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Jörg Boström

 

Zeit Träume

Zu Bildern einer Ausstellung von Kerstin Parlow

 

Während ich nachdenke, was ich sagen soll zu den Fotografien von Kerstin Parlow, lese ich im Tagesspiegel eine Besprechung des Buches 'Die Geschichte der Unschärfe' von Wolfgang Ullrich. Da wird Goethe zitiert, der die Welterfahrung der Kurzsichtigkeit schildert: "So oft ich durch eine Brille sehe, bin ich ein anderer Mensch und gefalle mir selbst nicht; ich sehe mehr, als ich sehen sollte, die schärfer gesehene Welt harmoniert nicht mit meinem Inneren...."

Da wiederum fällt mir der erste Teil meiner Kindheit ein, den ich ohne Brille verbracht habe, als Kurzsichtiger. Niemand merkte es, niemand wusste es, auch ich nicht. Ich dachte, die Welt sei so, wie ich sie sehe und so sehen die anderen sie auch. Ich träumte also mehr, als dass ich mich in Realitäten verbiss. Mein Spitzname war dann auch Traumjörge, nach einer Novelle von Brentano. Es entwickelte sich so ein eigenes, persönliches, kleines Universum, zu dem die sichtbare Welt ihr verschwommenes Material beisteuerte. Der Träumer bleibt näher bei sich und nimmt die anderen und das andere als etwas Entfernteres wahr als der scharf Schauende. Auch daran kann ich wieder denken, wenn ich diese Fotografien an mir vorbei gleiten lasse.

Nullarbor Plain 26/11/1997

Ich versuche mich an die Gefühle und Gedanken der Künstlerin heranzutasten. Auch, indem ich ihr Texte schicke zu ihrer geplanten Ausstellung. Per E-Mail

an k.parlow@gmx.de

Zeit Träume

Bilder wie Abdrücke einer Hand. Solche Fotografien lassen den Hauch eines persönlichen Atems spüren. Aus dem anscheinend so technischen und klaren Gerät einer Kamera schauen uns einzelne Räume an; gesehen wie durch ein blinzelndes Auge, das nicht aufhört sich zu wundern, das seine Gefühle in der gegenüberliegenden Szene wie in einem angehauchten Spiegel wieder findet. Nur ein einziger Mensch ist zu sehen in dieser Bildauswahl, ein junger Mann verträumt an einem Zugfenster, den Kopf in seine Arme gelegt und an ihm vorbei strömt das Land, durch das er gefahren wird.

Ein Stück Identifikation mit einem anderen Menschen? Eine Rolle in Stellvertretung für die Fotografin. Sie selbst ist sonst der einzige Mensch hinter und in diesen Bildern. Man stimmt sich als Betrachter ein in ihre schwebende Sicht.

Melbourne 10/12/1997

Die leichten Nebel, der Dunst, die schwimmende, entgleitende Schärfe einer dem persönlichen Gefühl eingestimmten Technik machen Räume und Dinge zu Antworten auf eine erfahrene, genießende und verwunderte Feststellung der eigenen Wirklichkeit, die ein Wunder und ein Geheimnis bleibt, je näher sie sich in das fotografische Material einbrennt.

Hermetisch, in sich abgeschlossen und gleichzeitig dem Betrachter geöffnet, wenn er sich auf solche persönlichen Sichten einlassen will.

Der Widerspruch einer Bildwelt, die für sich, für die Fotografin als ein Setzen und Lesen eigener Lebensspuren angelegt ist. Immer in der erstaunten Frage nach dem Ich, nach der schönen Rätselhaftigkeit des Sichtbaren, wie es sich als Widerspiegelung eines Lebens in optischen Details darstellt.

Melbourne 24/08/1997

Ich sehe, also bin ich. Aber wer oder was bin ich? Lebensprozesse stellen sich hier dar, zugleich als Reise, als vorübergehender Schein, als melancholischer, ein bisschen glücklicher, ein bisschen trauriger Hauch des Vorübergleitens, das einen wehmütig lächelnden Geschmack auf der Zunge, einen blinzelnden Rückblick zwischen den Wimpern hinterlässt. Jedes dieser Bilder ist so etwas wie ein tiefes Durchatmen, so war es, ungefähr so, vorbei, beinahe verweht, aber nicht ganz.

Hier sind die Spuren. Wenn das Wort nicht einen so schroffen Klang hätte und durch eine einsame und aktive Philosophie belegt wäre, könnte man von einer existentialistischen Fotografie sprechen, einer Bildkunst, welche die Unwäg- und Unschätzbarkeiten der eigenen Existenz zum immer neu gefundenen und erfundenen Thema macht. Wenn man sich auf diese Bilder einlässt, gleitet man in eine persönliche Nähe zu der Frau, die sie gesehen und festgehalten hat, eingepackt in eine kleine quadratische Bildform wie ein Geschenk.

