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Jörg Boström

 

Die fotografischen Wirklichkeiten von Jürgen Escher

Jürgen Eschers fotografisches Thema, das Leitmotiv seiner Arbeit, ist, nach seinen Worten, die Würde, die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. Er arbeitet als Fotograf vorwiegend in den Ländern der “dritten Welt“, in Asien, Lateinamerika, Afrika. Seine wesentlichen Arbeiten zeigen nicht so sehr die Ausnahmesituationen sondern den Alltag in weit abgelegenen Bereichen indianischer oder afrikanischer Lebensformen. Oft sind es dennoch auch Krisensituationen. Bei seiner Fotoarbeit geht Escher auf die Menschen und ihre Lebensgestaltung ein. Er lebt mit ihnen, wenn es geht über Wochen und Monate. “Keins meiner Bilder“, sagt er, “ist ohne das Einverständnis der Fotografierten entstanden“. Eschers Bilder meiden das Sensationelle ebenso wie die europäische Attitüde des Mitleids oder der ethnografischen Neugier. Seine Menschenbilder strahlen Selbstverständlichkeit und Selbstbewusstsein von Menschen aus, die anders leben als wir- aber doch deshalb nicht unbedingt schlechter. “Als Fotograf“, sagt Escher, “fühle ich mich der Tradition der sozial engagierten Fotografie verpflichtet. Diese Fotografie war von Anfang an darauf ausgerichtet, Veränderungen zu bewirken.“ Veränderung im Sinne Eschers, das meint hier wenigstens teilweise Korrektur der Schäden, welche der Einbruch der westlichen Zivilisation und des Christentums in diesen Kulturen angerichtet hat. In der Konsequenz entstehen viele seiner Bilder im Auftrag von sozial engagierten und kirchlichen Organisationen.

 

Die persönliche Betroffenheit und der Respekt vor dem anderen, manchmal sehr anderen Menschen ist in den ruhig und fast klassisch komponierten Bildern von Jürgen Escher immer spürbar und Bild bestimmend. Seine fotografische Arbeit ist zugleich ein Plädoyer für Mitmenschlichkeit und Toleranz.

Escher ist ein sozialkritischer, politischer Fotograf, der sinnliche, hochgradig emotional geladene Argumente für eine überfällige Veränderung in den Machtstrukturen und der internationalen Zusammenarbeit bereitstellt. Fotografie als eine Kunst des Wirklichen zwischen subjektiver Leidenschaft und Leidensfähigkeit, als Einfühlung in die Leiden eines Kontinents, gestaltet hier das Wirkliche als das Schwererträgliche. Von einem Europäer und für europäische Auftraggeber fotografiert, treiben diese Bilder Nägel in selbstgefällige Augen. Sie erfüllen den Auftrag und zerstören ihn zugleich.

Sie entstehen aus einem ähnlichen Impuls wie eine andere widerspruchsvolle Bewegung im kirchlichen Bereich: die Theologie der Befreiung. Jürgen Eschers fotografische Arbeit folgt auf die spätkolonialistische Phase des Bildjournalismus, dem sich die Welt als Safaripark voller Beutetiere präsentierte. Sie schließt sich an diese Phase an und macht ihr den Garaus

