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Jürgen Escher - Fotografien

Schwarz- Weiss - Wer denkt jetzt an Schwarz Afrika

 

In der Ausstellung zum Dialog der Kulturen am Beispiel Belgisch-Kongo und Europa zeigt Jürgen Escher sehr nah aufgenommene Porträts. Sie gehen den Menschen bis auf die Haut .

Die Ausstellung zeigt ausserdem Masken, Bilder Skulpturen.

Koordination Ann Demeester,

Leiter Jan Hoet, Direktor des

MARTa.Herford.

 

 

 

Christian Frevel

Der verdrängte Weltkrieg

Kongo.Kinshasa: Seit 100 Jahren Ausbeutung, Krieg und Mord

Adolphine Nzuzi liegt seit acht Monaten auf der gleichen, dreckigen Schaumstoffmatratze. Seit sie auf der Flucht vor der ruandischen Armee verletzt wurde, ist sie querschnittsgelähmt. Vor acht Monaten brachte man Adolphine nach Lubumbashi, eine Stadt im Südosten der Demokratischen Republik Kongo. Seitdem liegt sie auf dieser Matratze im Camp von Elakat am Rande Lubumbashis: Ein Leben auf 1,6 Quadratmetern. Adolphine hat sich den Rücken wund gelegen und verliert jeden Tag ein wenig mehr von dem Lebenswillen, der sie bis hierher gebracht hat.

Adolphine ist 43 Jahre alt. Ihr Mann hat sie in den Wirren des Krieges verlassen. Sie hat ihr Zuhause im Norden des Kongo verloren, hat die Grauen des Krieges gesehen und erlebt, ist von irgendwelchen Leuten mitgeschleppt worden, als sie selbst nicht mehr laufen konnte. Von den acht Kindern sind zwei auf der Flucht verloren gegangen, wie sie sagt. Erst an dieser Stelle des Interviews, nachdem Adolphine fast zwanzig Minuten den Krieg ihre Leiden geschildert hat, füllen sich die Augen mit Tränen und die Stimme bricht: “Ich möchte die beiden noch einmal sehen. Mehr will ich gar nicht mehr, ich bin doch schon tot.”

Das Camp von Elakat war einst eine Fabrikhalle, die der nationalen Eisenbahngesellschaft gehörte. Seit den Plünderungen im Jahr 1991 stand die Fabrik leer. Jetzt dient sie Flüchtlingen als Zuhause. Rund 500 Menschen sind es allein im Camp von Elakat. Anfangs kamen Säcke mit Reis und Bohnen von internationalen Hilfsorganisationen. Das ist lange her; wer hier gelandet ist, gehört zu den “Binnenflüchtlingen”, zu den Vertriebenen, für die keine internationale Hilfe vorgesehen ist. So blieben von den Hilfslieferungen nur die leeren Säcke, die nun, säuberlich aufgetrennt und zusammengenäht, als “Wände” für ein Stück Privatsphäre dienen: Sechs Quadratmeter für jede Familie, getrennt durch ein dünnes Stück Plastikgewebe. Schmale Gänge führen zwischen Hunderten kleiner Familienkabinen hindurch, und hinter jeder Plane steckt ein Stück Schicksal. Vergewaltigte Frauen, verstörte Väter, Waisen und Witwen, Versprengte und Verwirrte. Alltag in einem Land, das seit mehr als hundert Jahren fast durchgängig nur Ausbeutung, Krieg und Mord kennt.

Der jüngste Krieg begann 1998. Laurent Désiré Kabila hatte an der Spitze einer Allianz für die Befreiung des Kongo den Diktator Mobutu gestürzt und selbst die Macht übernommen. Das Land kam vom Regen in die Traufe. Es kam zum Bruch der Allianz. Im Osten erhoben sich von Ruanda unterstützte “Rebellentruppen” gegen Kabila. Seitdem herrscht erneut Krieg. Kabila holte sich Truppen aus Namibia, Simbabwe und Angola ins Land, die Rebellen erhielten Unterstützung aus Uganda und Ruanda. Die Demokratische Republik Kongo ist seitdem faktisch geteilt; während der Norden und Osten von verschiedenen Rebellengruppen kontrolliert wird, sind der Süden und Westen des Landes in der Hand der Regierung. Seit der Ermordung Laurent Désiré Kabilas herrscht dessen Sohn Joseph als Präsident in Kinshasa.

