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Jörg Boström Verwandelt die Kunst eine Stadt? Ein Rundgang vom Steintor zur Bäckerstraße | ||||||
Sieht der Steintoreingang zum Radewig in Herford anders aus, wenn ein Minotaurus sich reckt? Was will er da-er erwacht. Wozu? Geschichte verbindet sich mit Sage. In einem Stadtteil, welche Handelswege verband, welche Rinder zum Markte trieb und heute weiter Fleisch verhandelt, welche seit dem 12. Jahrhundert als Händler- als Hökerstadtteil Handelswege bündelte, welches noch heute vom Wasser der Aa und des Stadgrabens umflossen eine Siedlungseinheit bildet, bietet die Plastik von Sabine Hoppe einen Stop zum Zögern, zum Nachdenken, zum Verbinden von Erinnerung und gegenwärtigem Gefühl. Kultur und Magie in einer Welt, die rechnet, die sich auch hin und wieder verrechnet, die nun für eine Schrittlänge dem Minotaurus gegenübersteht, der sie nicht morden und verzehren, der nur sich selbst befreien will aus dem Labytinth, der aufgehört hat zu töten und der nun auch nicht mehr getötet wird. | ||||||
Neuen Geist in das Quartier aus seinen Reisen durch Asien wünscht Klaus Nolte. Seine Grafiken verbinden die Gestalt des indischen Weisen mit den Türmen der Pilgerkirche St. Jakobi. Asien träumt das Bauwerk für die Pilger. In die Kirche wollte der Pfarrer diesen neuen Geist nicht lassen. Nun ist er ausgestellt in einem Leerstand auf dem steht: Zu verkaufen. Auch seine Bilder sind es, wie fast alle Kunst im Quartier, aber sie bleibt dennoch in ihrem, neuen Geiste. | ||||
Wenn Momo Ouchen seinen Wegweiser aufstellt, erhällt der Parkplatz am "Pinocchio" einen magischen Pförtner. Afrikanische Form verbindet sich mit europäischer Moderne und beide mit einer Botschaft zum Aufnehmen und Weiterleiten von natürlicher Energie. Aus der Wärme der Sonnenstrahlen bewegt sich das blau, das geistgefärbte Wasser in einem als unendlich gedachten Kreislauf. Die Skulptur von Ouchen ist Verkehrszeichen für einen neuen Umgang des Menschen mit sich und den Strahlen, mit der eigenen und der Kultur des anderen, mit dem vertrauten Lächeln und mit dem fremden Biss. | ||||||||||||||||||||||
Man trifft Mathias Polster, der immer wieder neue Gruppen durch das kollektive Kunstwerk führt, zu dem der Stadtteil Radewig für mehr als zwei Wochen geworden ist. Er trägt einen der Ringe, die Gilbert Bender an sorgfältige ausgetasteten Orten aufgestellt hat, an welchen die Menschen still im Ring stehend, Strahlen spüren können, von denen sie sonst unbemerkt geleitet werden. Ohne solches Gespür werden die Ringe immer wieder verschleppt und Toni bringt sie zurück, nun im Gespräch mit der Metzgerfrau Koch, welche Bilder leerer Landschaften aus Mecklenburg von Jörg Boström in ihrem Laden zeigt. Auch ein Minotaurus, nämlich Fleisch für die Kunst. | ||
Daran erinnert auch die Grafik als Rinderkopf im Wasser und auf dem Ufer. Der Rinderkopf an Schlachtung und die Blumen im Fenster an Gärtnerei. Hartwig Reinboth nimmt die Geschichte des Stadtteils als Hökerviertel in seine Arbeit auf. Bei genauem Hinsehen erweisen sich die Blumen als metallene Montagen aus Gabeln, Kellen, Messern, Harken. Sie stehn in einem dunkelblauen Licht und haben die klirrende Kälte von Operationsbestecken. Dem anrührenden ersten Blick folgt der zweite in stockendem Schrecken. | ||||
