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Jörg Boström

Übergang - zur Ausstellung "cross over" in Bamberg

Eine "illegitime Kunst" (Bourdieu) wird die Fotografie noch immer genannt. Ihre Beziehung zu bildenden Künstlern ist fast so alt wie sie selbst; aber sie hatte meist den Charakter eines verruchten Verhältnisses. Die Aktionen der bildenden Künstler in der Frühzeit waren Seitensprünge, einige von Edvard Munchs großen Gemälden sind auf fotografischen Vorlagen aufgebaut, ebenso bei Gauguin und Cézanne, die aber den fotografischen Ursprung verleugnen. Erst die Künstler der Pop Art setzen sie als Fotografie in ihre Bilder, inzwischen bedienen sich bildende Künstler fotografischer Techniken und Wirkungen parallel zu malerischen grafischen etc. Umgekehrt verwenden Künstlerfotografen malerische Techniken und Kunstkonzepte zur Herstellung der fotografischen Bilder. "cross over" - die hier gezeigten Bilder überschreiten Grenzen, sie sind künstlerische Dokumente einer Zeit im Übergang. Sie sind nicht einmal mehr legitimiert durch die inzwischen allgemein akzeptierten Abbildfunktionen des Mediums Fotografie. Seit 150 Jahren steht das fotografische Abbildverfahren der Öffentlichkeit zur Verfügung und diese hat sich entsprechend bedient, am wenigsten noch die Künstler dieser Zeit. Entsprechend der gegenwärtigen Vielgestaltigkeit des künstlerischen Zugriffes werden die Möglichkeiten des Mediums ausgereizt. Fotografie ist zunächst ein technischer Prozess, eine synthetische Bildproduktion, entstanden aus Chemie, Optik, Mechanik in Verbindung mit der industriellen Revolution. Das Bildermachen ist nicht mehr nur, wie für den klassischen Künstler (Maler, Bildhauer etc.), an Körper und Hand des Künstlers angekoppelt. Der Produktionsprozess bei der Fotografie verläuft indirekt, vermittelt durch einen Apparat, vermittelt durch optisch-chemische, und zuletzt elektronische Prozesse. Anders als der Malerpinsel, der eine Verlängerung der Hand ist, stellt sich der Apparat zwischen den Künstler und sein Bild. Er, der Apparat, produziert nach seinen technischen Regeln unter Anleitung des Künstlers. Daher werden die technischen Vorgänge selbst wesentlich. Sie sind nicht nur Mittel der Realisation. Die Technik selbst wird in der Fotografie zum Bedeutungsträger. Diese Tatsache hat den Medientheoretiker Marshall Mc Luhan zu dem berühmt gewordenen Satz verleitet "The medium is the message" (das Medium selbst ist die Botschaft!). Fotokunst, Kunst als Fotografie ist nicht angemessen zu begreifen, wenn man nicht den technischen Aspekt in die Anschauung mit einbezieht. Auch das ist inzwischen, auch unter dem Eindruck der technischen Bilder in den klassischen Künsten ein neuer Aspekt: Das Begreifen des technischen Prozesses als künstlerischer, konstituierender Bestandteil des Werkes, das Herausstellen der Tatsache, dass das Werk, das Bild an der Wand in diesem Falle, nur ein Teil, sicher ein wichtiger, die Endstufe eines umfassenderen Gestaltungsvorganges ist. Begriffe wie: entwickeln, fixieren, belichten, wie Ausschnitt, Transparenz, Montage, Positiv-Negativ etc. bezeichnen fotografische Gestaltungsprozesse, die vom technischen Ursprung des puren Machens fast stufenlos übergehen zu konzeptioneller, künstlerischer Substanz des Bildes selbst. Der Technik in der Fotografie kommt in weit höherem Maße gestaltgebende, also künstlerische Bedeutung zu, als die auch sehr wichtigen Bewegungen des Affenhaares oder der Schweinsborste am Pinselstiel eines Malers, eben weil dieser fotografische Prozess abgekoppelt ist vom Körper, einen zwar steuerbaren, aber nur nach seinen eigenen Regeln steuerbaren, technisch autonomen Prozess darstellt. Dies gibt wiederum dem Konzept die überragende Bedeutung.