Nildelta 21/08/2000

Der Betrachter wird zum unsichtbaren Begleiter auf einer Reise, die sich ohne Ziel selbst darstellt als ein Gleiten im Sichtbaren durch die Augen eines Menschen, dem man so merkwürdig nahe dabei kommt, dass man fast so etwas spürt wie seinen Atem, der sich mit dem eigenen vermischt. Es ist so etwas wie sichtbar gewordenen Lyrik, dichterische Fotografie.

Wo bist du und was denkst du?

j.

Nildelta 03/10/2000

k.parlow@gmx.de schrieb:

'Die Stille an Land?' Meine Ausstellung.

Die Bilder sind Darstellungsformen der Zeit, der Zeit, bevor sie erdacht wurde als Dimension und als Struktur; der Zeit, die lebt im Lauf des Lichtes.

Sonne. Nacht. Wolken. Ein Augenblick im Meer der Zeit. Er löst sich, einer Welle gleich, und fließt zurück und löst sich auf. Der Streit von gegenwärtig, von Vergangenheit und Noch-nicht-Geschehenem existiert nicht.

Es gibt diesen Lauf der Augenblicke, die still sind und es nicht eilig haben. An Orten, an denen gerade nichts von Bedeutung geschieht. In einem Blick, der die Welt vorbeistreichen sieht und von nichts gehalten wird.

 

mistress of the red mountain!

is there a place to begin?

 

let the day seduce you.

turn towards what you feel.

go beyond your knowledge.

relocate your energies

to look for untamed places,

fear and anger, mainly those.

dancing is a language, you know.

watch venus decline.

turn a light on in the kitchen.

freedom and protection are not opposites.

a brain is not the most calm of places.

thoughtwaves expanding.

reality tempting your dreams.

the train will leave at four p.m.

write a postcard on the way.

sleep an hour on the way.

smile timidly, bluntly, cry.

it is still dark outside.

i'll kiss eyes onto your feet

so you can see the way.

the sense will come into it

somewhere along the line.

 

k

Nildelta 05/10/2000

Nildelta 30/10/2000

es war einmal ein stuhl. der hat sein leben unter freiem himmel verbracht
und ist auch schon sehr alt. die beine kurz, so dass beim sitzen die füsse
dem boden entlangfließen. wenn es nacht ist auf dem dach, müde vom tag und
all den fragen, die sterne, ganz jetzt, ganz kalt, in tiefdunklem samt,
wehmut, niemand sonst, dann hat er geschichten geflüstert. ausgedünstet wohl
eher. von anderen nächten unter denselben sternen, die er gesehen hat.
schöne nächte und traurige. alle gelebt. wundersame schöne traurigkeit, wie
blumen, wie küsse, wie eine stimme im herzen. der tag hat sich aufgelöst, in
alle momente zurückgeflossen und ich gehe ins haus.

Ich suche in Kerstin Parlows Texten und finde Mails von einer Reise:

In langen Abständen sehe ich auf die Uhr hinter der Theke. Die Zeiger bewegen sich gegen einen großen Widerstand. Ich bin eine Ratte im Käfig, so unruhig. Was wird? Aus mir? Das Gestern wirst du nicht erreichen, vor morgen kannst du nicht fliehen.

"Wie schreibt man die Wahrheit so, dass sie die Wahrheit ist?", fragt Henry Miller.

Das Licht geht unter hinter einer Tafel aus plakativen Buchstaben und Zahlen. Mailand, Timbuktu, Paris, passengers booked on... please proceed to gate d-sixteen.

Ein Abend weit im Osten. Ich warte auf die Transportmaschinen da draußen. Große, schwere Vögel.

Das wahrnehmende Auge. Fotografieren ist meine Art die Welt zu streicheln.

Es ist schwer, die Fremde zu lieben. Schwer, weil es das ist, was ich am meisten will. Land sehen. Jenseits der großen Sehnsucht. Zu Hause.

Wilson's Prom 18/10/1997

5/9-2001

Fliegen füllt mich an mit Müdigkeit. Der schwere Vogel ist wieder gelandet.

Cairo, Stadt aus tausend Perlen, so sah es aus von oben. Warm und feucht und dunkel. Da lächelt ein Mann mit einem Schild in der Hand auf dem mein Name steht.

Er fährt mich durch die Nacht. Noch immer ist sie da, nur die Kontinente haben sich vertauscht. Europa gegen Afrika. Osten gegen Süden. Er fährt nach Norden, nach Qantir. "On the edge of the desert and on the verge of the cultivated land."

