Zum InhaltsverzeichnisVirtuelles Magazin 2000 

Jörg Boström

Kann eine Stadt die Kunst verändern?

Überlegungen zur Finissage von LEERExVISION

Auf die Gefahr hin, dass ich Langeweile verbreite, möchte ich erstmal Dank sagen, und zwar an die Künstler zunächst einmal, und an die Gastgeber, diese Kombination, wie sie hier stattgefunden hat, ist in gewisser Weise einzigartig. Wir haben eine Wende, jetzt behaupte ich das, in der Kunstszene mitgemacht, ich will nicht sagen, ausgelöst, aber mitgemacht, wo die Kunst sich löst aus ihrer Isolation, wo sie sich löst von ihrer musealen Einmaligkeit, wo sie sich löst von ihrer Bürgerferne, wo sie sich löst vom feierlichen Kulturbetrieb, wo sie sich löst vom Präsentationsgebaren und wo sie sich löst von einer Sammler-Anlage für eventuelle Spekulationen, dass Kunst in 10 Jahren das 10fache, 100fache wert ist und so weiter. Wir haben mit diesem Projekt, da haben die Künstler einen hohen Anteil, aber auch die Bürger der Radewig, erreicht, dass eine Kommunikation der modernen, nicht irgendeiner, die man vielleicht schon kennt von -zig Reproduktionen, sondern der aktuellen, der jungen Kunst, mit den lebenden, augenblicklich hier existierenden Bürgern zustande gebracht, und das ist meines Wissens noch nirgendwo in dieser Form passiert, und das ist eine Wende, meine ich, in der Entwicklung der Kunst.

Ich finde, dass die Kunst eine neue Chance hat, den Bürger direkt anzusprechen, und mit dem Bürger in Kontakt zu treten und zwar während der Produktion. Die Produktion findet nicht mehr nur isoliert im Atelier statt, und dann werden die Werke in Galerien präsentiert, die nur von einem begrenzten Interessentenkreis aufgesucht werden, sondern die Werke entstehen im unmittelbaren Kontakt mit den Bewohnern, mit der Realität, mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit.Und das ist eine Sache, die ich an diesem Projekt immer wieder faszinierend fand, schon in der Grundidee, und weiterhin faszinierend finde, das ist eine ganz neue Chance.

Ich möchte noch etwas zum Quartier Radewig sagen, jetzt als Ort. Wir hatten doch den Begriff Leere aus zwei Gründen gewählt. Der eine ist der sicherlich beklagenswerte Leerstand in der Geschäftswelt. Das ist nichts Spezifisches für Herford und auch für nicht für den Radewig. Das gibt es in Berlin, wie ich jetzt festgestellt habe, ich wohne jetzt da, das gibt es in vielen Städten. Wir haben einen unsere Wirtschaft ich will jetzt keine Wirtschaftsanalyse versuchen, das machen die Wirtschaftsweisen zur Genüge, ich sage es jetzt ganz pauschal, wir haben die Wirtschaft sehr hochgekurbelt, und wir glauben im Augenblick, wir seien das Schlusslicht, das behaupten sogar Politiker. Ich kann darüber eigentlich nur lachen. Wenn man nach Polen fährt oder nach Portugal oder nach Griechenland oder nach Süditalien, und sich da umsieht, dann kann man nicht mehr behaupten, dass Deutschland ökonomisch ein Schlusslicht ist, auch nicht in der wirtschaftlichen Lage, auch nicht in der industriellen Produktion und schon gar nicht im Lebensstandard. Auch Riesen können nicht endlos weiterwachsen. Wir sind in einer Weise jetzt ökonomisch hochgefahren, dass die Lage besteht, dass wir einen Rückschritt als eine wirkliche Depression erfahren, und das halte ich für falsch. Die Leere, die jetzt von uns als Begriff gesetzt worden ist, ist eine Chance, ist eine Chance, neue Ideen zu entwickeln, neue Initiativen zu entwickeln, neuen Mut zu entwickeln. Bewegungsraum, Spielraum, bedeutet auch Leere, und das hat dieses Projekt ja auch gezeigt, dass gerade aus der Leere Neues entsteht, dass Aktivitäten wach werden, die bisher geschlummert haben, bisher noch gar nicht zum Zuge kamen.

