Zum InhaltsverzeichnisVirtuelles Magazin 2000 

Jan Hoet

Was passiert, wenn Kunst ... ?

Mit dem Projekt LEERE X VISION. Körper und Gegenstände ist MARTa Herford bereits zum zweiten Mal im Stadtraum Herfords präsent. Nach dem Plakatprojekt ‹Wir sind die An-deren" (Juni - August 2001) benutzt MARTa Herford nun Schaufenster, Ladengeschäfte und andere Orte in der Herforder Radewig um Werke international bekannter Künstlerinnen und Künstler aus der Sammlung des S. M. A. K. in Gent und aus Privatsammlungen zu zeigen. Darüber hinaus wurden elf weitere Künstlerinnen und Künstler aus der Region um Herford und Bielefeld eingeladen, sich an LEERE X VISION zu beteiligen.

Mit diesem Projekt knüpft MARTa an seine experimentelle Zielsetzungen an. Bei dem Pro-jekt handelt es sich darum, an Orten, die normalerweise Industrieprodukten und Konsumob-jekten (bzw. Mode und Designgegenständen) vorbehalten sind, Kunst zu präsentieren.

Dieses Ziel zieht Fragen nach sich: Was passiert eigentlich genau, wenn in einem Schaufenster Objekte präsentiert werden, die in einem Museum als Kunst-Objekte betrachtet werden? Verliert die Kunst ihre Integrität oder gewinnt sie neue (möglicherweise bislang unbekannt gewesene) Funktionen und Bedeutungen hinzu?

Mit dem in den Stadtraum Herfords einwirkenden Projekt demonstriert MARTa, dass das Museum kein ausschließlich auf sich selbst bezogenes Terrain darstellt, sondern gewisserma-ßen wie eine dynamische ‹Triebfeder" Entwicklungen in der Stadt, für die Wirtschaft und die Bewohner anstößt - und weiter in Gang halten wird.

Das Projekt LERERE X VISION gehört zu einem umfangreichen Komplex, das ich mit den ‹Chambres d´amis" (1986) in Gent begonnen habe. Die ‹Chambres d´amis" hatten damals großen Erfolg, weil es wahrscheinlich erstmals das Kunstwerk bewusst aus seinem musealen Kontext in die private Sphäre verschoben hatte. Dieser Kontextwechsel erschuf seitdem viele neue Fragestellungen.

LEERE X VISION gehört zu einer Reihe von Projekten, die ich immer parallel zu meiner Tätigkeit als Direktor des Museums für zeitgenössische Kunst in Gent (S. M. A. K.) realisiert habe - zum Beispiel ‹Opzij van het kijken / Auf der Seite des Kuchen" in Watou (Juli - Sep-tember 2003), ‹Sonsbeek 9: Locus/FocusLocus - Focus"(September - Oktober 2001), ‹Over the edges" in Gent (April - Juni 2000) und zuletzt die Künstlerprojekte ‹Grazie"(2003 - 2006), die vor Ort für Schloss Dyck in der Nähe von Düsseldorf geschaffen wurden.

Neben den Ausstellungen im Museum sind mir Projekte außerhalb des Museums, im öffentli-chen und privaten Raum immer wichtig gewesen, um Kunstwerke in ganz unterschiedlichen Kontexten zu befragen. Durch die Schaffung neuer Kontexte eröffnen sich in den Werken neue Horizonte, Räume der Imagination und Wahrnehmung.

Dieser freie, lebendige und ‹unkonventionelle" Umgang mit den Kunstwerken wird auch in der Herforder Radewig spürbar werden. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dieses Projekt alle zwei Jahre im öffentlichen Raum Herfords weiter zu entwickeln.

Mit LEERE X VISION zeigt MARTa, dass das Museum keinem statischen Konzept gehorcht sondern vielmehr auch ein dynamischer Ort für Debatten, experimentelle Projekte und Diskussionen sein wird - ein Ort, der neue Beziehungen zwischen Lebewesen und Dingen, zwischen Körpern und Gegenständen kreeieren wird.

JAN HOET

 

 

Neue Westfälische vom 25/26.10.2003

GUNTER HELD

Leere produktiv nutzen

Zweite Auflage der ‹Leere X Vision" unter Federführung von MARTa Herford. Eine Rose ist eine Rose, ist eine Rose . . . So einfach war das damals, in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als Paris noch ein Fest fürs Leben war.

Heute gehen Städte und Kunst Verbindungen ein,um sich gegenseitig zu befruchten. So auch das Quartier Radewig, in dem zum zweiten Mal unter dem Motto "Leere X Vision" die Kunst in den öffentlichen Raum gebracht wird. Morgen um 16 Uhr wird die Ausstellung mit dem Untertitel "Körper und Gegenstände" in der Jacobikirche eröffnet. Sie dauert bis zum 22. November.

