Zum InhaltsverzeichnisVirtuelles Magazin 2000 

Jörg Boström, Ge-Zeiten, 1990    Weitere Arbeiten im virtuellen Museum

Der Fleck als kunstgeschichtliches Phänomen hat schon Künstler wie Francis Picabia beschäftigt, der einen Tintenklecks auf einem Stück Papier wegen seiner Einzigartigkeit als gesegnete Jungfrau betitelte. Dazu schreibt Werner Spies am 3.12.2002 in der FAZ: "Die Begründung für diese ikonographische Deutung liegt in der Unwiederholbarkeit der Tat, die zu dieser unverwechselbaren Form führt. Denn wer vermöchte schon die Einzigartigkeit eines Tintenkleckes kopieren?
Dieses Vorgehen verweist auf die späteren rauschhaften Signaturen, die Pollock auf die Leinwand wirft, und auf die Entdeckung des fälschungssicheren genetischen Abdrucks, der uns heute die letzte Spur an Individualität sichert."
Nicht nur bei Pollock finden sich Klecks-Spuren, sondern auch bei frühen abstrakten Künstlern wie Wassily Kandinsky, von dem es mehrere Bilder
mit rotem Fleck, die auch so betitelt sind, und auch welche mit schwarzen Flecken gibt. In Kandinskys Bildern findet sich häufig der Gegensatz zwischen flächig sich ausbreitenden Flecken und spitzen Formen und Linien. Noch früheren Einfluss der Flecken gab es zum Beispiel bei dem englischen Landschaftsmaler Alexander Cozens im 18. Jahrhundert, der eine Technik entwickelte, Landschaften aus Flecken entstehen zu lassen, genannt "Blot drawing". In der heutigen Zeit ist z.B. der Stempel-Künstler Gereon Inger fasziniert vom Fleck, und hat ihm mehrere Stempel-Editionen gewidmet: Der Fleck in Geschichte und Gegenwart, Flecken grosser Künstler, Liebesflecken.
Wie alllgegenwärtig die Fleck-Idee in der Kunst ist, zeigt sich daran, dass schon vor fast 500 Jahren Leonardo da Vinci als Experiment vorschlägt, einen mit Farbe getränkten Schwamm an die Wand zu werfen und den entstandenen Fleck zu betrachten, der dann Vorstellungsbilder mobilisieren könne; oder auch sich in die Betrachtung von
alten Wänden mit vorhandenen Flecken zu vertiefen.
Die Fleck-Malerei wird auch dem Begriff
"aleatorisch" zugeordnet, d.h. zufallsinspiriert; von lat. alea, der Würfel.

Jörg Boström

Betrachtungen über den Fleck

 

Unbestimmte Formen setzen unsere Vorstellung in Bewegung. Sie können vielerlei bedeuten. Flecken, Wolken, abgeschrubbte Dielenböden,Schaum, Rauch, Büsche in der Nacht, Zypressen und zerfließende Milch im Teeglas, sie sind in den Umrissen offen, bewegt, erzeugen ständig neue Bildverbindungen. Leonardo da Vinci empfiehlt den Blick auf buntgefleckte Mauern. Als Künstler der Renaissance sieht er Schlachten darin, Gestalten mit lebhaften Gebärden, seltsame Gesichtszüge und Gewänder, Erlkönigs Töchter sieht der Reiter in Goethes Gedicht in den Nebelschwaden und Finsternis aus dem Gesträuche blickt ihn selbst mit schwarzen Augen an. Dem Surrealisten Max Ernst erscheint die Sphinx in ihrem Stall. Für den Psychologen Leo Navratil ist das menschliche Gesicht als Urerfahrung des ersten Blickes auf die Welt die stärkste Vision in der Deutung des Unbestimmten, weiterhin sieht er darin Anthropomorphes, Körperformen in unheimlicher, fantastischer und sexueller Formation. Fast zeitgleich mit den Surrealisten um 1920 entdeckt im Behn-Rorschach Test die Psychologie die Bedeutung der Ausdeutung nicht festgelegter Bilder. Die Tafeln mit sorgfältig getesteten Klecksbildern dienen der Analyse gutwilliger Patienten und werden zeitweilig als Grundlage für Einstellungsgespräche mißbraucht. Ich erinnere mich, daß ich als Kind längere Zeit als nötig auf dem Klo verbrachte, weil die freien Fließformen der Bodenkacheln mir immer neue Bilder bescherten, von denen ich einige hastig aufzeichnete. Die Tapete neben meinem Bett setzte sich aus wirren Mikroformen zusammen, die im Halbschlaf oder bei den für Kinder manchmal sogar angenehmen Fiebererkrankungen in Bewegung gerieten und mir magische Trickfilme vorspielten. Ein Urschleim der Formen und Figuren scheint hier vorzuliegen, das Erlebnis des Mitgestaltens an der sichtbaren Welt bahnt sich an. Als die abstrakte Malerei der 50er Jahre alle Bilder in Strukturen aufgelöst zu haben schien, Experten wie Werner Haftmann den Gegenstand in der Kunst als nicht mehr tragfähig ansahen, schlichen sich die neuen, alten, tiefen Gestalten über die Malerei des Informell und der neuen Figuration wieder ein. Die tiefen Schichten der Psyche und der Bilder zu reizen, hervorzukitzeln, die festgefahrenen Klischees der Massenkultur aufzuweichen, um die darunter fließenden Lavaströme freizulegen und ihre Formwelt im Zustand ihrer Entstehung zu erleben, ist die Arbeit mit dem Fleck, dem Fließenden, dem allmählich sich formenden ein immer wieder faszinierendes Erlebnis. Man begegnet sich selbst in Visionen, Fantasien, im Witz und in der Überraschung. Die Rede mit anderen, welche mit dem ähnlichen Material ähnliche, aber ganz persönliche Erfahrungen machen, führt zu einer Offenheit und unbefangenen Intimität der Sprache, welche an die Grenzen der Person führen kann, an die Haut und gelegentlich unter sie. Zwischen Selbsterfahrung, Bildentwicklung, Zugriff auf die Innenseiten, an die sich auflösende Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen sich selbst bestimmendem Material und Kunst bewegt sich solche Bildnerei. Bei dem nur leicht zu steuernden Zusammenwirken sich abstoßender Flüssigkeiten, Tusche und Terpentin, Fett und Wasser, wirken darüber hinaus Spielregeln der Materie, die ihre eigene Formwelt und Mikrostruktur schaffen. Nicht die Willkür der Hand hat das Sagen sondern die Bewegungen der Substanzen, welche dem Bildprozeß über die psychische und formale Lenkung hinaus die Objektivität von Naturprozessen gibt. Entsprechungen von Wolkenbildungen, Gezeiten, Schaum und Rauch erschließen sich der Beobachtung. Das rauschhafte Einatmen der ätherischen Dämpfe verbindet sich mit dem freigelegten Bildgedächtnis des Hirns. Pythia, die Sagenfrau des delphischen Orakels pflegte ihre dunklen Zukunftsverse unter dem Einfluß von Dämpfen den ängstlichen Pilgern mitzuteilen. Ohne unbedingt Künstler zu sein, kann eine solche Tätigkeit dem Menschen eine Ahnung von der Entstehung der Bilder vermitteln, einen Rauschhauch ihrer Magie und elementaren Notwendigkeit. Für Augenblicke ist auch die Grenze zwischen Künstler und Betrachter verwischt. Die sich über weite Bereiche der Fläche selbst malenden Formen erlauben die Empfindung, im Bildprozeß aufzugehen, Teil einer urtümlichen Genesis zu sein, vergleichbar dem starken Gefühl beim Entzünden eines Feuers.

