Zum InhaltsverzeichnisVirtuelles Magazin 2000 

Annette Bültmann, Jörg Boström

Leere und Vision

zum dritten Mal in der Radewig vom 4. November bis 19. Dezember

Ein Experimentierfeld für die visuelle Erfindung, ein Entwicklerbad für die Kunst an der Schnittstelle zwischen Alltag und Akademie, so stellt sich die dritte Präsentation des Projektes LEEREXVISION in Herford vor die Augen der Besucher. 40 Studierende und Meisterschüler der Kunstakademie Münster sind es in diesem Jahr 2004, die mit dem Kurator Jan Hoet mit seiner Konzeption Coming People in der Radewig zu einem Streifzug durch eine gegenwärtige Kunstszene anregen. Mit dem Flyer der Einladung, den roten Punkten an den Schaufenstern, mit dem vergleichenden Zahlenspiel lockt die Aktion den Besucher durch die Straßen und Plätze, zu Blicken durch die Schaufenster der Geschäfte, zu forschendem Erkunden künstlerischer Objekte und Installationen. Eine visionäre Schnitzeljagd, welche die Erwachsenen wieder zu Kindern macht, die eingehen können in das Bilderreich der Kunst. Die Einbettung in den realen Alltag, das Herausströmen der Kunst aus den vorgegebenen Wänden und Räumen der Museen und Galerien bringt die Arbeiten in einen neuen Dialog mit den Räumen und den Bürgern. Es bringt dazu die Künstler selbst in eine neue Auseinandersetzung mit der Realität. So entstehen Gestaltungen, welche den Charakter der räumlichen Vorgabe zu Präsentationen und Montagen wie in einem Schaufenster nutzen. Die Kunst verwandelt nicht nur die Welt des Quartiers. Das Quartier selbst verwandelt sich in eine Installation. Wieder wird es zur Bühne der Kunst.

Aus dem historischen Schieferbau, Leerstand bisher und früher der "Grüne Wenzel", wird nun Werkraum, MARTA Lounge LEEREXVISION, Café und Treffpunkt für Künstler und Besucher.

 

Im Fenster der Bürgerberatung betrachten hinter Glas stehende Strandfotos den Betrachter auch bei feuchtkühlem Nieselwetter.

Bei dem Rundgang durch Steinstrasse, Gänsemarkt und Janup bekommt man in den von LeereXVision Teilnehmern gestalteten Schaufenstern Ungewöhnliches zu sehen.

Da gibt es eine elektrisch angetriebene bewegte Plattform, auf der Anzüge und Kleider rotieren, dazu läuft aus einem Lautsprecher Musik, so dass die Kleidungsstücke tanzen. An einem anderen Ort sind unbekannte Insektenarten wahrscheinlich aus Pflanzenteilen entstanden. Ein spanischer Designertisch, an dem anscheinend ein Stierkampf geübt worden ist, fällt mit geschmückten Spießen als Kunstobjekt zwischen anderen Möbeln erst beim zweiten Blick ins Auge. In der Boutique "Die Herforderin" werden Kleidungsstücke von Herforder Einwohnerinnen ausgestellt. Im Keller dieses Hauses kann man nach Anleitung von einem Videoband Gummitwist üben. Aber den dort ausgelegten roten Teppich wird man vielleicht lieber nicht betreten. Er besteht aus kleinen Feuerwerkskörpern. Sie ist eben eine interessante und vielleicht auch latent explosive Ausstellung, die Leere und Vision 2004 mit über 40 teilnehmenden Künstlern im Quartier Radewig.

Wie ein magisch verfremdetes Antikangebot liegen Figuren, Köpfe und Objekte im Schaufenster, als sei das Geschäft nun neu eröffnet für einen Stadtgang in einem verzogenen Traum. Vielfach überformt und gebrochen erscheint hier die Wirklichkeit am Ende der Kaufzone. Es entsteht unter der visionären Arbeit der Künstler eine Welt, die das Tägliche und Gewohnte durch leichte und starke Drehung ins Überraschende wendet wie etwa eine Kleiderinstallation in permanenter Drehung, welche so den Wunsch zu kaufen weckt und gleich wieder verwischt.

Wo sonst Frauenbeine durch Strümpfe Verschlankung versprechen und Männeraugen zum Genuss einladen, an erotisches Aus- und Anziehen in Filmen erinnern, sind sie plötzlich eingepflanzt in Blumentöpfe und stechen in die Augen wie Kakteen.

Ein schönes, wieder leer stehendes Schiefer- und Fachwerkhaus an der Aa, dem Brückentor zur Radewig, zeigt in den überdachten Fenstern Fotografien von verhüllten Gesichtern, welche an den Schrecken des Terrors erinnern.

In der Jakobikirche suchen die Besucher noch länger als in manchen Fenstern nach der Kunst. Dann entdecken sie unter dem Kronleuchter einen Hirschkopf, der sonst wohl nicht in einer Kirche zu finden ist. Die Künstlerin hat in dennoch in der Sakristei entdeckt und unter den Leuchter montiert. Er sei doch ein Symbol männlichen Stolzes und entsprechender Fruchtbarkeit. Darunter ihr Text auf dem Boden spielt an auf den Machokampf jung gegen alt. In der Kirche sei das auch nötig, meint der Begleiter, da gäbe es zu viele alte. Ein älterer Besucher mit schützender Mütze brummt: aber wo bleiben die jungen.

 

So bietet diese neue Kunst in der Radewig dem Betrachter neue Sichten, eine veränderte Wahrnehmung des Gewohnten, ein Nachdenken und Neudenken und den eingeladenen Künstlern ein reales Umfeld, eine Konfrontation mit dem Heimischen und Fremden und der gesamten Inszenierung etwas von dem, was Bert Brecht einmal den Verfremdungseffekt genannt hat. Faszination zugleich und Distanz, zur gewohnten Umgebung, die nun neu und fremd wirken kann und zu sich selbst, der seiner Sache nun nicht mehr so sicher und selbstzufrieden gelangweilt bleiben kann wie vielleicht noch vor einem solchen Rundgang durch die Radewig und später dann durch andere Orte der scheinbaren und nun etwas gestörten Vertrautheit.