Ein Zweites ist bei dem Projekt in meinen Augen ganz wichtig: Kunst wurde nicht hier hinein transportiert, jedenfalls bei den meisten Projekten nicht. Kunst wurde unmittelbar in dieser Region, im Quartier gemacht; das Quartier selber ist nicht nur Gastgeber der Kunst gewesen, das muss man ganz deutlich sagen, der Radewig ist Gegenstand, ist Inhalt der Kunst geworden. Das ist etwas Neues, dass fast alle Werke, die Sie hier sehen konnten, unmittelbar bezogen auf diesen Raum gestaltet sind, dass sie ohne den Radewig und dieses Projekt gar nicht entstanden wären, dass der kreative Prozess gewissermaßen sich umdreht, oder besser, dass ein Wechselspiel stattfindet. Das Quartier regt durch seine Situation und seinen besonderen Charakter die Künstler zu neuen Werken an. Das meiste, was sie hier sehen, existierte gar nicht wenn es dieses Projekt Leere & Vision nicht gegeben hätte. Die Kunstwerke waren nicht da, die Kunstwerke sind entstanden aufgrund dieses Projekts und antworten auf die konkrete Situation, welche die Künstler hier vorgefunden haben. Ich muss das nicht im Einzelnen ausführen. Sie haben ja in etlichen Rundgängen, die Mathias Polster in kundiger, zauberhafter und charmanter Weise durchgeführt hat - auch ich habe diese Rundgänge genossen, gerade weil ich die Sachen kenne, aber seine Art, sie zu präsentieren, machte wirklich Spaß. Wir haben gesehen, dass diese Werke unmittelbar hier vor Ort ihre Funktion haben. Da laufen Füße über Wasser, da sind Reizkörper zu sehen, da sieht man auf der Strasse Kunstwerke, über die man hinweg läuft, die man dann plötzlich wahrnimmt, dass man also Kunst gewissermaßen unter den Füssen hat, und man hat sie vor Augen, man geht in Geschäfte, wo man sonst Textilien kauft, und ist mit Kunstwerken konfrontiert, ohne dass sich da Reibungen ergeben, sondern es ist ein Wechselspiel der Kommunikation auch zwischen den verschiedenen Materialien, den verschiedenen Formen, der verschiedenen ästhetischen Struktur. Sie haben bei dem Projekt auch ganz und gar neue, experimentelle Formen der Kunst erleben können, wie sie eben sonst die Dokumenta liefert. Selbstverständlich, bei der Dokumenta, geht man auch erhobenen Hauptes und gedankenvoll hin, und weiß dass man ein ziemlich schwieriges Werk vor sich hat, das Ganze zu absolvieren und zu verarbeiten. Wer von Ihnen da war, weiß, dass das gar nicht so einfach ist, so einen Tag in Kassel durchzustehen, oder noch einen zweiten oder dritten Tag.

 

Hier sind diese Werke unmittelbar im Alltag eingebunden, und man kann die Werke in ihrem realen Zusammenhang, in ihrem realen Kontext genießen, wenn ich das sagen darf sagen, ihre Rätsel mit sich nach Hause nehmen. Nicht jedes der Werke ist so einfach zu entschlüsseln. Kunst ist kein Ratespiel. Die Kunst gibt nicht einfach nur Antworten, es ist nicht so, dass man durchgeht und sagt "erklär mir das doch mal" und dann fängt jemand an zu erklären, und dann sagt derjenige, der zuhört: "ja, jetzt hab ich es verstanden". So einfach ist die Wirklichkeit nicht, dass man sie einfach nickend verstehen kann, so einfach ist die Kunst nicht, so einfach sind auch die Gedanken der Künstler nicht, sondern die Kunst gibt uns immer wieder Rätsel auf und macht uns darauf aufmerksam, dass die Wirklichkeit ein bisschen geheimnisvoller ist, als wir es uns in unserem täglichen, geordneten Leben vorstellen.

Susanne Albrecht

Projekt Kleid aus zweiter Hand

Auch dies ist ein kreativer Impuls, was Neues zu machen, eben Fragen zu stellen, und nicht jetzt gleich eine Antwort zu erwarten, und mit den Fragen auch leben zu können, und diese Fragen als Motor für die eigene Existenz immer weiter mit sich herumzutragen. Ich bedanke mich also ausdrücklich bei den Künstlern, für ihre Energie, die sie hier eingesetzt haben, Neues zu schaffen, bei den Gastgebern, das ist, wie ich schon sagte, eine ganz neue Situation, dass Menschen, die in der Bohème Zeit der Künstler immer so verfluchten Bürger, von denen man so sagte "das sind Spießer, die haben mit Kunst nichts zu tun, die interessieren sich nicht für Kunst".Der Begriff "Bürger" ist ja in der Kunstgeschichte der Bohème des 19. und im Beginn der Moderne eigentlich ein Schimpfwort, diese Bürger sind aufmerksame, sorgfältige, kreative Komunikatoren geworden.

Eine neue Form jetzt des menschlichen Umgangs zwischen den Bürgern, die man jetzt positiv auch Bürger nennen darf, und den Künstlern, dies hat hier stattgefunden. Ich bedanke mich also auch jetzt noch einmal bei den Gastgebern ausdrücklich und ich muss sagen, ich hatte ein solches Erlebnis im Umgang mit diesen Menschen, die eben sonst mit der Kunst nicht direkt in Berührung kommen, ein solches erfrischendes Erlebnis bisher noch nicht. Wenn man eine Ausstellung als Künstler macht, dann hat man seine Gesellschaft da, seine Freunde, seine Künstlerkollegen, und man hat, wenn man Glück hat, die Sammler da, aber man kommt ganz selten mit den Bürgern zusammen und genießt eben diese kreative Nähe dann nicht, sondern man hat da ein kulturelles "Abnicken", das auch sehr nett ist aber nicht diese Spannung, die man finden kann, wenn man mit Menschen, mit lebenden, tatsächlichen, hier arbeitenden, hier verkaufenden Menschen zu tun hat.

Schönen Dank.

 

Fotos digital

Annette Bültmann