Just in time, das Buchprojekt als Experiment. Zeitgleich mit der Ausstellung im Stadtteil Radewig wird an einer fotografisch-grafischen und textlichen Dokumentation gearbeitet, welche einen visuellen, spontanen und persönlichen Einblick gibt in die Szene, in die Straßen, Bilder, Konstellationern und Reaktionen von Menschen, Kunst, Stadtszene, Verkauf und Lokal, von Kirche und Plätzen, von Wasser und Licht. Fotografen durchstreifen das Areal und liefern digitale Bilder unmittelbar in die Rechner. Die Projektruppe entwickelt auf der Grundlage einer grafischen Struktur ein lebendiges und faszinierendes Werk. Als Lehrender hat Prof. Fleischmann die Gruppe angesprochen und motiviert, als Herausgeber fungiert Prof. Boström, der auch als künstlerischer Leiter die beteiligten Künstler angesprochen und angeregt hat. Die Gruppe am Rechner. Athena Stebner, Stefan Abraham, Judih Venjakob, Andrea Chyla. Der Fotograf Timo Kleinerüschkamp erarbeitet das Bildmaterial während der Ausstellung und den Aktionen ebenso Andrea Chyla als Fotografin und Grafikerin. | ||
Oralapostel nennt sich eine Gruppe, welche Aktionskunst buchstäblich mit dem Mund gestaltet. Am Gänsemarkt stehen sie mit anscheinend aufgeblasenen Backen um den Brunnen, still und längere Zeit, bis sie beginnen, aus ihren Mündern Fäden zu ziehen, die sie in immer dichteren Verknüpfungen und Überlagerungen zu einem Netz formen, welche zuletzt ihre eigene Bewegungsmöglichkeit soweit einschränkt, dass sie nur noch dicht über den Boden kriechen oder mit hochgestreckten Beinen über ihr eigenes Fadenwerk steigen können. | ||||
Wie Sprache laufen die Fäden aus ihren Mündern und verstricken die "Redenden" und die "Hörenden" in immer dichtere Netze. Sie erinnern an Spinnen, die sich in ihrer eigenen Kunstferigkeit fangen. Man glaubt, so etwas wie eine Metapher des Rede- und Kulturgestrüpps zu sehen, in dem Menschen hoffnungslos verstrickt bleiben. Nur die Apostel verlassen nach vollendeter "Spinnerei" den Platz und hinterlassen das Fadenlabyrinth den Bürgern des Radewig. Zuletzt sind es die Kinder, welche das Spiel auflösen. | ||||
In einem Laden am Janup sieht man durch das Schaufenster Papiertüten mit Henkel an den Wänden lehnen, auf welchen Namen in großen Buchstaben geschrieben sind. In der Mitte des Raums sammeln sich weitere Tüten, sauber aufgereiht und abgelegt, wie nach einem abgebrochenen Einkauf. Die Künstlerin Christa Niestrath sammelt hier Vornamen von Einwohnern des Radewig, welche in ihre jeweilige Tüte kurze Texte versenken, die einen Eindruck, einen spontanen Einfall wiedergeben. So entsteht eine Installation aus Erinnerungen, Assoziationen und Gedanken. | ||||
An drei Stellen im Radewig findet man auf kurzen Stangen aufgestellte Ringe in malerischer Gestaltung. Gilbert Bender hat die Orte mit einem alten Grifflängensystem bestimmt. Diese Ringe ermöglichen eine persönliche Erfahrung, wenn sich der Besucher mindestens drei Minuten in sie hineinstellt und dabei auf seine Körperwahrnehmung achtet, auf Wärme, Kälte, Fantasien, Sehnsüchte. Für mindestens drei Minuten wird er entführt aus dem Alltag in ein persönliches Strahlensystem. | ||||
Zwischen Textilien der aktuellen Mode findet man überraschend Fotografien aus einer anderen, urzeitlich scheinenden Welt. Der Fotokünstler Wayne Quilliam hat Menschen und Brauchtum seines Volkes, der Aborigines in Australien, in Bildern gestaltet, welche die Lebensformen einer mehr als 50 000 Jahre von unserer getrennten Kultur mit westlicher fotografischer Bildsprache verbindet. Im Bezirk Radewig treffen sich für wenige Wochen Gedanken und Systeme von Menschen aus 7 Nationen und weit mehr künstlerischen Welten. | ||||
