Zum InhaltsverzeichnisVirtuelles Magazin 2000 

Annette Bültmann

 

Flugstraßen

 

In einer Welt aus optischen und akustischen Eindrücken orientiert sich das Gewohnheitstier auf seinen regelmäßigen Wegen, die wiederkehrend ähnlich und doch immer wieder anders sind. Es entsteht aus diesen Eindrücken ein Erinnerungsbild, das beim Menschen hauptsächlich ein visuelles, bei anderen Tierarten, wie den Fledermäusen, auch zum großen Teil ein Hörbild ist. Mit den gespeicherten Informationen werden die neuen Eindrücke immer wieder abgestimmt. Es wird nach Ähnlichkeiten und Unterschieden gesucht, und auch der Mensch speichert und erkennt Hörbilder, wie leise plätscherndes Wasser, und kann sie einem visuell entsprechenden Bild zuordnen, wie einem See im Mondlicht.

Irgendwo am Weg zirpen Grillen, und schmale Öffnungen im Gras führen ins Gelände, Spuren von Tieren auf regelmäßig benutzen Tierpfaden. Wildschweine, Rehe und Hirsche bewegen sich, zum Beispiel von Ruheplätzen zu Wiesen, auf so genannten Wildwechseln. Kleinere, von Hasen und Füchsen ausgetreten, kreuzen diese Wege. Noch schmalere, von kleineren Nagetieren, verzweigen sich wiederum von diesen, ein Netzwerk der Pfade durchläuft die Wildnis. Auch Pflanzen verbreiten sich mit den Tieren auf diesen Wegen, und in trockenen Gegenden lässt sich Wasser finden, indem man zusammenlaufenden Tierpfaden folgt, die sich an Wasserstellen treffen.

Wie lange mögen schon Pfoten auf diesen Wegen laufen, vielleicht seit Jahrhunderten? Im dichten Dschungel können die Wege tunnelartige Formen annehmen, Auge, Ohr und Geruchssinn wirken zusammen bei den sich hier bewegenden Tierarten. Im Urwald, im Bambusdickicht, auf Berge hinauf, in Täler hinein und wieder heraus, in der dichten Vegetation genauso wie in der Steppe, finden sich die Spuren von Füßen, und auch in der Luft gibt es regelmäßig benutzte Fluglinien. Fledertiere orientieren sich auf den täglichen Wegen an linienförmigen Strukturen im Gelände, wie Baumreihen, Hecken, Alleen, Wasserläufen. Auf diesen Flugstraßen fliegen sie regelmäßig, zum Beispiel in der Abenddämmerung hin und in der Morgendämmerung zurück, und auch für den Flug ins Winterquartier werden bekannte Wege wieder gefunden.

Auch der Mensch als Gewohnheitstier bewegt sich auf täglichen Bahnen, die ihm bekannt sind, auf dem Weg zu seinen täglichen Erledigungen oder Besuchen, bewegt er sich auf Straßenpflaster oder Asphalt, manchmal richtet er aber auch seine Nase nach oben, um die Wolken und die Sterne zu sehen. Über ihm fliegen Fledermäuse in Höhen bis zu fünfzig Metern, der Riesenabendsegler auch noch erheblich höher, darüber Zugvögel in Höhen von mehreren Kilometern, und Flugzeuge in einer Reiseflughöhe von um die zehn Kilometer, und noch höher oben, Hunderte oder sogar Tausende von Kilometern über der Erdoberfläche, kreisen Satelliten, auf dem Weg zur Entwicklung von künstlicher Intelligenz, oder auch auf dem Weg zum Weltraummüll, beinahe ewig kreisend auf den gleich bleibenden Umlaufbahnen wie die in regelmäßigen Zeitabständen wiederkehrenden Kometen.