 

Arbeiten mit Fleckformationen

 

Die Kursteilnehmer werden einer solchen Erfahrung ausgesetzt. Auf großformatigen Papieren setzen sie den schwarzen Acryllack aus der Spraydose gegen die frei aufgetragenen fließenden Flächen von Terpentin. Die beiden flüssigen Substanzen erzeugen in ihrem sich abstoßenden Charakter von ätherischem Öl und Wasser eine Fülle von Formen, grafischen Nuancen und Feinstrukturen. Zu beobachten ist eine Phase des Schaffens, in der die Menschen im Bild und in ihrer Fantasiewelt für eine kurze Zeit versinken, ein rauschhafter Zustand, der nicht nur durch die aufsteigenden Dämpfe des Äthers zu erklären ist. Mit den schnell wachsenden Formen tauchen Assoziationen an frühkindliche Erfahrungen, Traumvorstellungen und Alltagspraxis auf. So entwirft sich ein Kursteilnehmer als Sprayer an den Wänden seiner Stadt. Ein lange gehegter Wunsch der freien und anarchischen Selbstverwirklichung gewinnt Gestalt und wird auch im nachfolgenden analysierenden Gespräch von ihm so gedeutet. Eine andere Kursteilnehmerin, die Ausdruckstanz und Pantomime lehrt und praktiziert, entwirft choreografische Strukturen, wobei die Bewegungsspuren zu körperhaften Lineamenten gerinnen. Ein weiterer Referent für kulturelle Bildung entdeckt bei der Arbeit Erdkräfte, die er durch Zugaben von Lehm und Sandpartikeln auf seinem Bild zu steigern sucht. Die frei entwickelten Flecklandschaften erweisen sich im Gruppengespräch als anregenden Kommunikationsflächen über existentielle Fragen und bieten einen Austausch der Empfindungen von einer Intimität an, welche im rein verbalen Bereich in dieser Nähe nicht entstehen würde. Hier werden Erfahrungen des Behn-Rorschachtests in offener Gesprächsform ohne den analytischen Rigorismus der Schulpsychologie, zu dem auch sonst niemand von uns in der Lage wäre, im freien Gespräch angewendet. Aus der Verbindung von bildnerischer Aktion und Auseindersetzung mit den Formen und den Menschen, die sie hervorgebracht haben und geschehen ließen entsteht ein Gruppengefühl, das die meisten als anregend empfinden. Über die Frage, was solche grafischen Aktionen mit Kunst zu tun haben, wird zuletzt diskutiert mit dem Resultat, daß vergleichbar dem kunstpädagogischen Ansatz der Verwendung künstlerischer Techniken zur Erzeugung von Bildern und Formen solche Arbeiten der Sensibilisierung für grafische Spannungen und der Bereicherung der bildnerischen Kompetenz dienen. Sowenig, wie die Verwendung des orffschen Instrumentariums aus jedem Schüler einen Carl Orff macht die Arbeit mit informellen Maltechniken aus den Beteiligten einen Max Ernst im Sinne der Verwendung optischer Provokateure noch eine Jackson Pollock. Das Verständnis auch solcher Künstler allerdings kann auf diese Weise erweitert werden. Umgekehrt besitzen die entwickelten Arbeiten gerade wegen ihrer künstlerischen Unbefangenheit und Unbedenklichkeit einen faszinierenden Grad von Authentizität, indem sie auf reale Erfahrungen, Wünsche und Fantasien antworten und ihnen zum Teil eine unbestimmte aber bei genauer Betrachtung ablesbare Form geben.

 

Fleck-Frosch-Grafiken: Annette Bültmann