Hautnah, heißt eine seiner Arbeiten . Hautnah ist die Darstellung. Sie ist sowohl emotional wie fotografisch nah am Menschen. Sie bringt diese Afrikaner, die wir in Reportagen aus der Ferne als Opfer und Flüchtlinge erleben, an die wir auch im Alltag unserer Straßen nicht nahe an uns heranlassen, sie bringt diese Menschen zu uns in Augenhöhe. So nah an unser Gesicht, wie sonst nur sehr persönliche Freunde und Geliebte Menschen kurz vor der Umarmung, vor dem Begrüßungskuss. Escher stellt mit den optischen Möglichkeiten seiner Kamera so etwas her wie einen sozialen Dialog von einer Dichte, wie sie selbst bei uns in unseren Familien selten geworden ist. Dabei gerät die Kamera an eine auch für sie charakteristische Grenze ihrer optischen Möglichkeiten. Fotografie ist zunächst und immer wieder ein Medium der Oberfläche. Genauer und vollständiger als unsere Augen, die tastet sie zunächst ohne Auswahl die Welt ab nach dem Sichtbaren, dem Äußeren der Räume, Dinge und Menschen . Diese Genauigkeit verwendet Jürgen Escher bei der vorliegenden Arbeit zur Verbindung zwischen Menschen, die sich sonst sehr ferne sind. Man sieht hautnah die Oberfläche der Gesichts porenscharf. Durch anschließende Unschärfe fast in die Ferne gerückt verschwimmen die zurückliegenden Gesichtspartien. Immer fokussiert ist das Auge des fremden Menschen, der sich mit unserem Blick verbindet zu einer Begegnung wie in sehr vertrauter Familie, in sehr enger freundschaftlicher Beziehung. Wir Menschen, das sagen diese Bilder, sind uns nahe. Wir begegnen uns, blicken uns an und erzählen schmerzliche, hoffnungsvolle, intime, organisatorische und planerische Details aus unserem Leben. Was haben wir gelernt, woran arbeiten wir, wo und wie tief sind unsere Verletzungen., was erwarten, worauf hoffen wir? Dies ist nicht mehr der ferne Bereich des dunklen Erdteils, der früheren Kolonie, die wir meinen, kultiviert zu haben.

Grenzsituationen, Übergangsgesellschaften, Kolonien im Abseits, Lebensverhältnisse, die einer besonderen Gefährdung ausgesetzt sind, bilden für Escher ein immer neu faszinierendes Thema.

Jürgen Escher erzählt mit seinen fotografischen Geschichten nicht nur etwas über die beobachtete, vorgefundene Situation. Er zeigt zugleich Ansätze der Hoffnung auf ein gleich berechtigtes Zusammenleben, auf eine bessere Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft.

Ich möchte in diesem Raum, in welchem Eschers Fotografien zu sehen sind, welcher der christlichen Arbeit gewidmet ist, in dem Menschen versuchen, die Lehre des weit entfernten Jesus aus einem nahöstlichen Kulturkreis zu begreifen und zu vermitteln, in dem die dargestellten Menschen als Bilder, der Darsteller selbst aber als Mensch anwesend ist, neben der menschlichen Nähe auch die der Zeit und der Ereignissen nahe bringen. Jürgen Escher arbeite seit mehr als 20 Jahren auf und für die Cap Anamur . Er war auf dem Schiff, das von der italienischen Küstenwache aufgebracht, mit einem immensen Aufwand an Militär, Booten und Waffen eingebracht wurde, um die Beasatzung und 27 Flüchtlinge, welche das Schiff aus Seenot rettete, zu verhaften und ins Gefängnis zu bringen. Die Mauer um Europa wird immer dichter, sie wird zu einem militärisch abgesicherten Wall. Wir sind dabei, uns einzusperren vor der übrigen Welt und ihren Werten und Problemen, bis wir im eigenen Dunstkreis ersticken. Die chinesische Mauer, die Berliner Mauer, der Limes der Römer in Germanien, die unmenschlich hohe Trennwand zwischen Israel und Palästina, immer wieder versuchen Menschen ihre Schwierigkeiten der Begegnung mit Mauern zu lösen, welche sie immer wieder gegenseitig zu Gefangenen ihrer selbst machen. Und niemals hat dieser Versuch zu einer Lösung geführt. Immer wieder aber zu Implosionen auch großer Reiche. Der Lernprozess ist mühsam und beinahe hoffnungslos. Für dieses Haus hat ein Mensch gelehrt, der sagte: Liebet eure Feinde. Das ist sicher einer der kühnsten Gedanken seiner Lehre. Er spricht aber auch vorsichtiger: Liebet euren Nächsten wie euch selbst. Ein anderer Denker, welcher wütend angesichts des Elends und der Dummheit der Welt behauptet, Gott ist tot. Derselbe sagt uns: Ich lehre euch die Fernsten Liebe. Die Bilder von Jürgen Escher bringen uns das Fernste nah.