Das Foto als dünne Fläche ist fast körperlos. Selbst eine Bleistiftzeichnung, eine Radierung hat mehr Materialität, mehr Relief. Das Foto ist pure Erscheinung. Diese glatte dünne Fläche ist Zwischenresultat auf dem Weg vom Kopf des Künstlers über den Herstellungsprozess bis zum Auge und Kopf des Betrachters. Der "Apparat" selbst wird zur Metapher für unsere inzwischen überwiegend technisch erzeugte Welt, die zweite Welt der Technik und die dritte Welt der Medienbilder. Der apparatfreie direkte Zugriff auf Wirklichkeit, die selbst apparatfrei nicht mehr sein kann, ist zum Aussteigertraum degeneriert. Unsere zweite, technische Natur, ist zur ersten geworden. Darüber hinaus bietet das Kameraauge auch in seiner äußeren physischen Ausprägung eine Art Simulation des Sehvorganges selbst: Linse, Blende, Netzhaut, Film. Auge und Apparat zeigen analoge Strukturen. Verwandelt der Fotoapparat die Welt in ein Medienschauspiel, das sich vor die unmittelbare Wahrnehmung schiebt, so macht die Fotokunst diese Medienwahrnehmung selbst zum Thema, zum Reflexionsgegenstand.

Auf die Fragwürdigkeit der Medienwelt antworten die Künstler mit Bilder-Fragen. Solche Fotobilder sind vermittelt und indirekt wie ihr Medium. Sie brechen mit der Naivität eines frommen Realitätsglaubens. Die fotografischen Bilder bestehen auf ihrer zweifelhaften Existenz als Zwitter, darauf beruht ihre Wirkung. Sie spielen die Rolle von Doppelagenten zwischen den Gegenwelten eines naiven Realitätswahns und einer schizoiden Flucht in eine autonome Kunst. Insofern hat das Medium aus seiner illegitimen Herkunft die Konsequenz gezogen und verweigert nun weiterhin die Einordnung.

 

Auf den Bildern von Karl-Martin Holzhäuser wird durch fast nichts an die Erscheinungsform erinnert, die gemeinhin mit dem Begriff Fotografie verbunden ist. Es sind keine Abbildungen oder Interpretationen einer sichtbaren Außenwelt durch den Fotoapparat, sondern es sind reine Bewegungen farbigen Lichts. Und doch sind diese Arbeiten in einem ganz elementaren Sinne Foto-Grafien, vom griechischen Wort photo graphein abgeleitet, also vom Licht, mit Licht gezeichnete Bilder auf fotografischem Material, "Lichtmalereien".

Holzhäuser arbeitet nicht mit der Kamera, sondern mit verschiedenen für seine Zwecke geformten Lampen, Lichtgriffeln, Lichtpinseln. Anders als der Fotograf mit der Kamera, der Licht auf seine Objekte wirft, Licht der Sonne oder das künstliche des Studios, der also im Licht arbeitet, finden Holzhäusers Gestaltungsprozesse im Dunklen statt. Er selbst, seine Hand, die Bewegung des Arms, des Zirkels, des ganzen Körpers werfen das künstliche Licht direkt auf das fotografische Papier. So entstehen Formen, welche nur der chemische Prozess der Farbfotografie sichtbar machen kann. Damit entzieht sich seine Arbeit selbst der Einordnung, die ich gerade durch die Betonung des Apparats versucht habe. Holzhäusers Bilder sind wieder im ursprünglichen Sinne Handarbeit.

Diese an, Vorhänge, Fahnen, Bänder, Wellen erinnernden Strukturen sind nicht die Gegenstände, als welche sie erscheinen, sie sind ausschließlich Ergebnisse eines fotografischen und manuellen Prozesses, sie wären ohne den Künstler nicht existent. Sie stellen nichts weiter dar, als sich selbst. Hier spielen Elemente des Action Painting ebenso hinein wie die serielle Kunst und die strukturbildenden Prozesse der generativen, das heißt, ihre Bildwelten erst erzeugenden Fotografie.

Bei aller vitalen Ausstrahlung haben diese Bilder immer ein durchgreifendes rationales Konzept. Sie unterliegen einem vorab entwickelten Kalkül. Bevor sie sich aus dem Fotopapier herausentwickeln lassen, haben sie ihre erste Existenz, gewissermaßen ihr Negativ, im Kopf des Künstlers.

Die Arbeiten zeigen ein weiteres Kontrastprogramm, indem der strengen, kalkulierten Gesetzmäßigkeit der seriellen Bildproduktion ein kalkulierter Zufall in die Parade fährt und mit den rationalen Programmen ein neues, sinnliches Spiel treibt. So ist ein Kreis zwar sauber gezirkelt, aber seine Ränder brechen auf, so ist eine Wellenbewegung zwar geplant, aber die pulsierenden Nerven und der Takt des Pulses der bewegenden Hand schaffen organische Irritationen, die apparative Bilderzeugung wird ergänzt und immer stärker verdrängt durch die körperhafte Gestaltung, durch die Handschrift im Wortsinne, durch die Bewegungsspur. Blitzartige Bewegungen einer neuen, willkürlichen Lust bringen im technischen Medium Organisches ins Spiel und einen Schuss Improvisation, vergleichbar der Kadenz in der klassischen Musik.

