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Dr. Helga Bültmann

Flechten:

Pflanzen, die keine Pflanzen sind

 

 

 

 

 

 

Auf den ersten Blick ist nicht leicht zu erkennen, was eine Flechte ist.

Ist es ein Moos?

 

vielleicht ein Pilz?

oder eine Alge?

oder doch nur ein bunter Stein?

Was ist eine Flechte?

 

Pilz

+ zur Photosynthese befähigter Organismus:

Alge oder / und

Cyanobakterium

= Flechte

Eine Flechte ist ein Miniatur-Ökosystem, in dem Organismen verschiedener Reiche zusammenleben

Pilze mit Pflanzen,

Pilze mit Prokaryonten

oder

Pilze mit Pflanzen & Prokaryonten

Erst in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde durch mikroskopische Untersuchung die Doppelnatur der Flechten entdeckt.

 

Meistens bildet der Pilz das äußere Gerüst der Flechte, oder den "Stall", in dem die Alge lebt

Schnitt durch ein Laubblatt

(Helleborus niger - Christrose)

Schnitt durch eine Blattflechte

Die grünen Zellen sind Algenzellen

Die nicht-grünen Zellen sind Zellen des Pilzes

 

 

Flechten sind hinsichtlich ihrer Ernährung eine parallele Entwicklung oder Konvergenz zu den grünen Pflanzen.

Symbiose: Wer hat welchen Nutzen?

 

Der Pilz bitet dem Photobionten (Cyanobakterium oder Grünalge) Schutz vor:

- Austrocknung
- Strahlung (u.a. UV)
- mechanischer Beschädigung
- Fraß (Antibiotische Stoffe)
 
und Hilfe bei der Ansiedlung
- z. B. Substratverwitterung
 
 
Der Photobiont ermöglicht dem Pilz die
- Stickstoff-Assimilation (wie Knöllchenbakterien)
- und/oder Ernährung durch Photosynthese

 

 

Eine Flechte ist sozusagen ein vom Jäger und Sammler zur landwirtschaftlichen Arbeitweise übergegangener Pilz mit den entsprechenden Nachteilen von mehr und mühsamer Arbeit und damit langsamerem Wachstum. Der Vorteil ist die sichere Ernährung nur durch "Luft und Sonne" und die Möglichkeit zu siedeln, wo kaum eine andere Pflanze leben kann, z. B. auf Felsen oder an Baumstämmen.

 

Der Pilz ist der größere Nutznießer der Symbiose, daher spricht man auch von kontrolliertem Parasitismus.

 

Auch andere Pilze können mit den höheren grünen Pflanzen zusammenleben, z. B. als sogenannte Mycorrhiza. Die Pilze erhalten Photosynthese-Nährstoffe von der Pflanze, die Pilze stellen ihr unterirdisches Fadengeflecht zur Verfügung und helfen der grünen Pflanze bei der Aufnahme von Nährstoffen aus dem Boden.

Biodiversität: Vielfalt der Gestalten

Krustenflechten sind als dünne Überzüge eng mit dem Substrat (Erde, Fels, Pflanzen und Pflanzenreste ...) verbunden

Strauchflechten stehen oder hängen wie kleine Sträucher vom Substrat.

spezielle Formen der Strauchflechten:
- Becherflechten

Bildung von Flechten ist eine sehr erfolgreiche Lebens-Strategie der Pilze

- Flechten sind mehrfach unabhängig entstanden

- mindestens 400 Mio Jahre Flechten:
älteste Fossilien aus dem Devon

- fast 20% aller Pilzarten weltweit bilden Flechten (und 42% aller Schlauchpilze)

Besonderheiten
 
 
Flechten können
 
-extreme Klima-Bedingungen überleben
 
-Wasserdampf aus der Luft aufnehmen
 
-sich mit "chemischen Waffen" verteidigen
 
-sich mittels spezieller Organe als Einheit von Pilz und Photobiont ausbreiten und vermehren
 
 
Flechten können nicht
 
-ihren Wasserhaushalt aktiv regulieren (sind poikilohydrisch)
 
-schnell wachsen und mit höheren Pflanzen (und Moosen) konkurrieren
 
-Luftschadstoffe vertragen (Flechtenbewuchs auf Bäumen als Bioindikator)

- Bartflechten bevorzugen Nebel

Blattflechten sehen aus wie Blätter auf dem Boden, an Stämmen, auf Felsen.

Flechten können nur dann die Vegetation dominieren, wenn ungünstige Bedingungen die Konkurrenz schwächen, z. B.
 
- kein Wurzelraum (auf Felsen, Mauern, an Baumstämmen, auf Ästen)
 
- trockene und / oder nährstoffarme Substrate (Trockenrasen, Heiden)
 
- im hohen Norden, tiefem Süden und in Gebirgen
 
- bei mäßiger Störung z. B. leichte Beweidung

artenreiches Mosaik in der Arktis (0,25m2)

Biodiversität: Vielfalt der Arten

 

Tiere

Pflanzen

Gefäßpflanzen

Moose

Flechten

Welt

1,7 Mio

800000

270000

24000

ca. 20000

Deutschland

45000

28000

3240

1120

ca. 1690

ca. 10 Arten auf wenigen Quadratzentimetern

Die meisten Organismengruppen zeigen eine Abnahme der Diversität vom Äquator zu den Polen, Flechten nicht!

Flechtenkoeffizient = Zahl Flechtenarten / Zahl Gefäßpflanzenarten

"Intermediate Disturbance"
Maßvolle Störung erhöht den Artenreichtum

Biodiversität
 
Artenreichtum = Anzahl von Arten bezogen auf eine Fläche
(Artendichte)
 
Mittels Artenreichtum lässt sich die Diversität von Pflanzen-Gesellschaften unter unterschiedlichen Bedingungen von Störung und Stress vergleichen.
 
In der Arktis und den Alpen finden wir sogar ungewöhnlich hohen Artenreichtum auf kleinstem Raum,
bis zu 40-50 Erd-Flechten / bzw. 70-80 Arten von Höheren Pflanzen, Flechten und Moosen zusammen auf einer Fläche £ 1 m2
 
 

Beispiele Bedeutung

- "Flechtenstoffe" für Farbstoffe, Medizin

- Nahrung

- Dekoration und Modellbau

- Lebensraum für Tiere

- Lichenometrie

Flechten können sehr alt werden und wachsen meist recht gleichmäßig. Daher können sie für mittelfristige Datierungen an Bauwerken (Bsp. Stein-figuren der Osterinseln) oder für Datierung bei Gletschern verwendet werden

- Bioindikatoren

feine Anzeiger für Luftschadstoffe durch erkennbare Schädigung oder das Verschwinden von Arten

Rentierflechten als Winterfutter der Rentiere

Schneepegel-Flechten in Lappland