Es ist ein blutiger Krieg. Seit August 1998 wurden 250.000 Menschen Opfer militärischer Gewalt; Fast zwei Millionen Menschen starben an den indirekten Folgen des Krieges. Zwei Millionen Menschen haben ihre Dörfer verlassen und sind auf der Flucht beziehungsweise leben als Flüchtlinge in Lagern. Madeleine Albright, die ehemalige US-Außenministerin, hat den Krieg im Kongo als “ersten afrikanischen Weltkrieg” bezeichnet. Denn mittlerweile sind sechs afrikanische Staaten und mindestens acht verschiedene Rebellengruppen involviert. Es geht um politischen Einfluss, um Land, und es geht um Bodenschätze wie Diamanten, Gold und Koltan (ein für die Computerchip-Produktion wichtiges Element).

Im Krieg herrschen andere Gesetze. Menschenrechte werden auch dort, wo keine Kämpfe herrschen, außer Kraft gesetzt. Amnesty International weist Jahr für Jahr auf gravierende Menschenrechtsverletzungen im Kongo hin. Die Lage hat sich zwar unter Joseph Kabila etwas gebessert, doch auch seine Regierung hält Journalisten von freier Berichterstattung ab, nimmt Menschenrechtler ohne Angabe von Gründen in Haft und wird für Massaker in den Kriegsgebieten verantwortlich gemacht.

Der Kongo ist ein reiches Land, und der Krieg lohnt sich: Die Armeen aus den Nachbarländern, die von den Rebellen beziehungsweise der Regierung offiziell um Unterstützung gebeten wurden und mit dieser Begründung im Land sind, werden direkt aus den Minen bezahlt. Das simbabwische Militär hatte seinen Dienst im Kongo von der Regierung in Kinshasa Kupferminen überschrieben bekommen. Doch die Ausbeute war nicht so hoch, wie man es sich erhofft hatte. Nach Drohungen dürfen simbabwische Firmen jetzt Tropenholz aus dem Regenwald holen ­ der Urwald der Kongoregion gilt als “Lunge” der Atmosphäre.

Doch auf die Bewahrung der Natur wie der Menschen hatte noch keine der Besatzungstruppen im Kongo Rücksicht genommen. Belgiens König Leopold II. hatte den Kongo als seine “private” Kolonie ausersehen, die er durch Privatgesellschaften, an denen er finanziell beteiligt war, erschließen ließ. Suchte man zuerst nach Holz, Kupfer und Manganerzen, so förderte der Kautschukboom des späten 19. Jahrhunderts eine massive Ausbeutung des Regenwalds. Der Kongo-Freistaat, der faktisch dem belgischen König gehörte, trieb die Einheimischen unter sklavenähnlichen Bedingungen dazu an, im Regenwald Kautschuk zu sammeln. Bei Strafexpeditionen, durch Hunger und Erschöpfung infolge von Zwangsarbeit sowie durch eingeschleppte Krankheiten kamen zwischen 1885 und 1920 rund zehn Millionen Menschen ums Leben. Etwa die Hälfte der Bevölkerung im Gebiet des heutigen Kongo wurde durch Fremdeinflüsse getötet: Ein Genozid, der heute in Europa fast vergessen ist.

1908 war der Kongo offiziell belgische Kolonie geworden. Doch die Kautschuk-Ausbeutung ging ebenso weiter wie die Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung. Die Proteste vor allem in den USA und England führten zwar dazu, dass sich die “Kongo-Greuel” nicht wiederholten, doch die belgischen Kolonialherren herrschten in einer paternalistischen Weise, die ausschließlich ökonomische Interessen verfolgte. Eine Förderung einheimischer Kräfte oder der Aufbau einer einheimischen Elite fand nicht statt.

“Wir haben den Kongo zu früh in die Unabhängigkeit entlassen”, meint Gerard Devriendt, der mehr als zehn Jahre als belgischer Kolonialbeamter im Kongo lebte. “Es war unser Fehler, dass wir nicht dafür getan haben, dass es eine intellektuelle Führungsspitze im Land gab, als die Belgier gehen mussten.” Die Kolonie Kongo ist im Königreich Belgien nicht vergessen. Im Gegenteil: Belgien fühlt sich immer noch ein wenig als “Beschützer” des Kongo, und als eine belgische Regierungsdelegation im Jahr 2001 in Kinshasa landete, hatten sich Tausende Kongolesen auf dem Flughafen versammelt, um die Politiker der ehemaligen Kolonialmacht willkommen zu heißen und zu feiern.