Das war damals. Jetzt ist hundert Jahre später. Ich wache auf und kurbele die Scheibe runter, um die Luft zu riechen, endlich. Schwelend brennender Müll in feuchter Wärme. Er nimmt mir den Atem.

Und was sagt mir das? Dass ich dann wohl doch auf mich innen drin hören muss.

Scheiße, ich hätte nie gedacht, dass es weh tut, etwas Schönem Form zu geben.

Am Horizont taucht schon die nächste Kampagne auf. Ab Sommer, vielleicht. Ist das noch lange oder kurz? Gedacht zu kurz, gefühlt recht ewig.

Gestern hab ich was gelernt. Wie die Bilder und die Worte sich zueinander verhalten. Sich halten. Da müssen zuerst Bilder sein. Sie sind die Leuchttürme, auf die ich mit den Worten zurudern kann. Worte ohne Bilder, das ist aussichtslos.

k

 

Whiskey Bay 19/10/1997

Betreff: Re: Ohne Schal - und ohne Hut

Datum: Sun, 26 Jan 2003 12:27:26 +0100

Von:jbostroem@gmx.de

Firma: vm2000

An: k.parlow@gmx.de

Nichts bleibt, nichts ist sicher, und wir machen immer wieder Bilder um etwas anzuhalten, das fließt. Ein schönes Vorgehen ohne Zweck. Solche Bilder bringen den Menschen zurück in eine zeitlose Gegenwart. Fotografie kann so etwas, weil sie aus dem Moment die Dauer macht und beim Ablegen den Moment vergessen lässt und beim Hervorholen auch diese alte Zeit wieder hervorholt. Solche Bilder zeigen nicht Gegenstände, nicht Menschen, nicht Räume, wohl aber Zeiten, mit den Spuren von Menschen, Dingen und Räumen, gefühlte Zeiten. Was will eine Fotografin, die solche Bilder macht, auswählt und ausstellt? Sich selbst erinnern, eine Empfindung von Welt mitteilen, andere Anteil nehmen lassen, sich zeigen und sich verrätseln.

Nullarbor Plain 26/11/1997

Nicht um sich zu verbergen, eher weil sie die Empfindung mitteilt, dass sie und wir anderen in dauerhaften Momenten immer wieder verbunden sind im Einsamen. Keines dieser Bilder zielt auf uns, auf irgendetwas. Sie zeigen nur den gefundenen Blick, dem buchstäblich zu sehenden Augen-Blick.

Berlin 17/01/2001

Es ist so, als würde man sich in den Räumen neu orientieren, als machte man in einem Traum das Auge zu einer feststellenden Kamera, wobei die Technik so unauffällig und selbstverständlich erscheint wie die Augenlider, die sich öffnen und schließen. Wir haben es hier mit einer Fotografie zu tun, welche im Persönlichen beginnt, wie eine Spiegelung an den Wänden auftaucht und ins Persönliche zurückfällt

Mailand 15/12/2000

Es ist nicht eine provokante Verweigerung des Allgemeinen, des Verabredeten, des Mitteilenden. Es ist eine sich selbst fragende, sich selbst kaum verstehende Betrachtung des unerschöpflichen Geheimnisses unserer Existenz, der puren Tatsache, dass wir die Augen öffnen und schließen können, dass wir uns und die Räume um uns fühlen, andere Menschen als Erscheinungen sehen und empfinden, als Wärme, als Anstoß, als Blick, als Berührung und als Flucht, als Ausweg und als Hinweis zurück auf uns selbst.

Melbourne 05/10/1997

Friedrich Nietzsche: "... dass du nicht enden kannst, das macht dich groß, und dass du nie begannst, das ist dein Los, dein Blick ist drehend wie das Sterngewölbe, Ursprung und Ende, immerfort dasselbe."

Soll diese Poesie einer immer währenden Wiederkehr des Gleichen, gerade von solchen fotografischen Bildern des Momentes und der Dauer, aus den Speichern der passiven Erinnerung hervorgerufen sein?

Warum tauchen diese Verse jetzt bei mir auf?

Haben zwei Bilder, ein in sich versunkener Mensch an einer Zugscheibe und ein Wagen, der zwischen Bäumen im Nebel verschwindet, diese hervorgerufen, auftauchen lassen wie aus einem fast gelöschten Text, einem Palimpsest?

Schreib was dir in den Kopf kommt.

Schick Bilder, die du magst.

Berlin 16/07/1999

Berlin 09/11/1999

Nildelta 03/11/2001

 

Kerstin Parlow und Martin Schneider: Stilles Land

21.2. - 28.3.2003

Eröffnung: 20.2.2003, 19 Uhr

Einführung: Prof. Jörg Boström

Fotogalerie Friedrichshain

Helsingforser Platz 1

10243 Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg

Di - Sa 13 - 18 Uhr, Do 10 - 18 Uhr