Der Plan vom Radewig wird zur grafischen Bühne eines Computersystems, das den Menschen die Möglichkeit gibt, Wünsche, Vorschläge, Pläne einzugeben zur Verwendung in einem Planungsinstrument. Anthony Hays und Marcus Rücker haben es entwickelt. Im gleichen Raum sieht man Computergrafiken von Manfred Schnell, welche den Namen Radewig wörtlich nehmen und das Quartier fiktiv verwandeln in einen Rotlichtbezirk. | ||||
Luftbider von Jörg Boström verwandeln Aufsichten aus großer Höhe auf den Radewig in Malerei, welche netzartige Verknüpfungen und organisches Material mit städtebaulicher Struktur verbindet. Dabei erinnert einiges an urzeitliche Wirbel, aus welchen die gegenwärtigen Siedlungsformen hervorgegangen sein könnten. | ||||
In den Fenstern und Räumen eines noblen Bekleidungsgeschäftes an der Ecke zum Gänsemarkt trifft man auf Bilder von Rolf Ziert, die sich zunächst unauffällig und dann immer sichtbarer in die visuelle Struktur des Geschäftes einfügen. Überraschend stösst man auch auf Bildnisse von Künstlerkollegen wie Günter Frecksmeier und Woldemar Winkler, der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag feiert, herzlichen Glückwunsch. | ||||
Eine Apotheke stellt aus, Malerei in kleinem Format. auf Quadraten und auf Kuchenpapptellern, optische Leckereien von Gunther Grabe. Hier wird die Sicht auf Landschaft und Szene umgewandelt in Farbmaterial, der schweifende und und dann angehaltene Blick realisiert sich in Pinselstrichen. Hier ist Optik auf Rezept zu haben. Dass ein Apother Arzeneien zur Seite räumt, um solche Malerei in feinen Dosierungen zu verabreichen, zeigt das Interesse von Bürgern des Radewig an künstlerischen Aktionen und bringt neues, anderes Leben in die Region, die nicht mehr nur auf ihr Museum, das Daniel-Pöppelmann-Haus angewiesen ist. Gunter Grabe baut mit Wolfgang Baumann, der eine Bootskulptur auf der Gegenseite präsentiert und Michael Plöger, der einen großformatigen Holzschnitt in der Jakobi Kirche zeigt, so etwas wie eine optische Achse mit wechselnden Deutungen quer über die Radewiger Straße. | ||||||||||||||||||||
Selbst über das Wasser der Aa wandern muss Mathias Biedenkopf-Riedel, um die Stahlbandverbindungen wie eine Oberleitung für seine Wasserfüße zu spannen. Die großformatige Beinskulptur wandert mit wechselndem Wasserstand und variierenden Strömungsstärken von Ufer zu Ufer und verbindet so das Wasser umflossene Viertel sympolisch und wirklich zugleich mit dem außerhalb liegenden Stadtgebiet und der Ferne. Der Radewig war und ist ein Händler- und Hökerstadtteil und lebt von dem wechselseitigen Zustrom von Bewohnern und Besuchern, welcher durch die Kunstaktion LEERExVISION verdichtet wird. | ||||||||||||||||||||||||
Die Besucher durchwandern die von Kunst durchsetzte Szene und bemerken plötzlich, dass sie auch Kunst unter ihren Füßen haben, begehbare Bilder von Bernhard Sprute, die er Herforder Schmuckstücke nennt. Wie selbstverständlich liegen auf Kanaldeckel festverschraubt, trittfeste Werke von seiner Hand aus dem umfassenden Projekt Systembilder. Ein System, das Malerei einsickern läss in die alltägliche Materialität und sich nicht ehrfurchtverlangend absetzt wie Kunst in den Museen. Hier ist Kunst, wo man sie nicht erwartet und doch liegt sie wie selbstverständlich unter unseren Füßen. | ||