“Wir haben diese Land geliebt und lieben es immer noch, man kann das nicht einfach beiseite legen”, meint Henriette de Vos. Als junge Frau hatte sie kurz nach Krieg einen belgischen Kolonisten geheiratet und war mit ihm “en brousse” mitten hinein “in die Wildnis” gegangen. “Wir hatten kein fließend Wasser, keinen Strom, kein Radio ­ aber es war ein Leben, das ich immer wieder wählen würde”, meint die alte Dame rückblickend. “Unser Besitz war riesig groß. Mein Mann war oft wochenlang unterwegs, um die Ernte und den Anbau zu kontrollieren.” Als die Kolonie für viele überraschend in die Unabhängigkeit entlassen werden (musste), flüchtete Henriette mit wenigen Sachen, die sie mitnehmen konnte, von ihrem Besitz: “Das meiste blieb da, wir hatten Angst, dass die Eingeborenen uns etwas antun würden.”

Heute treffen sich Gerard Devriendt, Henriette de Vos und viele andere ehemalige Kolonisten regelmäßig in einem Freundeskreis, um Erinnerungen an die Zeit im Kongo auszutauschen und Neues zu unternehmen. Im Kongo waren die meisten nie mehr. Zu sehr hat sich das Land verändert. Auf dem zentralen Friedhof von Kinshasa hat man, im Vorfeld des belgischen Staatsbesuches, die Gräber der im Land gestorbenen Kolonisten wieder etwas hergerichtet und mit den schwarz-rot-goldenen belgischen Nationalfarben verziert. Zwischen den Gräbern schlafen nachts die “Shegués”, die Straßenkinder von Kinshasa. Ihre Zahl ist in den letzten Jahren durch Krieg und Vertreibung sprunghaft angestiegen. Seitdem es auf dem Hauptmarkt von Kinshasa zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam, fürchten die “Shegués” das Licht der Öffentlichkeit. “Unser Leben ist schlecht, und die Polizei verfolgt uns”, meint Papi Jean-Pierre, ein 17-jähriges Straßenkind. Er lebt davon, auf den Hauptstraßen Kinshasas Autofahrer um ein paar Geldstücke anzubetteln. Doch wie die meisten Straßenkinder, leidet auch Jean-Pierre Hunger.

Der Hunger trifft alle: Zwei von drei Kongolesen sind unterernährt. Die Zahlen, jüngst von der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) veröffentlicht, zeigen das Ausmaß des Elends: 64 Prozent aller Kongolesen sind unterernährt (in Afghanistan sind es 58 Prozent). 1992 waren es “nur” 35 Prozent - die Zahl der Menschen, die Hunger leiden, hat sich in den letzten acht Jahren verdoppelt.

Dabei ist der Kongo ein reiches Land. Große Vorkommen an Bodenschätzen, fruchtbare Böden, ideale Verkehrsverbindungen durch den ganzjährig schiffbaren Kongo-Fluss: Die Krise der Menschen hat ihren Ursprung in Ausbeutung, Krieg und Korruption.

Wer es irgendwie möglich machen kann, verlässt das Land. Der Wunsch, nach Belgien, Frankreich oder gar in die USA zu gehen, steht vor allem bei den Jugendlichen ganz oben. Die Nachfrage, was sie denn dann dort tun wollten, wird erst einmal mit einem Schulterzucken beantwortet ­ erst einmal raus aus dem Kongo, dann weiter sehen. Doch es sind vor allem auch die Fachleute, die “Elite” des Landes, die den Kongo verlässt. “Unser Land hat viel zu wenig Ärzte, weil die meisten dem Kongo längst den Rücken zugekehrt haben”, meint Professor Jean-Jacques Muyembe. “Die meisten kongolesischen Mediziner arbeiten in Simbabwe und Südafrika. Der Krieg und der Bankrott unseres Staates führen zu einem beispiellosen ,brain-drain’, zum Exodus der intellektuellen Elite.” Der Professor, der in Kinshasa das international renommierte Institut für Biologie INRB leitet und einer der wenigen Experten für tropische Fieberkrankheiten wie Ebola ist, lebt selbst nur weiter in Kinshasa, weil er sich als “naiv und ein wenig verrückt” bezeichnet. Seiner Tochter, die ebenfalls Medizin studiert und derzeit in Belgien ihren Abschluss macht, riet er: “Bleib’ wo du bist, hier geht nichts mehr.

