Zum InhaltsverzeichnisVirtuelles Magazin 2000 

Nadine Bracht   

in wonder i wonder what happens next

"if living is seeing
I am holding my breath
in wonder I wonder
what happens next
a new world
a new day to see
see, see
to see ..."


bjoerk: new world, selma songs

Stromboli gehört zu den Liparischen Inseln und liegt auf der Höhe von Sizilien. Das besondere an Stromboli ist der gleichnamige Vulkan, der fast viertelstündig explodiert. Das Kratergelände ist gut erschlossen, so dass der Vulkan jährlich eine Menge an Touristen anlockt. Bekannt wurde die Insel durch den Film Stromboli, Terra di Dio (1949) von Roberto Rossellini.

Rossellini zählte im Nachkriegsitalien neben Vitorio De Sica und Luchino Visconti zu den wichtigen Vertretern des Neorealismus. Er definierte den Neorealismus weniger als eine ästhetische als eine kritische und moralische Position: neben der dokumentarischen Kamera, die sich einer ungeschminkten Wirklichkeitsauffassung verpflichtete, geht es um die konsequente Ablehnung faschistischer Kulturdoktrin. Der neorealistische Ansatz besteht darin, die "Wahrheit" nicht aus der Rekonstruktion, sondern aus den Ereignissen selbst sprechen zu lassen.

Rossellini strebte danach, der Darstellung individuellen Schicksals einen kollektiven, verbindlichen Sinn abzugewinnen. Ingrid Bergmann als Karin heiratet den einfachen Fischer Mario, gespielt von Mario Vitale, um dem Internierungslager zu entkommen. So landet sie auf der kargen Vulkaninsel Stromboli, die ihrer Auffassung von Leben und Luxus in keiner Weise entspricht. Sie ist unzufrieden und all ihre Versuche, sich in das Dorfleben zu integrieren, scheitern. Sie wird schwanger und fasst den Entschluss, die Insel und ihren Mann zu verlassen. Als sie über den Vulkan auf die andere Seite der Insel gelangen will, bricht sie auf dem Krater erschöpft zusammen. Sie verbringt eine Nacht auf dem Krater und hat eine Epiphanie. Das Ende des Films bleibt offen; Rossellini zeigt als letzte Einstellung den Himmel.

Interessant finde ich neben der intensiven Schauspielerführung und der Arbeit mit Laien, z.B. die schluchzende Bergmann am Kraterrand oder den Thunfischfang auf dem Meer, die Vielschichtigkeit, die Filme im Film, mit denen Rossellini arbeitet.
Die Insel ist bei ihm weniger Handlungsraum im Sinne eines sozialen Realismus, weniger Kommunikationsfläche als eine mentale Landschaft, die mit der Befindlichkeit des Protagonisten in Zusammenhang steht. Die Unmöglichkeit der Handlung ergibt die Beobachtung als wahrnehmende Bewusstseinsleistung, während die Unmöglichkeit der Wahrnehmung den Übergang von der realen Landschaft zur mentalen Situation, Reflexion und Transzendenz schafft.

So kann das Bild einer physischen Landschaft sowohl eine äußere als auch eine innere Realität beschreiben: Das Bild des ausbrechenden Vulkans ist dafür bekannt. Erdinneres stülpt sich nach Außen, das Außen ist Innen, beide sind verbunden, beide auf einander bezogen. Das Besondere hierbei ist die Vielfalt: Mit jeder Landschaftsperspektive kann ein neuer mentaler Zusammenhang geschaffen werden und umgekehrt, jeder mentale Zustand bringt eine neue Perspektive des zu betrachtenden Gegenstandes hervor. Neue Gegenstandsperspektiven können dann zugleich neue Schichten vom Bewusstsein des zu betrachtenden Gegenstandes sein. Im mentalen Bild können wir also sehen, was wir denken, und umgekehrt.

Während bei Rossellini der Aufenthalt der Protagonistin unfreiwillig war, kommen die Menschen heute nach Stromboli, um sich von ihrer Alltagswelt zu erholen. Sie suchen bewusst ein Stück archaische Natur, etwas, das größer, gewaltiger und lebendiger als sie erscheint. Etwas, das sie verzaubert und betört und die Versprechen der Götter Konsum, Kommunikation, Information und Altersvorsorge einlöst: beständiges Glück. Das Buch "in wonder i wonder what happens next" endet mit einer Doppelansicht von Titta. Sie liegt im schwarzen Sand und schaut direkt in die Kamera.

http://www.nadinebracht.de