Zum InhaltsverzeichnisVirtuelles Magazin 2000 

Eckart Schönlau

Jazz - Potraits

Knitting Factory 15. Year Anniversary

     New Yorker Persönlichkeiten

Bielefeld. “The Knitting Factory“ - für grenzüberschreitende, einzigartige Musik ist dieser New Yorker Club weltweit der Begriff. Inzwischen schon seit 15 Jahren existierend begeben sich nun einige Musiker aus dieser Szene auf Jubiläums-Tour. Dabei ist der Bunker Ulmenwall in Bielefeld für sie auch schon lange ein bekannter Ort. So hat sein Bühnenraum unter New Yorker Musikern inzwischen seinen Namen bekommen: Als heißer Ort, mit Publikum und Scheinwerfern von beiden Seiten, wird er von ihnen "Toaster" genannt.

Der Pianist und Saxophonist Charles Gayle begibt sich an diesem Abend als erster darein. Und vollzieht einen wahren Kraftakt. Kaum am Klavier Platz genommen entfaltet er sogleich seine Ideen - ohne Atempause. Ein Fluss von Themen breitet sich in seinem rasend schnell sich überschlagenden Spiel aus. Klassiker aus Ragtime, Blues und Jazz tauchen darin auf und verschwinden wieder unter einem fast maschinellen Spiel. Wenn Charles Gayle versunken am Klavier sitzt, fühlt man sich leicht an einen mechanischen Spielautomaten erinnert, dessen Programm spontan hängt und springt. Dieser Musiker verdichtet wirklich auf der Stelle alles, was ihm aus seinem Gedächtnis in den Sinn kommt. Und schafft dabei enormen Druck. Erst nach einer halben Stunde hat die Improvisation seinen Schlusspunkt gefunden.

"Der scheint in seiner eigenen Welt zu sein" meint eine Besucherin zu ihrem Nachbarn, während Charles Gayle sich das Saxophon umhängt. Auch darauf verfällt er nach kurzem Einblasen in ein permanentes Spiel, in dem in jedem Augenblick alles komprimiert ist. Musik, die schon nach einer Sekunde tiefe Spuren hinterlässt, und trotzdem endlos ist.

Charles Gayle

Dass Charles Gayle lange Zeit Straßenmusiker war, wird hierbei offensichtlich. Gegenüber Massen gleichgültiger Passanten ist er tief in seine eigene Musik hineingetaucht. Und schafft es scheinbar nicht mehr, dahinter hervorzukommen. Das Publikum im Bunker scheint für ihn so gut wie Luft zu sein. Während des Beifalls schlägt er nur mal kurz die Augen auf. Ohne Instrument scheint er hilflos zu sein. Ob Charles Gayle gemerkt hat, bei wie vielen Menschen er gerade tiefen Eindruck hinterlassen hat?

 

Der nachfolgende Vibraphonist Bill Ware mit seinen Begleitern Dimitri Kolenski am Bass und Vince Cherico am Schlagzeug genießt dagegen Ort und Publikum vom ersten Augenblick an. Wie ein Tänzer schwingt er mit seinen vier Schlägeln über die Metallplatten seines Instrumentes, und schafft damit schwebende Klangwolken und Rhythmen voller Leben. Melodien aus Pop-Songs tauchen darin ebenso auf, wie Jazz Klassiker. Solch einen eingängigen und mitreißenden Sound würde man eigentlich weniger aus der experimentellen Szene der Knitting Factory erwarten.

Doch bei großartiger Musik erübrigen sich eben alle Kategorien.

Mit ihrer von Punk, Folk bis Jazz beeinflussten Musik begehen Paul Chuffo (Schlagzeug), Ty Citerman (Gitarre), Eric Rockwin (Bass) und Ken Thompson (Saxophon) den letzten Teil der langen Nacht. Ständig in Bewegung liefert vor allem Saxophonist Ken Thompson eine rasende Bühnenshow. So spät ist es bei Konzerten im Bunker wohl lange nicht mehr geworden!

Tin Hat Trio, 24.11.2001, Bunker Ulmenwall

     Wie durch ein Kaleidoskop

Bielefeld. Musik, die uns in diesem neuen Jahrhundert wirklich noch vom Hocker reißen kann, wird wohl eher selten elektronisch erzeugt oder computergeneriert sein. Die meisten Gehörgänge sind davon mittlerweile überreizt. So ist es kaum verwunderlich, dass drei junge Musiker aus San Francisco mit ihrer flüsternd bis zimmerlautstarken Musik auf Geige, Akkordeon und Gitarre den Bunker Ulmenwall fast aus allen Nähten platzen lassen. Und dabei eindrucksvoll zeigen, was für ein Universum an Klängen und Geräuschen allein hinter ihren drei Instrumenten steckt.

Mit ihrem Tin Hat Trio ist es Carla Kihlstedt (Geige), Rob Burger (Akkordeon, Klavier) und Mark Orton (Gitarren) gelungen, fast schon einen eigenen Stil zu schaffen. Sie verweben darin die Musik des 20sten Jahrhunderts auf geniale Art. Darin kann Wiener Schrammel-Musik, Argentinischer Tango, Zigeunermusik des Balkans, Country, Blues ... oder Neue Musik auftauchen. Nichts davon wird vordergründig hervorgehoben, alles mischt sich wie selbstverständlich. Dabei entsteht manches, was es bisher noch nie so gab. Wie beim Blick durch ein Kaleidoskop.

