Zum InhaltsverzeichnisVirtuelles Magazin 2000 

Jörg Boström

Vor der Wand - hinter der Wand

ZEITZEICHEN von Martin Büttner

Bilder aus der DDR und der ehemaligen DDR

Was zeigen fotografische Bilder von einer Welt, die es bald nicht mehr geben wird, von der Behausung einer Gesellschaft, die bei dem Versuch, sich sozialistisch zu organisieren, gescheitert ist, die sich mit den gedrückten Menschen unten und oben mit dem Dachdecker auf dem First und als Poster an den Wänden, dünn lächelnd auf Hellblau, so hoffnungsvoll und chancenlos überforderte? Welche Zeichen setzt sie sich selbst? Welche Zeichensprache fügt daraus Martin Büttner zusammen? Er ist ein Fotograf mit feinen Nerven und einem empfindlichen Gefühl für Abstand und Takt. Er setzt seine Bilder behutsam aus Beobachtungen zusammen, fügt zu klaren Kompositionen, was sich vor seinem Auge in flüchtigen, vorüberziehenden Szenen entwickelt. Wie stellt sich die alte DDR dem Auge dar? Als ich das erste Mal im Herbst 1987 Teile dieses anderen Landes im Wagen und zu Fuß an mir vorbeistreichen ließ, hatte ich das Empfinden, in einem stillen Traum zu waten, mit sich verzögerndem Ablauf der Zeit. Ausschnitte davon hatte ich irgendwann, in meiner Kindheit in Thüringen, schon einmal gesehen. Das Gefühl einer Zeitverschiebung ließ mich dieses Land unwirklich erscheinen. Menschen, Wände und Dinge schienen nicht aus meiner Gegenwart zu stammen, Hauswände, Fenster und Figuren blieben entfernt wie hinter einer Lufthülle aus flüssigem Nebel. Tage aus Blei. Die vorliegenden Bilder treffen für mich diese Erfahrung und ich reagiere darauf wie auf einen alten Film auch aus meinem Leben. Ich sehe, daß dieser Fotograf nicht nur in kleinen Szenen Geschichten erzählt, sondern auch in konzentrierten Bildern Geschichte schreibt, die einem kollektiven Unterbewußtsein unseres Volkes antworten. Langsamkeit, Ruhe, stillgelegte Zeit und allmählicher Verfall. Es ist wie ein Besuch bei einer alten Dame. Heute wissen wir, daß Martin Büttner schon damals eine untergehende Welt fotografierte, für ihn selbst erschien sie als ein fremdes, abgeschlossenes Land , eine Provinz im Abseits, in dem man auch unsere Sprache spricht. Etwas schwer erklärbar Liebenswertes halten seine Bilder fest, selbst dann noch, wenn man weiß, welcher Druck vielen Menschen lastete und wie trügerisch diese durch Absperrung verordnete Sicherheit war. Der fremde und einfühlende Blick des Reisenden und seine Kamera modellieren Denkwürdigkeiten heraus. In den Fotografien spüre ich das Erstaunen über altgewordene, leere Straßen, über wartende Menschen, die viel Zeit zu haben scheinen, über fast verkehrsfreie Plätze, verhangene Geschäfte, in denen dennoch einiges verkauft wird. In Höfen und vor feinrissigen Mauern belauscht die Kamera eine abgeschirmte, wispernde Gesprächigkeit, eine sichtbar gewordene Privatheit, die hinein in die öffentlichen Räume reicht. Wie ein angehaltener Atem steht die Luft in diesen Straßenräumen still.

Heute wäre es leicht, zu behaupten, Martin Büttner fotografierte die Stille vor dem Sturm. Er hat es nicht so empfunden. Er sah ein stilleres, ein anderes Deutschland. Vor den angestrengt der Zeit noch standhaltenden , von sich verzweigenden Rissen durchzogenen Fassaden bringt er Gespräche ins Bild aus vorsichtiger Distanz, aus welcher er die mit einander redenden Menschen zwar beobachten aber nicht belauschen will. Im Bild hält er den respektvollen Abstand fest, der ihn selbst bestimmt und den er auf uns überträgt. Diese Bilder vermitteln eine feinnervige Behutsamkeit im Umgang mit dem Anderen. Auch deshalb sind sie heute noch und wieder wichtig. Die gegenwärtige politische, geschäftliche und touristische Invasion nach dem Anschluß an die BRD läßt solchen Takt oft vermissen. Im Umgang der Menschen hat der Kampf um die Existenz und der Neid auf die vorderen Plätze neue und andere Zeichen gesetzt. Wie eine tragende Melodie zieht sich die Beziehung zwischen Mensch und Umfeld, zwischen Dingen und Raum durch die Bildfolge.. Zwei Schulkinder auf dem Heimweg, sie gehen ins Bild hinein auf einer Straße. Zwei alte Frauen mit einander zugeneigten Köpfen, hinter der Hauswand wird eine Kirchturmspitze sichtbar und zugleich an einem hochgezogenen Elektromast zwei aufgesteckte, kleine sicherlich rote Fahnen.