Karl Martin Holzhäuser, der selbst leidenschaftlich Trompete spielt, klassischen Jazz im New Orleans Stil, gerät in Bildern und Tönen immer mehr in die freie musikalische Bewegung des Free Jazz. Zwischen Rationalität, Konzept, Programm, zwischen Technik und Improvisation sind seine Bilder ein sinnlich anschaubares Gleichnis für die Behauptung und Entwicklung den Befreiungsbewegungen in den Zwängen, die uns umstellen.

 

Die Arbeiten von Gottfried Jäger folgen erdachten, rationalen Programmen.

Die Kunst unterwirft sich hier der Programmierbarkeit. Ohne sich in den meisten Fällen direkt der Computertechnik zu bedienen, arbeitet sie gedanklichen Umfeld der Programme, welche die erwartete Kunst aus der Maschine möglich machen.

Schönheit im Sinne einer geschmackvollen, ansprechenden Farbigkeit ist nicht ihr Ziel. Die offensichtlichen ästhetischen Reize der Bilder ergeben sich aus dem technischen Prozess. Wenn hier der Begriff Schönheit noch verwendet werden kann, dann eher im Sinne der Schönheit einer mathematischen Formel oder auch einer technischen Perfektion. Sie ist Resultat der gedanklichen Konzeption mehr als des individuellen Ausdrucksverlangens des Künstlers. Gottfried Jäger ist ein Analytiker und Konstruktivist in dem Sinne, dass er die Möglichkeiten des fotografischen Prozesses in seine Bestandteile zerlegt und mit diesen Elementen komponiert. Näher als an der anteilnehmenden Abbildung oder der Darstellung von Gefühlen ist seine Kunst der konstruierenden, Klangfiguren fortentwickelnden seriellen Musik.

 

Dass Sehen nichts ist, das sich von selbst versteht, wird erst bewusst, wenn sichtbar bar die Grenzen des Sichtbaren ertastet werden. Nur eine begrenzte Palette von Wellenlängen aktiviert unsere Sehzellen. Was diese und wie sie es aus der physischen Welt aussortieren, erscheint uns als Realität. Das Sichtbare um das Unsichtbare zu erweitern, war vielfach der bestimmende Impuls für die Kunst. Zu den unsichtbaren Strahlen und Wellen, die wir vorfinden und denen wir ausgesetzt sind, kommt die Palette der künstlichen, von menschlicher Technik geschaffenen sichtbaren und unsichtbaren Lichter.

Paul Virilio bemerkt: "Der Mensch ist fähig, wahres falsches Tageslicht zu produzieren, in dem Moment, in dem das Licht der Geschwindigkeit identisch wird mit der Geschwindigkeit des Lichts. Er kann Realität schaffen, genauso wie die Sonne, die Photonen, das Licht. Letzten Endes existiert die Realität nur als Lichtprojektion. Wir sind Wegstrecken des Lichts. Die gesamte Technik ist ein später Sonnenkult." (Kunstforum Bd. 108, Juni/Juli 1990, S. 93).

Ulrich Mertens zeigt in seinen Strahlenbildern Nichtsichtbares, Gefährliches, Lebensbedrohendes. Die Einwirkung von Uranstrahlen auf das fotografische Papier. Der Tod tritt uns hier mit einnehmendem grafischen Charme entgegen. Man beobachtet die Strahlenwirkungen, die sonst unsichtbar Knochen und Fleisch zerstören, mit diesem neuen, wie Vilém Flusser es genannt hat, "höllischen Blick". Nur der Teufel, wie man vermuten kann, genießt das Böse. Ulrich Mertens Arbeit zwingt uns diesen Genuss auf.

Zerfall, Zerlegung, Regeneration, Generation.

 

Norbert Meiers kristallisierte Panoramen stellen sichtbare Welt dar, wie sie dem mechanischen Auge seiner dynamischen Kamera erscheint. So mag das Facettenauge eines konstruierten Insekts Raumverhältnisse aufnehmen. Sie stellen mit ihrer neuen Freiheit des Sehens diese zugleich in Frage. Die sichtbare Welt erscheint hier zuletzt als Gitterwerk. Eingesperrt sind die Augenwesen in einen visuellen Kokon, der sich aufblättern lässt auf einer undurchdringlichen, kristallinen Wand, zusammenrollen lässt auf die Oberfläche einer Kugel oder auf ihrer Innenhaut, hoch- und querziehen gezogen wird wie ein Kreuz, auf das wir genagelt bleiben. Der technoide Blick des ausgeklügelten Kamerasystems verwandelt den Raum in eine analysierbares Gittersystem, eine Konstruktion aus präzise geschnittenen, visuellen Daten.