Die ursprüngliche Idee, so erzählt Ralf Hoffmann von der Gemeinschaft Radewig, entstand vor zwei Jahren zusammen mit dem Herforder Fotografie-Professor Jörg Boström. Damals war die Situation der Leerstände in dem Viertel nicht weniger bedrückend als heute. "Wir haben erkannt, dass Leere auch etwas Produktives sein kann und wollten eine Vision entwickeln:

Heimische Künstler stellen ihre Werke in den Schaufenstern leer stehender Geschäfte aus.

Das Konzept ging auf, die Ausstellung fand bundesweit Beachtung. Grund genug für denVorsitzenden der Gemeinschaft Radewig, Hanns-Joachim Brinkmann, MARTa-Direktor JanHoet die Organisation der zweiten Ausstellunganzutragen. Um so mehr, da sich die Radewig in einer Brückenfunktion zwischen dem Daniel-Pöppelmann-Haus und dem neuen Museum sieht.

 

Bei Jan Hoet rannte Brinkmann offene Türen ein, denn der MARTa-Direktor sieht den Gehry-Bau nicht als Trutzburg der Kunst. Schon vor Jahren sagte er: "Mit der Kunst muss man zu den Bürgern gehen."

 

Das macht er jetzt mit der Ausstellung in der sowohl regionale Künstler, wie auch international renommierte mit ihren Arbeiten vertreten sind. "Die Arbeiten", so der Belgier, "sollten einen Zusammenhang haben mit dem Kontext, in dem sie stehen." Mit diesem Anspruch stellte er die ausführende Kuratorin Véronique Souben vor ungeahnte Schwierigkeiten. Normalerweise wird Kunst in einem Museum präsentiert oder in einem weißen Kubus, wie groß oder klein der auch immer sein mag.

 

In der Radewig waren die Aussteller mit Schaufenstern konfrontiert, die teilweise den Blick auf das belebte Innere des Geschäftes freigaben. Dadurch entstanden die gewollten, spannungsreichen Verbindungen. So hängen in denSchaufenstern der Kommode drei großformatige Fotos der Niederländerin Rineke Dijkstra. Dargestellt sind Halbwüchsige in Badekleidung vor dem offenen Meer. Eigentlich Porträts, die in ihrer Einfachheit aber absolut ästhetisch wirken. Der Zusammenhang zur Mode ist die Signalwirkung, die diese Fotografin auf die Modefotografie hatte, die sie selbst gar nicht betrieb.

 

Im "Come together", einem Laden, in dem Kindermode und Möbel angeboten werden, hängen sieben Bilder der Bielefelder Malerin Elisabeth Masé. Vordergründig sind es Darstellungen der heilen Welt. Und doch wirken sie bedrohlich: Keines der Kinder lacht. "Ich stelle meine unmittelbare Umwelt dar", sagt Masé. "Ich male meine Kinder und deren Freunde und ich male sie so, wie sie mir erscheinen." Um Himmels Willen, denkt man da als Betrachter. Hat die Frau (und Mutter) noch nie das Leuchten in den Kinderaugen gesehen, wenn die etwas gebastelt haben oder wenn sie für irgend etwas gelobt werden? Die Bilder, die beinahe naiv realistisch sind, reizen zum Widerspruch, zur Diskussion. Und deshalb sind es gute Bilder.

 

Besonders eindrucksvoll ist "Die erste Skulptur nach meiner Geburt" von Miroslaw Balka. Es ist eine Spirale aus Kupferdraht, die auf der Balustrade im Innenraum der Jacobikirche liegt. Sie stellt die Nabelschnur dar.

 

"Gardening" heißt eine Installation von Hans Op De Beeck. Im Keller der Weinhandlung Amadeus am Gänsemarkt taucht der Besucher in eine surrealistische Situation: Ein graues Haus auf grauer Landschaft und auf einer Leinwand davor, graue Landschaftszeichnungen. Gebrochen wird dieTrostlosigkeit von beinahe sphärischer Musik - sehr ästhetisch.

 

Reine Provokation hingegen ist John Isaacs "Necessary change of heart" - ein abgerissener Arm aus Kunststoff. Sehr detailgetreu, sehr blutig. Und präsentiert wird das Werk in der MARTa-Lounge, Steinstraße 3. Dort, wo die Leute sich ausruhen können und wo es Kaffee und Kuchen gibt. Betrachtet man den Arm genauer, erkennt man auf den Fingerknöcheln das Wort "Hate", Hass. So wird aus dem Opfer auch der Täter. "Das ist die Realität", sagt Jan Hoet. "Der Künstler konnte nicht anders."

 

Mehr über MARTa in

http://www.marta-herford.de/

und über Events bei LeereXVision

http://www.marta-herford.de/ae_ausgabe/events/index.php?kl=1&action=artikel&id=31

 

Rineke Dijkstra, Brighton, England, 21th. may 1992

Leo Copers, PROTOTYPE VIPAG, 2001/2

Anthony Gourmley, Well, 1991

Robert Therrien, O.T., Stacked Plates, 1994

Bruno Krenz, Wasserbau, Spühlung/Lüftung