüllt.
Stattdessen öffnen sich Assoziationsräume, die irritieren und zu Fragen einladen - Antworten werden nur angedeutet, müssen aber vom Betrachter selbst assoziiert und gefunden werden (Schilder vor Ort weisen auf den Kontext des Gesamtprojekts hin).
Es ist meine Absicht, den Betrachter zum Innehalten zu veranlassen, zum genauen Hinsehen, zum zweiten Blick.

Openair Galerie Hafen+City, Pressetext

DIESSEITS

Nonnen und Mönche in Hamburg - ein fotografischer Parcours im öffentlichen Raum von Valérie Wagner

In der Auseinandersetzung und Begegnung mit Ordinierten unterschiedlicher Konfessionen und Weltreligionen hat Valérie Wagner ein fotografisches Projekt entwickelt, das die Visualisierung religiöser Lebensformen in Hamburg zum Thema macht. Das Persönliche und das Öffentliche als Spannungsfeld bilden dabei den inhaltlichen Rahmen: Durch die Inszenierung der Ausstellung im öffentlichen Raum wird eine visuelle Präsenz für eine andere, normalerweise unsichtbare Lebensweise in Hamburg geschaffen und ein Ort der Ruhe und Konzentration genau da kreiert, wo Zerstreuung, Konsum und Informations-überfluss am stärksten erfahrbar werden.

Die Fotokünstlerin hat die zumeist zurückgezogen lebenden Ordensmitglieder in ihren Gemeinschaften aufgesucht und im Dialog mit ihnen außergewöhnliche Portraits entwickelt, die das Individuum in den Mittelpunkt stellen:
Die Gesichter/Augen, Hände und Füße der portraitierten Nonnen und Mönche stehen als unmittelbarer Ausdruck der Persönlichkeit im Zentrum der fotografischen Serie.
Mit Mitteln der Fotoinszenierung wird der Bezug zu Gegenständen des Alltags und zur Umgebung hergestellt: Die Portraitierten halten in ihren Händen einen Gegenstand, der für sie von besonderer persönlicher Bedeutung ist, während die nackten Füße in der städtischen, von Material und Anmutung her harten Umgebung aufgenommen wurden.
Die Aufnahmen konzentrieren sich auf Details und Ausschnitte einer Person und wurden zu einer neuen Einheit in Form eines Triptychons zusammengefasst, die den jeweiligen Menschen und sein Verhältnis zur Welt außerhalb der Ordensgemeinschaft beschreibt.
Für die 3. Triennale der Photographie Hamburg wurde ein gut einstündiger Ausstellungs-Parcours mit 17 großformatigen SW-Portrait-Stationen entwickelt, der von der City über die Hauptkirchen und die Speicherstadt zur Hafencity führt.

Valérie Wagner:
Nach einem Studium der Freien Kunst in London lebt und arbeitet Valérie Wagner seit 13 Jahren als freie Fotografin und Künstlerin in Hamburg. Die Ausstellungstätigkeit der letzten 3 Jahre umfasst u. a. Einzelausstellungen im Museum der Arbeit Hamburg und im Institut Français Hamburg. Eine weitere Einzelausstellung ist für Anfang 2006 in der Axel-Springer-Passage/Hamburger Abendblatt geplant. Valérie Wagner wird durch die Bildagenturen plainpicture und bildkontor.com vertreten.

DIESSEITS
9. Juni bis 31. Juli

Weitere Informationen unter: www.valeriewagner.de und www.phototriennale.de

Der Katalog zur Ausstellung ist erschienen beim Sankt Ansgar Verlag: DIESSEITS, 48 Seiten, 9,50 Euro; ISBN 3-932379-99-3.