Wie den meisten Afrikanern, geht es auch den Kongolesen schlechter als vor vierzig Jahren, als das Land die Unabhängigkeit errang. Das Land ist heruntergewirtschaftet. Doch tiefer als im Kongo geht es auch in Afrika kaum noch. Der Verkehr innerhalb des Landes ist zum Erliegen gekommen. Die Straßen sind verrottet. 1960 gab es im Land rund 50.000 Kilometer Straße, heute sind es noch 5600. Damals konnte der Kongo Nahrungsmittel exportieren, heute sind hunderttausende im Land auf Hilfe von außen angewiesen, um nicht zu verhungern.

Seit der Unabhängigkeit ist das Land immer weiter in wirtschaftliche Not gesunken. Das liegt vor allem auch daran, dass Politiker wie der 1997 gestürzte und 1998 im Exil gestorbene Diktator Mobutu das Land als Privatkasse ansahen und es hemmungslos ausraubten. Diese “Tradition” lebt auch heute noch fort.

Hoffnung gibt es vor allem, weil die meisten Kongolesen heute jünger als 14 Jahre sind. Die kleine Marthe beispielsweise: Das aufgeweckte Mädchen wohnt bei Vater und Mutter in Lemba, einem Viertel Kinshasas nahe des Lumumba-Turms. Die Eltern achteten darauf, dass die Familie nicht zu sehr wuchs - natürliche Familienplanung half dabei. Und Marthe spricht mit leuchtenden Augen von ihren Plänen, einmal Medizinerin werden zu wollen. Wäre sie heute schon Ärztin, sie wäre der einzige Doktor in Lemba, einem Stadtteil mit rund 10.00 Einwohnern.

 

Clothilde Amundela (32), Hausfrau, Limete, Kinshasa, 14.8.2001 “Meine älteste Tochter ist seit drei Jahren bei Verwandten in Norwegen. Auch wenn sie ohne uns aufwächst: Es geht ihr auf jeden Fall besser als in Kinshasa. Es ist das Beste für sie, im Ausland aufzuwachsen."

Fréderic Etsou Nzabi Bamungwabi (70), Kardinal und Erzbischof, Kinshasa, 25.8.2001 “Der Krieg im Kongo hat bereits zu lange gedauert. Wir brauchen den Frieden und die nationale Integrität unseres Landes. Wir brauchen einen Rechtsstaat,also einen Staat, der das Leben und die Würde jeder Person respektiert und verteidigt, ohne Diskriminierung oder Ausnahmen.”

Patrick Monzemu Moleli (62), Journalist, Kinshasa, 15.8.2001

“Journalisten im Kongo veröffentlichen Nachrichten gegen Geld. Wer reich ist oder macht hat, kauft sich so seine Öffentlichkeit. Jeder weiß das, aber den Journalisten bleibt kaum eine andere Chance, Geld zu verdienen.”

Silvester Sengiyuya (21), Söldner, Hospital Sendwe, Lubumbashi, 22.8.2001

“Ich bin mein Leben lang Soldat gewesen, schon mit 16. Bei Kapondo erwischte mich eine Kugel, seitdem bin ich gelähmt. Ich werde wohl bei der Armee bleiben können, als Telefonist. Wo soll ich auch sonst hin?”

Raphaelle Manyonga-Wamana (18), Schülerin, Katuba, Lubumbashi, 22.8.2001 “Ich will Ordensschwester werden und bei den Salesianerinnen eintreten. Nächstes Jahr schließe ich die Schule ab und gehe in den Konvent. Ich will mein Leben den Kindern und Jugendlichen widmen.”

Patrick Mulumba (14), Schüler und ehemaliger Straßenjunge, Cité de Magone, Lubumbashi, 20.8.2001 “Ich habe viele Jahre auf der Straße gelebt. Jetzt bin ich hier in der schule, soll etwas lernen. Aber wenn ich eine Chance hätte, hier wegzukommen, in die Hauptstadt beispielsweise, warum nicht? Ja, ich würde sofort gehen.”

Marthe Kambo (11), Schülerin, Lemba, Kinshasa, 18.8.2001 “Wenn ich groß bin, will ich Ärztin werden. Ich übe schon: Wenn mein kleiner Bruder verletzt ist oder krank ist, pflege ich ihn, auch wenn er das nicht will. Papa sagt, Ärzte sind teuer.”