Klassisch im Schaufenster eines Leerstandes sieht man in der Fußgängerzone Bilder von Gerda Scheidler, die existentielle Botschaften und malerische Schreie in die Altstadtidylle hinein senden. Ihre Bilder antworten auf aktuelle Bedrohungen wie Krieg, Spaltung, Feindschaft, Explosionen. Gemalt vor aktueller Attacke sind sie immer wieder treffend. Man meint die künstlerische Antwort auf die letzte Meldung von Attentat, Giftgas und Bombenzündung zu finden. | ||||
Der Maler Weizenfeld gibt in einem alten Bauwerk Einblick in seine Kunst und seine Arbeitsweise. Hier kann der Besucher Malerei erleben im Enstehen der Ideen, der Umsetzung auf der Leinwand, der Variation, der Korrektur. Er wird Zeuge der Mühe und der Realisierung von Bildern, welche zugleich gegenständlich und daher verständlich scheinen und doch im Wechselspiel der Deutungen ihr Geheimnis und ihre Identität bewahren. | ||||
Eine Verbindung von europäischem Kunstkonzept und indianischer Formgebung zeigt sich in der Arbeit von Oswaldo Pulidos, Bewegung in der Leere. Er anrwortet auf das Thema des Projekts Leere x Vision. Seine maskenhaften Figuren schwingen im Wind und bei Anstößen durch die Betrachter, welche die Figurengruppe durchschreiten und sich mit ihnen in den Raum, in den Kunstraum eingebunden wiederfinden. Ein magisches Gefühl schwebender Existenz. | ||||
An der Brücke der Aa sieht man eine Leiter ins Wasser schweben, gestaltet aus Draht, zu dünn um darauf herunterzusteigen, fast so dünn, dass man sie übersehen kann. Susanne Anbrecht nennt diese Arbeit Hexentreppe. Auch in Herford wurden Frauen, deren Verstand und Erfahrung das gebotene Mittelmaß überschritten, eifersüchtig beobachtet, denunziert und als Hexen umgebracht. Auf eine perfide Weise. Sie wurden ins Wasser gestoßen. Ertranken sie, waren sie unschuldig und wurden christlich begraben. Kamen sie schwimmend an die Oberfläche, mussten es Hexen sein, wer sonst kann schwimmen? und sie wurden verbrannt. Die Künstlerin erinnert an Geschichte und an mörderische Unterdrückung früher Emanzipation. | ||||||||
Zuletzt kann sich der müde gelaufene und mattgeschaute Besucher dieser öffentlichen Galerie der 21. Jahrhunderts, der nicht mehr weiß, was Kunst ist und was nicht, der zu sehen und zu denken, zu zweifeln und zu genießen angeregt wurde, ausruhen auf den Sandbänken von Marcus Wildelau, die im Wasser stehen bei Hochwasser und auf dem Trockenen zu anderen Zeiten. Wer die richtige Phase wählt ruht sich aus und geht angeregt nach Hause, der andere bekommt nasse Füße und redet ärgerlich über dieses ihm unverstämdliche Projekt. Den meisten Besuchern, fast allen, sagt der Begleiter Mathias Polster, hat es gut gefallen?? Ja,das kannst du mir glauben. Und dies war nur ein Teil der über 50 Arbeiten. | ||||||||
Beworben wird in Herford die Kunst wie die zeitgleiche Kirmes. Beide Veranstaltungen laufen nebeneinander ohne sich zu stören, vielleicht regen sie an zu wechselseitigem Besuch. Die Kirmes mit dem Titel Vision hat eine lange Tradition in dieser Stadt. Die Kunst wird diese Tradition noch finden. Mit dem Projekt Leere x Vision und mit dem Kunst und Möbel Konzept MARTa im faszinierenden Bau von Gehry sind Anfänge gesetzt, sichtbare Zeichen in die Region und weiter. | ||||