 

Je weiter die digitale Bildtechnik sich vom unmittelbaren Erfahrungsbereich des Sinnlichen entfernt, desto stärker kann der Impuls wachsen, die Welt des Körperlichen zurückzugewinnen. So ertastet der Scanner in den Bildern von Diether Münzberg die eigene Haut. Näher an das physische Selbst als selbst die Hand kann ein Apparat, der Poren, Haare, Falten zu Hautlandschaften gestaltet, auf welchen das Auge wandern kann wie eine Laus. Dass die Fotografie "nur" die Oberfläche der Dinge zeige, nicht ihr Wesen, ist ein Gemeinplatz so alt wie das Medium selbst. Münzbergs Arbeit spielt mit diesem Verdikt und zeigt die Fremdheit dessen, was uns angeblich näher ist als alles Übrige, die eigene Haut. Zugleich gewinnt er neue Flächen in grafischer, überraschender Schönheit. Die Selbstbespiegelung des Künstlers, auch ein geläufiger Gemeinplatz, gewinnt hier eine ironische Variante. Diether Münzberg trägt die eigene Haut, wenn nicht zum Markt, wie er sich vielleicht auch wünscht, so doch in die Medienkunst.

 

Die Haftung zum gesellschaftlichen Prozess muss die sich selbst zum Problem entwickelnde Medienkunst dennoch nicht verlieren. Als Teil des sozialen und industriellen Prozesses bleibt sie ihm verhaftet, gelegentlich machen sie diesen selbst zum Thema.

Die Bilder zum "Hochofen 3" von Jörg Boström fassen das Vergehen und Widerstehen der Industriereste als Spuren von Menschen in Bilder, als seien dies archäologische Funde aus einer längst vergangenen Epoche einer uns nun fremd gewordenen industriellen Kultur. Die Blätter selbst geben nicht nur diese Fundstücke wieder sondern erweisen sich selbst als solche. Ein fotografischer Nekrolog eines "Stahlstandortes". Dabei werden technische Mittel aus der Frühzeit der Fotografie wie die Clichées verres, die gemalten Glasnegative, welche in diesem Falle aus Kunststoffplatten bestehen, mit aktuellen Verfremdungstechniken und grafischen Mitteln verbunden, welche einen Begriff von Geschichtlichkeit in visuelle Sprache übersetzen.

Auf anderen Serien suggerieren amorphe Figurationen Köpfe wie Unternehmerporträts wie in einem Firmenprospekt oder Röntgenformationen aus der Hexenküche eines Internisten. Mit dem Zusammenprall zweier chemischer Substanzen werden Bewegungen des Wassers im Zeitfluss und im Kampf mit der Trockenheit nachgestellt. Der Betrachter bleibt gefordert, auf solche Netzhautreizungen mit Halluzinationen seiner eigenen Bilderwelt zu antworten.





Was das Auge vermittelt, was der Apparat hervorbringt, ist Repertoire. So können wir Bildzeichen erzeugen, umsetzen, auflösen, dem Fließenden verbunden oder der Konstruktion. Auch im freigesetzten technischen Prozeß bleibt die Fotografie eine mimetische Kunst. Sie widerspiegelt Objekte, Materialien, Prozesse. Sie demonstriert in ihren Werken ihre Abhängigkeit vom materiellen Ursprung, Geist am Bande von Technik und Wissenschaft. Sie lernt und entwickelt sich unermüdlich. Ein permanenter Befreiungskampf von der Zumutung der Existenzform einer nützlichen Sklavin.

Wie der Affe bei Franz Kafka in seinem Bericht für die Akademie ist sie in unermüdlich in Verwandlungsprozesse verstrickt:

"Als ich in Hamburg meinem ersten Dresseur übergeben wurde, erkannte ich bald die zwei Möglichkeiten, die mir offenstanden: Zoologischer Garten oder Varieté ? Ich zögerte nicht. Ich sagte mir: Setze alle Kraft an, um ins Varieté zu kommen; das ist der Ausweg; Zoologischer Garten ist nur ein neuer Gitterkäfig, kommst du in ihn, bist du verloren. Und ich lernte, meine Herren. Ach, man lernt, wenn man muß; man lernt, wenn man einen Ausweg will; man lernt rücksichtslos. Aber ich verbrauchte viele Lehrer, ja sogar einige Lehrer gleichzeitig... Überblicke ich meine Entwicklung und ihr bisheriges Ziel, so klage ich weder, noch bin ich zufrieden. Die Hände in den Hosentaschen, die Weinflasche auf dem Tisch, liege ich halb, halb sitze ich im Schaukelstuhl und schaue aus dem Fenster... Im übrigen will ich keines Menschen Urteil, ich will nur Kenntnisse verbreiten."

Herford, 20.2.1995