Die Art des Zusammenspiels und das Mischen der Klangfarben machen die Kraft dieser Musik aus. Kleine Verschiebungen zwischen Mark Ortons Slide-Guitar und Carla Kihlstedts Violine erzeugen diese Sprengkraft. Gerade wenn Rob Burger auf seinem Akkordeon nur leise flüstert, schafft er damit um so mehr Atmosphäre.

Alle drei haben eine klassische Ausbildung absolviert, sich während ihres Studiums am Peabody Konservatorium in Boston gefunden. Was keinerlei negative Spuren hinterlassen hat. Von kalter Perfektion ist beim Tin Hat Trio nichts zu spüren.

Es wird zwar nie gesungen - Mark Orton kündigt jedoch jedes Stück als einen "Song" an. Und alle Songs haben Titel, hinter denen man Geschichten erahnen kann. Bei "The Last Cowboy" könnte man sich eine einsame Tankstellen-Szene in der staubigen Wüste vorstellen. Ein anderes Stück beschäftigt sich mit der Gravitation unserer Erdkugel.

Diese Musik läd zu intensivem Zuhören ein. Hat man ihr einmal seine Aufmerksamkeit geschenkt, kann sie einen wie ein Sog mitreißen. Und das offensichtlich mit vielen Besuchern im Bunker geschehen, die mit geschlossenen Augen die Schönheit dieser minimalen, spannenden Musik genießen.

Carla Kihlstedt

Rob Burger

Mark Orton

Charlie Mariano, 20.3.2002, Bunker Ulmenwall

     Jazz-Musiker seit einem halben Jahrhundert

Bielefeld. Dieser Musiker bekommt schon lauten Beifall, bevor er überhaupt einen Ton gespielt hat. Seit über fünfzig Jahren hat Charlie Mariano seine Spuren in der Jazz-Szene hinterlassen - weltweit. Von den zahlreichen Besuchern im total ausverkauften Bunker Ulmenwall kennen ihn sicher nicht wenige schon seit Jahrzehnten. Erinnerungen an Konzerte mit ihm, noch aus den 70er Jahren, werden laut. So füllt sich die dicke Luft an diesem Abend auch mit einem beträchtlichen Anteil an Nostalgie.

Diesmal begleiten ihn wieder die selben Musiker wie vor drei Jahren, als er zuletzt hier spielte: Am Kontrabass der durch Funk und Fernsehen bekannte Jazz-Moderator Ali Haurand, am Schlagzeug der in Frankreich auch als Maler und Inneneinrichter bekannte Daniel Humair. Alte Bekannte, die sich alle paar Jahre mal treffen. Ihr Alter zusammen addiert hat dieses Trio bald die 200 Jahre erreicht. Aber mehr will Ali Haurand dazu nicht ausführen. Ähnlich wie seine langatmigen Ansagen, in denen er fast alles, was ihm in den letzten Tagen über den Weg lief, ausbreiten kann, gestalten sich auch Ali Haurants Bass-Soli. Wie ein pingeliger Zeremonienmeister, allerdings mit einem gewaltigen Schuss trockener Ironie greift er dabei oft in die Bass-Saiten, so als wolle er einem Huhn die Federn rausrupfen. Über ähnlichen Humor verfügt auch Schlagzeuger Daniel Humair. Zeitweise setzt er auch Scherzartikel an seinen Trommeln ein.

Selbst wenn man Charlie Mariano ansehen kann, dass er in den letzten Jahren sichtbar gealtert ist, so hat er als Musiker trotzdem kaum etwas von seiner Ausdruckskraft verloren. Schon immer strahlte dieser sympathische Musiker große Gelassenheit aus. Den Trichter seines Alt-Saxophones zieren Mickey Mouse-Aufkleber.

"Plum Island", eine seiner Kompositionen aus den 80er Jahren, ist das erste Stück dieses Konzertes. Ein ohrwurmartiges Thema, das Einflüsse von Bebop bis Jazz-Rock in sich vereinigt.

Mariano hat eigentlich bereits zwei Karrieren hinter sich: Eine als Bebop-Spieler, die zweite als Weltmusiker - noch bevor es diesen Begriff überhaupt gab. So ist bei diesem Auftritt später auch eine Komposition der indischen Sängerin R.A. Ramamani zu hören. Seit den 70er Jahren arbeitet er mit ihr zusammen. Als Schüler des indischen Musikers Bismillah Ustad Khan beschäftigte sich Charlie Mariano viele Jahre mit indischer Musik. Doch egal was er spielt, über allem steht sein typischer singender Saxophon-Sound, den er nach fast zweistündigem Konzert in der Zugabe noch mal zur Vollendung steigert.

Charlie Mariano

Links zur Knitting Factory Anniversary Tour, zum Tin Hat Trio und zu Charlie Mariano:
http://www.bunker-ulmenwall.de/kalender/einzel_veranstaltung/vnr601.html
http://www.gaesteliste.de/review/show.html?id=INDEX|_nr=2704
http://www.jazzdimensions.de/reviews/jazz/2002/charlie_mariano_deep.html