Zwei Trabis, einer verpackt wie eine Kostbarkeit sind geparkt vor einer zaghaften Wandbeschriftung :"Eine Insel für zwei. Privatheit, muffig gewordene Idylle, zwei und zwei präsentiert sich die alte Gesellschaft auf diesen Bildern. Der Fotograf ist der unsichtbare, unbemerkte Dritte. Ich erinnere mich an meine Besuche in diesem zu alt gewordenen Land, an den Eindruck, es wird umgezogen, aber man hat es nicht geschafft, Irgendetwas liegt immer im Weg, steht in den Ecken, liegt herum, wartet auf irgendwas. Bei den vorliegenden Bildern taucht dieses Gefühl wieder auf. Sie scheinen auf eine suggestive, athmosphärisch dichte Art authentisch zu sein. Büttner beschreibt einen Zustand des Übergangs bei Stillegung oder Lähmung der Kräfte. Wenn er Menschen mit seiner Kamera direkt anspricht, warten auch sie, auf das Geräusch des Auslösers, auf ihr Bild. Sie können sich darin wiederfinden in einem Zustand fortwährender Lähmung.

Die dynamische Möglichkeit des Lifeporträts kommt nicht zum Zuge. Diese Menschen bleiben tatenlos, stumm und zugewandt. Sie erscheinen wie stille Fische in einem sich selbst überlassenen, lange nicht erneuerten Aquarium. Existierte diese Welt wirklich, oder ist sie nur Teil eines fotografischen Traums, der ihren Autor umtreibt? Hat sie sich dahin entwickelt durch Abkapselung, eine Art von sozialer Konserve auch deutscher Lebensform, etwas heute Vergangenes für die dauernde Gegenwart festgehalten in Fotografien? Die Scheibe ist zerschlagen. Der Strom aus Neujahrsekt, Warentransport, Reiseverkehr, Wirtschaft und Vereinigungsgedröhn schwemmt diese Welt fort und macht aus der Gegenwart der Fotografie Dokument und Geschichte, Alltagsgeschichte der kleinen Szenen. Wenn der Fotograf Bilder baut mithilfe der Kulissen auf der politischen Bühne bringt er wieder Wände in die Komposition. Er zeigt eine Familie auf leerer Verkündigungsstraße. Auch sie bleibt bei sich, privat, sie wandert entlang an der Fahnentribühne, an den aufgereihten Polizisten des Volkes, an der hohen Bretterwand, als sei sie auf einem Maispaziergang im zoologischen Garten. Zwischen dem warmen Miteinander von der Frau und vier Kindern und der künstlich hochgestimmten Gruppe aus Politik und Militär gibt es keine Verbindung. Das Bild wirkt wie eine Montage. Es bringt Menschen in ihrem Handkontakt mit der wandgestützten Macht zusammen und zeigt auf diese Weise die Fremdheit zwischen den beiden Sphären, welche der Fotograf fühlt und die sich sehr bald als explosiv erweisen sollte.

Als Büttner für die weitere Arbeit an seiner Bildnovelle kurz nach Öffnung der Grenzen dieses Land besucht, stellt er fest, daß dies nicht mehr die DDR ist, die er fotografierte. Die Geschichte hat sein Thema abgeschlossen. Er sucht nach den neuen Zeichen und findet sie in den Versatzstücken unserer Werbekultur und in den heruntergenommenen, abgestürzten, abgestellten Bildwerken der alten, kläglichen Staatspracht. Lenin gerät hinter Gitter, die Sonnenschirme mit der Zigarettenreklame sind schon aufgestellt, die Stahlrahmen, die bisher anfeuernde, staatsfromme Sprüche trugen, sind leer. Zwei Schulmädchen im Gespräch vor einer rissigen Wand, im Hintergrund zwei sielende Kinder, eins ist auf den Hintern gefallen, hinter im späht das Hinterteil eines Trabi aus dem Gebüsch, eine Komposition wie auf Büttnerfotos aus der alten DDR. Geändert hat sich nur das Plakat über den Mädchen: "Nie wieder Sozialismus- JA! - Freiheit und Wohlstand". Der Staatsratsvorsitzende versteckt sich neben abgelegten Schildern :"Sperrgebiet- Unbefugten ist das Betreten, Befahren und die bildliche Darstellung verboten". Unter den dorischen Säulen des Ehrenmals schläft ein Säufer. Russische Soldaten blicken ruhig und resigniert in die Kamera und eine alte Frau faßt sich an den Kopf. Wieder bringt Büttner Ratlosigkeit zum Ausdruck, die zugleich seine eigene Stimmung wiedergibt. An dem neuen, nationalen Getöse findet er keinen Geschmack. Es liefert ihm keine Bilder. Schon jetzt kann man feststellen, daß er mit Zeichensprache nicht nur sein persönliches Gefühl, sondern wiederum eine nicht haltbare Situation ins Bild setzt, die aufs neue explosiv werden kann.

Herford, 7.3.1990 und 27.9.1991